Protocol of the Session on May 23, 2019

(Beifall bei der SPD, bei der LINKEN und bei den GRÜNEN - Zustimmung von Mar- cus Kurze, CDU)

Vielen Dank, Herr Abg. Hövelmann. - Wir kommen zum nächsten Debattenredner. Für die Frak

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht der Abg. Herr Striegel. Sie haben das Wort, bitte.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Im Titel der heutigen Debatte zeichnen sich die historischen Linien der neueren bundesdeutschen Verfassungsgeschichte ab: die Verfassung von Anhalt - Kollege Hövelmann hat sie intensiv gewürdigt - und die Weimarer Reichsverfassung als Marksteine des deutschen Parlamentarismus, vor 100 Jahren ins Leben gerufen, in den stürmischen Jahren 1918 und 1919 beschlossen, im Nachgang einer umfassenden militärischen Niederlage gescheitert in den Jahren darauf, und 1949 schließlich das Grundgesetz, das rechtliche Fundament unserer Republik, der heutigen Demokratie in Deutschland, ein Grundgesetz, entstanden nach einer vollständigen, nicht nur militärischen, sondern allumfassenden Kapitulation, im Bewusstsein der Shoa und damit der Verbrechen, die durch Deutsche und im deutschen Namen Millionen Menschen angetan wurden, ein Grundgesetz, das nur möglich wurde, weil die Alliierten uns Deutsche vier Jahre zuvor befreiten und weil die Männer - Frau Präsidentin hat es gesagt - und nur vier Frauen des Parlamentarischen Rates den Raum für einen demokratischen Neuanfang nutzten, ein Grundgesetz, eine Verfassung also, deren 70. Jahrestag wir heute feierlich begehen.

Und doch muss einen beim Blick auf die beschriebene Trias von Verfassungsgeschichte jedenfalls in Sachsen-Anhalt das Gefühl beschleichen, dass unsere Debatte zu unseren unterschiedlichen Verfassungen einen blinden Fleck hat. Denn 70 Jahre Grundgesetz in Sachsen-Anhalt - einige der Redner haben darauf verwiesen - stimmt eigentlich nicht; denn im Jahr 1949 trat in Deutschland noch eine zweite Verfassung in Kraft, nämlich die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Natürlich reiht sich diese nicht bruchlos, wie ihre Nachfolger aus den Jahren 1968 und 1974, in die Geschichte der Demokratie und des Parlamentarismus ein, wie wir sie heute verstehen.

Die Verfassungen der DDR sind nicht zu denken ohne den Unrechtsstaat, den sie rechtlich fundierten, wenngleich sie Freiheiten bestimmten, deren Garantie im Jahr 1989 von mutigen Bürgerinnen und Bürgern auch tatsächlich eingefordert wurden. Das ist im Übrigen ein Hinweis, dass Verfassungen nicht einfach sind, sondern von Bürgerinnen und Bürgern auch gelebt und genutzt werden müssen.

Die drei Verfassungen galten hier in SachsenAnhalt bis 1990. Es gehört also zu den deutsch-deutschen Besonderheiten, dass heute

der 70. Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes ist, dass wir uns aber in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt und in Thüringen erst einmal dem 30. Jahrestag der Geltung des Grundgesetzes nähern, seit die deutsche Einheit vollzogen wurde.

Schon der Titel unserer Debatte ist Zeichen dafür, dass es in Teilen auch eine importierte Tradition ist, in die wir uns heute stellen. Das ist ein Hinweis darauf, dass unsere Verfassungsgeschichte nicht ohne schmerzhafte Brüche abgelaufen ist.

Vergessen wir heute, am 23. Mai 2019, dem Tag des Grundgesetzes, also nicht, dass auch die zweite Verfassung auf deutschem Boden im Jahr 1949 in Kraft trat. Dies zu ignorieren hieße, einen wichtigen Teil der deutschen Geschichte und der Biografien vieler Menschen in unserem Bundesland zu ignorieren.

Feiern wir aber dennoch im Herbst dieses Jahres die friedliche Revolution, die Selbstermächtigung von Menschen in der DDR, die Demokratisierung und letztlich die Grenzöffnung und Wiedervereinigung als Glücksfall der deutschen Geschichte und begehen wir dieses Jubiläum im Bewusstsein, dass nie wieder eine Grenze Menschen gewaltsam voneinander trennen soll, nicht hier und nicht an anderen Stellen auf dieser Welt.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

Diese 30 Jahre friedliche Revolution, Grenzöffnung und Überwindung der deutsch-deutschen Teilung müssen uns auch im Landtag von Sachsen-Anhalt Anlass sein, dass Grüne Band endlich zum nationalen Naturmonument zu erklären und damit Teilung zu überwinden und Natur zu schützen. Wir werden das im Juni gemeinsam auf den Weg bringen.

Die Verfassungen, deren Jubiläen wir heute begehen, zeigen exemplarisch die Brüche und Kontinuitäten der deutschen Verfassungsgeschichte auf. Das parlamentarische Regierungssystem ist in Deutschland ein Kind der Revolution. Der Aufstand der Kieler Matrosen stellte den Anfang einer revolutionären Bewegung dar, die Kaiser Wilhelm II. zum Abdanken zwang. Am 9. November 1919 rief schließlich Philipp Scheidemann die Parlamentarische Republik aus. Nur Stunden später proklamierte Karl Liebknecht - allerdings erfolglos - die Räterepublik.

Auch im Herzogtum Anhalt endete nur drei Tage später die Adelsherrschaft infolge revolutionärer Proteste. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit obsiegten jedoch nur für kurze Zeit und auch das Wahlrecht der Frauen ging mit dem allgemeinen Wahlrecht, mit der Abschaffung der Demokratie wenige Jahre später zunächst wieder dahin.

Wir alle wissen, wie das Intermezzo des deutschen Parlamentarismus endete, nämlich mit dem tiefen Fall in die Barbarei des Nationalsozialismus.

Meine Herren und meine Dame von der AfD, die Ausführungen Ihres Fraktionsvorsitzenden nötigen mich dann doch, noch ein paar Sätze zum Thema Wahlrecht zu sagen.

(Oliver Kirchner, AfD, hält ein Dokument hoch)

- Ich kenne das Dokument; ich habe es mitgeschrieben. - Der Ausschluss vom Wahlrecht ist in der Demokratie begründungsbedürftig; grundsätzlich steht das Wahlrecht jedem zu. Der Ausschluss ist begründungsbedürftig und das haben Sie nicht verstanden. Deshalb kämpfen wir GRÜNE für ein Wahlrecht für Menschen ab 14 Jahren und für ein Wahlrecht für alle Menschen in diesem Land, die von Herrschaft betroffen sind.

(Unruhe bei der AfD und bei der CDU)

Das ist Demokratie. Wir freuen uns, dass Sie in unseren Dokumenten lesen, aber Sie müssen diese auch verstehen.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung von Ministerin Prof. Dr. Claudia Dalbert - Zurufe von der AfD)

Herr Kollege Hövelmann hat sich mit Blick auf das Land Anhalt auch schon darüber ausgelassen. Wir können uns häufig, zum Beispiel beim Frauenwahlrecht, positiv auf das Land Anhalt beziehen. Das ist aber nicht zu denken ohne den Verweis darauf, dass in Anhalt die Demokratie mit der Mehrheit der Menschen wieder abgeschafft wurde, dass dort ein nationalsozialistischer Ministerpräsident als erster in Deutschland gewählt wurde, nämlich Alfred Freyberg, und dass hier der Angriff der Nationalsozialisten aus den demokratischen Institutionen heraus auf die demokratischen Institutionen einen seiner Ausgangspunkte hatte. Mit Mehrheit wurde hier die Abschaffung der Demokratie vorbereitet und in Angriff genommen.

Ist in aktuellen politischen Debatten von der Weimarer Republik und ihrer Verfassung die Rede, dann fallen in der Regel schnell zwei Stichworte. Zum einen sind es die viel beschworenen Lehren von Weimar - wir haben heute schon davon gehört -, die sich bei der Ausgestaltung des Grundgesetzes niedergeschlagen haben. Von besonders großer Bedeutung ist zunächst die Neukonzeption der Grundrechte.

Die zentrale Bedeutung, die den Grundrechten für die Verfassungsordnung der Bundesrepublik zukommt und ihnen auch vom parlamentarischen Rat zugedacht war, findet bereits in ihrer Stellung

an der Spitze der Verfassung Ausdruck, vornweg das Postulat der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Ich bin der Abg. Eva von Angern ausdrücklich dankbar dafür, dass sie dazu am Schluss ihrer Rede ein paar deutliche Worte gefunden hat.

Zudem sind die Grundrechte durch Artikel 1 Abs. 3 des Grundgesetzes als alle Staatsgewalt unmittelbar bindendes Recht ausgestaltet. Sie können daher anders als in der Weimarer Republik nicht mehr als unverbindliche Programmsätze nach Belieben der Staatsorgane und Verfassungsinterpreten angewendet oder beiseite geschoben werden.

Entscheidend ist aber die gerichtliche Durchsetzbarkeit der Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Dazu wurde 1952 das Instrument der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht geschaffen. Das Bundesverfassungsgericht erarbeitete sich in der Folge eine herausragende Rolle als Hüterin der Verfassung.

Die Richterinnen und Richter wirken zudem als modernisierendes Korrektiv im Verfassungsrecht, wo sie die Verfassung eben auch im Licht gesellschaftlicher Veränderung neu interpretierten. So wäre die im Grundgesetz nicht offensichtlich angelegte Öffnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare ohne das Verfassungsgericht wohl nicht denkbar gewesen.

Neben den Grundrechten enthält das Grundgesetz in Abkehr von den Mängeln der Weimarer Verfassung aber auch für das politische Leben der Bundesrepublik eine mindestens ebenso wichtige Grundentscheidung im Hinblick auf den Staatsaufbau. Ziel war es dabei, die Stabilität des politischen Systems zu sichern. Die Stichworte sind allgemein bekannt: mittelbare bzw. repräsentative Demokratie statt unmittelbar direkt demokratische Elemente, Stärkung der Kanzlerin gegenüber dem Präsidenten, das Prinzip des konstruktiven Misstrauensvotums, Schutz der wichtigsten Verfassungsprinzipien durch die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Artikel 79 Abs. 3 und das Konzept der wehrhaften Demokratie, die sich selbst gegen ihre Feinde zu verteidigen in der Lage zu sein soll.

Alle diese Elemente haben dazu beigetragen, dass sich das Grundgesetz als eine erfolgreiche Verfassung bewährt hat. Wir müssen sie aber auch heute nutzen, um Demokratie und Republik mit der Verfassung gegen ihre Feinde zu verteidigen.

Das zweite, gerade in den letzten Jahren oft gehörte Stichwort sind die sogenannten Weimarer Verhältnisse. Gestellt wird die Frage, ob die heute von vielen empfundene Krise des Parlamentarismus bereits Züge der damaligen Verhältnisse in

sich trägt. Anders gesagt: Es ist die Frage nach dem Zustand des Verfassungslebens in der Bundesrepublik.

Ich denke, es ist klar festzustellen, dass der Ton in den politischen Debatten in den letzten Jahren rauer, ja aggressiver geworden ist. Wir merken das auch in diesem Haus.

(Ulrich Thomas, CDU: An wem das wohl liegt! - Uwe Harms, CDU: Gut, dass Sie es ansprechen, Herr Striegel!)

Teile des politischen Spektrums innerhalb und außerhalb der Parlamente scheinen Politik ganz im Sinne Carl Schmitts nur noch entlang der Unterscheidung von Freund und Feind machen zu können und zu wollen. An dieser Stelle stellt sich also die schwere Frage, mit welchem Leben wir den Verfassungsrahmen des Grundgesetzes ausfüllen.

Meine Damen und Herren! Ich glaube nicht, dass wir heute bereits Weimarer Verhältnisse haben. Wir stehen nicht vor einem revolutionären Umsturz von rechts oder vor einer Machtergreifung, wie sie hier manche herbeideuten wollen. Die Republik und die sie tragenden Strukturen sind trotzdem in Gefahr.

Es gibt heute, anders als in der Zeit vor 1933, so etwas wie eine gewachsene demokratische Substanz in Deutschland. Die Weimarer Republik ist auch deshalb so sang- und klanglos untergegangen, weil weite Teile der Bevölkerung und des Staatsapparates dem Parlamentarismus und der Republik ablehnend gegenüberstanden. Weimar war eben in weiten Teilen eine Demokratie ohne Demokraten.

Meine Sorge ist heute, dass es zu einer Erosion der demokratischen Substanz kommt. Demokratien sind von äußeren Voraussetzungen und Bedingungen abhängig. Legitimität und Stabilität kann die freiheitlich-demokratische Grundordnung auf Dauer nur durch innere Anerkennung der Bürgerinnen und Bürger gewinnen. Es muss ein Grundkonsens herrschen, dass die bestehende Ordnung und ihr Wertefundament bei aller gerechtfertigten Kritik im Großen und Ganzen zu befürworten ist.

Diesen Zustand kann der Staat aber nicht verordnen oder gar durchsetzen mit den bekannten Worten des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde - ich zitiere -:

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Ohne eine demokratisch denkende und handelnde Bevölkerung kann auch die organisationsrechtliche Stabilität den Fortbestand der Republik nicht

sicherstellen. Der Rahmen, den das Grundgesetz steckt, ist weit und lässt verschiedenste Ausgestaltungen des politischen und gesellschaftlichen Lebens zu.

Ich erinnere nur daran, dass die CDU im Ahlener Programm in den frühen Jahren der Bundesrepublik die Sozialisierung weiter Teile der Wirtschaft forderte. Vergleicht man die Adenauer-Ära mit der heutigen Zeit, dann hat offensichtlich eine enorme gesellschaftliche Öffnung stattgefunden. Man könnte es auch eine innere Demokratisierung nennen. Das Grundgesetz bestand damals in seinen wesentlichen Strukturen bereits wie heute. Aber das Verfassungsleben war ein anderes.

Noch Mitte der 50er-Jahre bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit von § 175 des Strafgesetzbuches, der den einvernehmlichen Geschlechtsverkehr von Männern unter Strafe stellte, mit dem Grundgesetz. Es berief sich dabei auch auf - ich zitiere - „die sittlichen Anschauungen des Volkes als zu schützendes Rechtsgut“. Eine solche Entscheidung wäre heute Gott sei Dank undenkbar.

Dieses Beispiel - man könnte viele mehr nennen - zeigt, dass Verfassungsrecht politisches Recht ist. Verfassungsgerichte legen Verfassungsrecht nie einfach nur aus, wie es ist. Das heißt aber auch, dass die geschehene Entwicklung nicht unumkehrbar ist.

Leider muss man mit Blick auf Deutschland und die Welt feststellen, dass autoritäre Versuchungen eine zunehmend große Wirkung haben. Das Lagerfeuer einer als Totalität in Reinheit imaginierten Volksgemeinschaft strahlt für zu viele Menschen heller und wärmer als das nüchterne und aufklärerische Projekt des Verfassungspatriotismus und sein Wertefundament.

Die Entwicklung, die drohen kann, sehen wir in Ungarn mit seiner illiberalen Demokratie. Dort gilt das Mehrheitsprinzip, Minderheitenschutz dagegen steht unter Druck. Minderheitenrechte werden von Parteien wie der AfD und anderen Radikalen auch in der Bundesrepublik infrage gestellt und angegriffen. Hier müssen wir widerstehen.

Die Institutionen des demokratischen Staates bestehen weiter, aber der materielle Kern von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist, wie die Beispiele aus Polen und Ungarn zeigen, dahin. Es lohnt deshalb, auch unsere Verfassung auf ihre Abwehrbereitschaft gegen autoritäre Tendenzen hin zu prüfen.

Sollte vor dem Hintergrund der Erfahrungen und der Entwicklungen wie in Ungarn oder Polen zum Beispiel unser Verfassungsgericht nicht institutionell stärker vor einem Zugriff zerstörerischer Mehrheiten geschützt werden, indem wir Beset

zung und Entscheidungsgrundlagen nicht nur in einem einfachen Gesetz, sondern auch in der Verfassung regeln und damit einer einfachen Mehrheit die Verfügung für ein solches sensibles Feld entziehen?