Protocol of the Session on December 19, 2018

Ich sage ganz klar, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn es uns nicht gelingt, die EU als sozialen Schutzraum für die Menschen, die in ihr leben, zu konstruieren und zu verändern, wird die Europäische Union keine Perspektive haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Und was ist mit dieser sozialen Säule der Europäischen Union passiert? - Im Grunde genommen: Alle interessierte es; na ja, schöne Idee. Wenn es aber um die Frage der Umsetzung geht, wenn es um die Frage geht, was wir denn wirklich verbindlich an sozialen Zielen innerhalb der Europäischen Union festschreiben wollen, dann sagen sofort alle - und da ist die Bundesrepublik Deutschland ganz vorn mit dabei -: Damit hat die Europäische Union nichts zu tun; sie soll gefälligst die Marktfreiheit organisieren, alles andere ist nationale Souveränität.

Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, genau das ist die Situation, die dazu führt, dass es einen Dumpingwettbewerb um Unternehmen und Kapital zwischen den Ländern der Europäischen Union gibt, eine Reduzierung von Arbeitnehmerrechten und eine Reduzierung von Steuern bei Konzernen.

Wollen wir eine Europäische Union, die zusammenhält, müssen wir den Dumpingwettbewerb zulasten der Menschen und übrigens auch zulasten ökologischer Standards endgültig beseitigen. Dafür brauchen wir die soziale Säule der Europäischen Union. Sie muss genauso verbindlich wer

den wie die vier Grundfreiheiten, über die wir geredet haben. Das ist die Perspektive.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der AfD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt haben wir das nächste Problem. Wie verhalten sich vor diesem Hintergrund eigentlich die Bundesländer dazu? - Wir haben einen Beschluss des Bundesrates vom Juli des letzten Jahres, der genau dasselbe aufmacht. Die Bundesländer finden es toll, dass es eine Debatte über eine soziale Säule gibt. Sie finden es auch ganz toll, dass man eine soziale Ausrichtung der Europäischen Union haben soll. - Das sind die ersten acht Punkte.

In den nächsten zwölf Punkten geht es darum, was die Europäische Union gefälligst nicht zu machen hat.

Am Ende steht: Die Europäische Union soll Geld für den ESF geben, aber sie soll nirgendwo Kontrollrechte haben, sie soll nirgendwo darauf achten können, dass zum Beispiel Arbeitnehmerrechte wirklich grenzübergreifend garantiert werden. Dort fängt der Bundesrat sofort an, kleingeistig und provinziell jede Idee der sozialen Säule der Europäischen Union zu diskreditieren.

Das können wir uns nicht mehr leisten. Wir werden auch in Sachsen-Anhalt in der Perspektive nur dann eine Entwicklung haben, wenn wir verbindliche Standards für soziale Garantien haben und wenn wir verbindliche Standards für Arbeitnehmerrechte in allen europäischen Ländern haben. Dann nützt uns keine Subsidiaritätsdebatte mehr etwas. Wir brauchen einen radikalen Wechsel bei der Europäischen Union, ansonsten wird es sie bald nicht mehr geben. - Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Gallert, es gibt eine Nachfrage. Herr Hövelmann hat sich zu Wort gemeldet.

Herr Philipp auch noch. - Herr Hövelmann, Sie haben das Wort.

Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident. - Herr Gallert, ich habe eine Frage. Frau Wagenknecht hat die von Ihnen zum Gegenstand Ihrer Rede gemachten Gelbwestenproteste in Frankreich als Vorbild für Deutschland bezeichnet. Gibt es dazu eine Positionierung der Fraktion DIE LINKE im Landtag von Sachsen-Anhalt?

Herr Gallert, Sie haben das Wort.

Es gibt keine Positionierung, keinen Beschluss zur Äußerung der Fraktionsvorsitzenden - um das ganz klar zu sagen, Herr Hövelmann. Das kenne ich auch nicht.

Ich sage eines noch einmal ganz klar: Sie werden bei den Gelbwesten in Frankreich alles finden. Sie werden für alles ein Beispiel haben. Es gibt erste demoskopische und soziologische Untersuchungen über die Gelbwesten. Natürlich gibt es dort auch eine kleine Gruppe, die sozusagen Gewalt für ein legitimes Instrument der politischen Auseinandersetzung hält. Das war übrigens in Frankreich immer schon sehr viel stärker verbreitet als in Deutschland. - Ganz klar: Nein, der Zweck heiligt nicht die Mittel. Nein, davon distanzieren wir uns ganz klar.

Aber einen klaren politischen Blick aus Deutschland auf diese Situation zu haben bedeutet, die Frage zu stellen: Woraus ist diese Bewegung entstanden? - Das ist eben nicht eine irgendwie politisch extremistische Bewegung, die sozusagen gezielt versucht, den Staat zu unterminieren, sondern das ist eine Basisprotestbewegung von Leuten, die sich zu einem großen Teil - das ist übrigens die Masse - nie für Politik interessiert haben, die noch nie an irgendeiner politischen Aktion teilgenommen haben, die nicht auf die Idee gekommen wären, in irgendeiner Partei zu sein.

Diese haben sich zu Zehntausenden, zu Hunderttausenden auf die Straße begeben, und zwar als deutlich wurde: Er senkt die Steuern für die Reichen, er senkt die Steuern für die Kapitalanleger, er senkt die Steuern für die Konzerne - und als Nächstes erhöht er die Benzinsteuer. Das war für viele ausreichend. Da sage ich ganz klar: Du musst nicht besonders politisch interessiert sein, um dieses Programm zu verstehen.

Deswegen ist es so wichtig, diesen Protest zu akzeptieren und zu verstehen. Das bedeutet überhaupt nicht, dass man sich mit den gewalttätigen Auswüchsen und mit den zum Teil fremdenfeindlichen Positionen in diesem Kontext nicht auseinandersetzen darf. Das bedeutet allerdings auch, eine Meinung dazu zu haben, wie wir es denn bewerten, wenn 700 Schülerinnen und Schüler in schlimmster Guantanamo-Manier von französischen Polizisten dazu gezwungen werden, stundenlang zu knien und die Hände hinter dem Kopf zusammenzuhalten.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch dazu hätte ich gern mal eine Position. - Danke.

Herr Philipp, Sie haben das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Gallert, im Ansatz finde ich Ihre Argumentation schon recht populistisch, weil Sie die Komplexität der Europäischen Union und des ökonomischen Zusammenhangs der Europäischen Union nutzen, um hanebüchene Argumente heranzuziehen. Sie sagen, den bösen Kapitalisten geht es nur darum, das Geld zu verdienen, die machen das alles auf den Schultern der armen kleinen Leute. Das ist die zentrale Aussage.

Eines habe jetzt noch nicht so richtig verstanden, deswegen frage ich noch einmal nach. Ich würde gern Ihre Sicht auf die soziale Säule der Europäischen Union verstehen. Ist das aus Ihrer Sicht wieder nur eine Umverteilung, also dass man sagt, man nimmt Geld und verteilt es um?

Warum hat man in Griechenland angemahnt, Reformen durchzuführen? - Das ist relativ einfach zu verstehen. Ich habe es einem kleinen Kind einmal so erklärt: Stell dir vor, dein roter Luftballon hat sehr viele Löcher und die Luft entweicht. Du hast zwei Möglichkeiten, um diesen Luftballon zu reparieren. - Herr Gallert, ich verstehe Ihren Ansatz so, dass Sie einfach mehr Luft hineingeben und hoffen, dass die Löcher irgendwann von allein zugehen. Ich habe den Ansatz der Europäischen Union aber immer so verstanden: Man schließt erst die Löcher - durch Reformen, auch auf dem Arbeitsmarkt - und dann gibt man wieder Luft in den Ballon. Dann wird er wieder schön rund und groß. Ich habe Ihre soziale Komponente noch nicht so richtig verstanden. Vielleicht können Sie mir einmal erklären, wie das funktionieren soll.

Im Übrigen hatte auch Hollande, der Vorgänger von Macron, große Probleme, als er auf dem französischen Arbeitsmarkt Reformen umsetzen sollte. Diese Gelbwestenbewegung ist in anderer Form also auch anderen Präsidenten in Frankreich schon passiert.

Herr Gallert, Sie haben das Wort.

Es gibt einige Besonderheiten. Die Bewegung, mit der er zu tun hatte, das waren vor allen Dingen die Auseinandersetzungen in den Banlieues und die gewerkschaftlich organisierte Protestbewegung gegen die Verschlechterung von Arbeitnehmerinnenrechten.

Aber, Herr Philipp, ich habe Sie bisher immer als durchaus interessierten Beobachter der Europa

politik gesehen. Dass Sie jetzt sagen: „Herr Gallert, erzählen Sie mir doch bitte mal, was mit der sozialen Säule gemeint ist“, das ist ein bisschen schwierig. Es gibt dieses Papier mit 20 Vorschlägen aus der Europäischen Kommission; es gibt die Göteborger Erklärung, die auch die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet hat. Wenn Sie die kennen würden, dann wüssten Sie, dass es mitnichten primär um Geldumverteilung geht.

Dann wüssten Sie, dass es zum Beispiel in erster Linie um internationale Kontrollen der Durchsetzung von Arbeitnehmerinnenrechten geht, um die Sicherung von sozialen Sicherungssystemen, um die Ermöglichung, Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern innerhalb der Europäischen Union auch in einem anderen Mitgliedsland der Europäischen Union überhaupt erst einmal in Angriff zu nehmen. Das ist das, was Juncker vorgestellt hat.

Ich hätte nie geglaubt, dass jemand, der, als er noch Ministerpräsident war, massiv Steuerhinterziehung organisiert hat und der wirklich einer der radikalsten Nutzer des neoliberalen Umbaus gewesen ist, aus Angst vor dem Auseinanderbrechen der Europäischen Union 20 solcher Vorschläge unterbreitet. Und da finde ich das völlig richtig.

Ich würde einen Vorschlag machen. Sie haben gesagt, ich simplifiziere die ökonomischen Kontexte in der Europäischen Union, und erklären mir dann etwas von roten Luftballons mit Löchern. - Na ja, Herr Philipp, würde ich jetzt mal so sagen. Aber können Sie mir bitte erzählen, was die von Deutschland durchgesetzte Reduzierung des Mindestlohns in Griechenland wirklich zur Gesundung der politischen und ökonomischen Lage in Griechenland beigetragen hat? - Im Grunde genommen, Herr Philipp, wissen alle inzwischen, dass die Europäische Union in diesem Kontext massive Fehler gemacht hat.

Sie haben inzwischen übrigens im Falle von Portugal und Spanien klammheimlich diese Dinge abgedreht und haben es sein lassen. Übrigens ist Portugal eines der guten Beispiele dafür, dass sich ein Land gegen Auflagen von Brüssel zum neoliberalen Umbau der eigenen Wirtschaft gewehrt hat und inzwischen heute super dasteht. Das ist das Land mit dem größten Wirtschaftswachstum innerhalb der Europäischen Union, weil es genau das nicht gemacht hat: die sozialen Rahmenbedingungen verschlechtert. Sie haben den Mindestlohn erhöht. Sie haben die Renten nicht gestrichen. Sie haben wirklich investiert und sind heute die Gewinner.

Deswegen sage ich: Himmelherrgott, lassen Sie uns lernen! Lassen Sie uns endlich daran arbeiten, Mehrheiten für diese Europäische Union da

durch zu gewinnen, dass wir die soziale Situation der Menschen in ihr verbessern, und nicht immer glauben, der Markt richtet es. Das, Herr Philipp, ist der Unterschied.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Philipp hat eine Nachfrage, Herr Gallert.

Das Beispiel mit dem roten Ballon war nur erklärungstechnisch.

Ich habe ja auch nur gesagt: na ja.

Ich bin trotzdem der Meinung, dass Sie das komplexe Problem einfach für populistische Standpunkte benutzen. Denn auch Sie wissen, dass man in einem Gefüge, in dem wir einen starren Wechselkurs haben, also keinen flexiblen Wechselkurs, leider zusehen muss, dass die Produktivität - das ist nun einmal so, das kann man gut oder schlecht finden - in diesen Mitgliedstaaten ähnlich ist. Ansonsten haben Sie das Problem, das Sie gerade sehen: dass das Kapital vor allem dahin fließt, wo es sich am meisten rentiert. Und das ist momentan der Produktionsstandort Deutschland.

Deswegen finde ich es gar nicht schlecht, dass man auch über soziale Standards spricht und überlegt, wie man soziale Standards innerhalb der Europäischen Union angleichen kann. Das heißt nun nicht, dass alle deutsch werden müssen, aber dass man aufeinander zugehen muss. Simples Beispiel: In Deutschland gibt es die 40-StundenArbeitswoche, in Frankreich eine 35-Stunden-Arbeitswoche. Das macht schon viel aus für große Produktionsstandorte. Da muss man anpacken. Das sind die Probleme der Europäischen Union, und nicht einfach nur Umverteilung, Herr Gallert.

(Zustimmung bei der CDU)

Gut, auch darauf möchte ich noch einmal antworten. Herr Philipp, eines der großen Probleme, die wir innerhalb der Europäischen Union haben, ist, dass es in Deutschland seit vielen Jahren im Grunde genommen nur noch ein Wachstumsmodell gibt; das ist das Exportwachstumsmodell. Alle Leute, die sich mit ökonomischen Rahmendaten innerhalb der Europäischen Union und innerhalb der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 15 Jahren etwas besser beschäftigt haben, wissen, dass wir auch in den letzten 15, 20 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland einen erheb

lichen Produktivitätszuwachs hatten. Etwas, das wir nicht hatten, war ein Lohnzuwachs.

Wir hatten bis etwa 2015, zwischen 2002 und 2015, im Schnitt einen Nettoverlust bei den Reallöhnen: 50 % real verloren, die oberen 10 % gewonnen. Das heißt, das deutsche Exportmodell hat eine Basis gehabt: Produktivitätszuwachs und Lohnverlust. Dadurch ist man natürlich in einem europäischen Markt, auch noch mit einer gemeinsamen europäischen Währung, jedem Land völlig überlegen, das parallel zu einem Produktionszuwachs auch einen Einkommenszuwachs hat.

Wir haben unseren europäischen Markt innerhalb der Europäischen Union erfolgreich totkonkurriert. Das ist übrigens das Problem, das in Frankreich angekommen ist. Bei denen hat es Lohnzuwächse gegeben, die parallel zum Produktivitätszuwachs waren.

(Zuruf von Guido Heuer, CDU)