Protocol of the Session on October 16, 2020

An dem Tag, an dem die Mauer fiel, dachte ich an meinen Großvater, der sein ganzes Leben davon sprach, dass die Grenze wohl ewig bleibe. Zum Glück hatte er nicht recht. Leider konnte er dies nicht mehr erleben.

Der 9. November markiert einen weltgeschichtlichen Wendepunkt. Der 3. Oktober war mehr eine Art Stichtag, terminlich festgelegt auf der Grundlage von Wetterprognosen, weil man es sonnig wollte, wenn man von Balkonen winkt. Schließlich waren es 15 °C und eine Mischung aus Sonne und Wolken. Dass viele Deutsche den 3. Oktober bis heute nicht als Nationalfeiertag sehen, könnte daher auch an seiner eigentümlichen Terminierung liegen. Daher wäre vielleicht der 9. November wirklich das bessere Datum gewesen. Das wurde vor 30 Jahren ja auch diskutiert.

Aufbauend auf den Ereignissen von 1918, 1938 und 1989 - erste deutsche Republik, Novemberpogrome, Mauerfall - hätte man einen Tag der Deutschen als Gedenk- und Feiertag etablieren können, der der ungleich großartigen, aber auch mehrmals geschundenen deutschen Seele gerecht wäre. Leider wurde diese Chance vertan.

Aber vielleicht wollte man das ganz bewusst nicht, also uns Deutschen ein Tag schenken, einen bedeutenden Tag, an welchem man unsere achtenswerte Vergangenheit mit ihren Höhen und ihren

Tiefen mit unserer Gegenwart und Zukunft in eine kontinuierliche Verbindung stellt.

Ich denke, dass dies zumindest einige bewusst nicht wollten; viele wollten ja nicht einmal die Wende, wobei das Wort „Wende“ problematisch ist. Bekanntlich wurde diese Formulierung ja von Egon Krenz geprägt, der die Ereignisse von 1989 für sich und die SED nutzbar machen wollte, was ebenso bekanntlich und glücklicherweise nicht funktionierte.

Ich meinte eben, viele wollten das, was 1989 und 1990 passierte, gar nicht, also die Wiedervereinigung Deutschlands - besser gesagt: den Beitritt der ehemaligen DDR zur bestehenden BRD; formal war es ja nur ein Beitritt. Der eine oder andere hier wird sich vielleicht noch erinnern, wer das alles nicht wollte: Die SED, deren Nachfolger heute hier im Raum sitzen, wollte es sowieso nicht. Die CDU ging noch bis 1988 davon aus, dass eine Wiedervereinigung auf lange Zeit nicht absehbar sein würde. SPD und GRÜNE wollten es eigentlich auch nicht, und im Ausland, beispielsweise Großbritannien und Frankreich, war man auch dagegen. Dennoch kam es so; und dass die meisten, die dagegen waren, heute gern über ihre damaligen Positionen schweigen oder diese zu relativieren versuchen, kann ich gut nachvollziehen.

Meine Damen und Herren! Bei aller Kritik, die ich hier übe: Selbstverständlich bin ich froh, dass es 1989 und 1990 so kam, wie es kam. Dabei habe ich aber nicht vergessen, woher ich komme, und auch nicht, was ich im Unrechtsstaat DDR erlebt habe. Das halte ich mir in wacher Erinnerung, und alle, die mir dies gleichtun, sind damit gut beraten.

(Zustimmung)

Dass der Osten anders tickt als der Westen, ist eine bekannte und im Kern wahre Formulierung, also keine Floskel; das sieht man auch an den Wahlergebnissen. Wir, die ehemaligen DDRStaatsbürger, sind die mit der sogenannten doppelten Diktaturerfahrung, und gerade der letzte, der rote Totalitarismus, ist noch gut im Hinterkopf verankert. Ja, auch deshalb sind wir hier lauter und manchmal etwas rauer und entschlossener, wenn wir erkennen, dass sich das, was man 1989 erfolgreich niedergerungen hat, am Horizont neu abzuzeichnen scheint.

(Zustimmung)

Meine Damen und Herren! 30 Jahre Wiedervereinigung und 30 Jahre Sachsen-Anhalt: Unser Land, eigentlich schon etwas älter als 30 Jahre, hat viele Federn lassen müssen. Die Raubzüge einfallender Heuschrecken aus der alten Bonner Republik sowie die Treuhandwunde, welche trotz mehrmaliger parlamentarischer Befassung und

journalistischer Besprechung bis heute nicht komplett aufgearbeitet ist, wirken nach.

Sachsen-Anhalt ist bis heute, von einigen positiven Ausnahmen abgesehen, gesetzt, wenn es darum geht, eine rote Laterne zu verteilen. Die Lebensumstände im Land sind, milde formuliert, schwierig. Nehmen wir nur einige Schlagzeilen der letzten Tage: „Arbeitslose im Osten besonders oft auf Dauer mit Hartz IV“ oder “Weniger Lohn für mehr Arbeit“ oder „Immer mehr Rentner im Land arbeiten noch“ oder „Menschen im Land sterben früher“.

Die Bevölkerung im Land schrumpft; heute leben hier ca. 680 000 Menschen weniger als noch 1990. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund steigt dabei gleichzeitig an; 8 % sollen es aktuell schon sein, Tendenz steigend, übrigens bundesweit schon jeder Vierte.

Mangelerscheinungen haben wir in fast allen - zumeist lebenswichtigen - Bereichen, zu wenige Polizisten, zu wenig Personal an den Gerichten sowie in den Krankenhäusern und in der Pflege, zu wenige Lehrer usw. usf.

(Zustimmung)

Es kommt auch zu wenig nach. Es gibt heute Handwerksberufe, bei denen Auszubildende aus Sachsen-Anhalt in andere Bundesländer zur Berufsschule fahren müssen, weil man hier für einen oder zwei Azubis keine Klasse aufmachen will. Das Bildungswesen ist allgemein eine Katastrophe, fast immer letzter Platz von allen Bundesländern, nicht nur, weil es zu wenige Lehrer gibt, sondern auch, weil die Konzepte nicht funktionieren.

(Zustimmung)

Studien zeigen: 20 % aller Viertklässler können nicht so lesen, dass sie den Text bei der Lektüre verstehen. 66 % der Viertklässler - immer noch zwei Drittel - erreichen beim Lesen gerade den Regelstandard. Im Orthografischen sind es nur noch 54 %. Den Optimalstandard erfüllen indessen beim Lesen und Zuhören nur 10 %, im Rechtschreiblichen nur noch knapp 9 %. Das ist alarmierend.

Alarmierend ist auch, dass mehr als 6 Millionen Deutsche als funktionale Analphabeten gelten; 52 % dieser Gruppe sind übrigens Muttersprachler und haben eine Schule durchlaufen. Warum haben wir hier zum Beispiel nicht etwas aus der DDR übernommen? Wir wären gerade in diesem Bereich nicht schlecht beraten gewesen.

(Zuruf)

- Ja, das ist so.- Die damaligen Deutschlehrpläne waren im Muttersprachlichen wie Literarischen zwar ideologisch überfrachtet, aber didaktisch und

methodisch durchdacht aufgebaut. Ferner wurde enormer Wert auf sehr gute Rechtschreibung und Grammatik gelegt. Heute: Fehlanzeige!

Aber man traut ja bis heute fast allem und fast allen aus dem Osten nicht über den Weg. Wie sonst kann man erklären, dass wir auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch zu wenige Menschen mit mitteldeutscher Biografie in Verantwortungspositionen haben? In einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ vom 30. September bemerkt Peter-Michael Diestel, letzter DDRInnenminister: „Es gibt unter den 200 deutschen Botschaftern und den 500 Generälen nicht einen einzigen Ostdeutschen.“

Von 84 Universitäten und Hochschulen in

Deutschland wird nicht eine von einem Ostdeutschen geleitet. In den ostdeutschen Landeshauptstädten kommen 90 % aller Staatssekretäre, Abteilungsleiter, Hauptabteilungsleiter aus dem Westen; fast 100 % sind es in Brandenburg. Nicht ein einziger Ostdeutscher ist in den Altbundesländern Staatssekretär, Hauptabteilungsleiter oder Minister. Wir haben fünf Oberlandesgerichte, die mit Altbundesdeutschen besetzt sind.

Meine Damen und Herren! Ich wiederhole meine Frage, die ich eingangs einbrachte: Meinen Sie, dass sich die Konstrukteure der Wiedervereinigung bzw. des Beitritts der neuen Länder zur BRD das so vorgestellt haben? Auch nach 30 Jahren ist unser Land zutiefst gespalten. Ost- wie Westdeutsche sind sich heute in großen Teilen fremder denn je. Soziale Fragen wurden in den letzten Jahren nicht ausreichend beantwortet, soziale Probleme wurden nur noch verschärft, nicht gelöst. Hierzu einige Beispiele.

Die relative Armut wie auch die Erwerbsarmut steigen; es gibt bundesweit über 3,5 Millionen Vollzeitbeschäftigte, die aufstocken müssen. In Mitteldeutschland arbeitet fast jeder dritte Vollzeitbeschäftigte im Niedriglohnsektor. Von 20 Millionen Rentnern beziehen über 500 000 Hartz IV für Pensionäre, also Grundsicherung im Alter. Für so ein - wie es oft genannt wird - reiches Land ist das alles eine Schande!

(Zustimmung)

Nein, 30 Jahre Wiedervereinigung sind - betrachten wir, wie sich unser Land in diesen Zeiten entwickelte - kein Grund zum Feiern. Dieses unser Land hat Probleme zuhauf. Doch anstatt sich auf deren Lösung zu konzentrieren, klopfen sich unsere Spitzenpolitiker lieber auf die Schultern, beispielsweise wenn es der Pandemie an den Kragen gehen soll, dieser Krankheit, die mittlerweile für alles die Begründung abgeben soll, bis hin zum Rütteln an Verfassung und Grundordnung.

(Zustimmung)

Meine Damen und Herren! Meine Eltern und Großeltern haben sich ihre Heimat ganz sicher nicht so vorgestellt, wie Sie sie für uns planen, und ich werde meine Kinder und Enkel sicherlich nicht kampflos in eine von Ihnen geplante Zukunft entlassen. Dessen seien Sie sich sicher.- Vielen Dank.

(Beifall)

Ich sehe keine Wortmeldungen.Somit kommen wir zur nächsten Debattenrednerin. Für die SPDFraktion spricht die Abg. Frau Dr. Pähle. - Sie haben jetzt das Wort, Frau Dr. Pähle.

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Wir erleben heute im Parlament eine historische Stunde.“ - Das sage nicht ich, sondern das kommt aus dem Protokoll der frei gewählten Volkskammer vom 22. Juli 1990, und das Zitat geht wie folgt weiter:

„Die Bürgerinnen und Bürger der DDR errichten als föderative Elemente Länder, deren verfassungsmäßige Ordnung den Grundsätzen eines republikanischen, freiheitlichen, demokratischen, sozialen und ökologisch orientierten Rechtsstaates entsprechen muss.“

Mit diesen Worten stellte der zuständige Berichterstatter, der Sozialdemokrat Volker Schemmel, in der Volkskammer die Ergebnisse der Beratung über das Ländereinführungsgesetz im Ausschuss für Verfassung und Verwaltungsreform vor. Es hat schon Sinn, sich dies noch einmal vor Augen zu führen. Die Neugründung der Länder trat zwar zeitgleich mit dem Einigungsvertrag am 3. Oktober in Kraft, aber die Wiedereinführung des Föderalismus als demokratisches Gestaltungsprinzip war eben nicht Teil der Übernahme einer bestehenden westdeutschen Rechtsordnung, sondern die souveräne Entscheidung der demokratisch gewählten Volkskammer als Ergebnis der seit der friedlichen Revolution in der DDR geführten Verfassungsdiskussion. Und auch Anzahl und Zuschnitt der Länder waren nicht vorgegeben.

Wie der Berichterstatter vermelden konnte, gingen zur Neugliederung der Republik mehr als

2 000 Vorschläge ein. Die vorgeschlagenen Modelle reichten von zwei bis zu elf Ländern, was umgekehrt heißt: Auch die Entscheidung für fünf Länder - und damit auch für die Wiedergründung von Sachsen-Anhalt - war die bewusste Entscheidung nach einem langen Diskussionsprozess.

Meine Damen und Herren! Ich bin froh über die damalige Entscheidung. Ich mag unser Land. Ich mag meine Heimat - aus vielen Gründen -: nicht

nur, weil Sachsen-Anhalt eine einzigartige Mischung aus Naturlandschaften, historischen Stätten und Welterbe aller Art bietet, nicht nur, weil man in diesem vielfältigen Land ganz unterschiedliche Lebensentwürfe verwirklichen kann. Ich schätze an Sachsen-Anhalt auch die Möglichkeit zu gestalten, Politik zu machen, und zwar mit einem Maß an Bürgernähe, wie es in einem größeren Land gar nicht denkbar wäre.

(Zustimmung)

Von solch einem flächendeckenden Bürgerkontakt, wie wir als Abgeordnete ihn hier pflegen können, von so viel Kenntnis der Probleme vor Ort können Landtagsmitglieder in NordrheinWestfalen oder Bayern nur träumen. Umgekehrt haben die Menschen in Sachsen-Anhalt ganz andere Chancen als die Bürgerinnen und Bürger in den größeren Ländern, ihren Abgeordneten auf den Füßen zu stehen, und ich finde, das ist ein Wert für die Demokratie in unserem Land.

(Zustimmung)

Genau deshalb stimme ich nicht in den Chor der Menschen ein, die Sachsen-Anhalt schlechtreden oder belächeln.

(Zuruf von Robert Farle, AfD)

Ich tue es nicht als eines dieser „BindestrichLänder“ ab. Ich weiß, dieses Land wird gern unterschätzt, hat aber dadurch auch immer wieder aufs Neue die Chance, positiv zu überraschen. Diese Chance müssen wir nutzen, denn wir können zeigen: Sachsen-Anhalt kann etwas. Die Art, wie wir durch die Coronakrise gekommen sind, ist für viele Länder ein gutes Beispiel.

Meine Damen und Herren! 30 Jahre deutsche Einheit und 30 Jahre Sachsen-Anhalt sind Anlass genug, die Menschen zu würdigen, die geschafft haben, worauf wir heute alle aufbauen, und ich meine an dieser Stelle einmal nicht die demokratischen Revolutionäre und nicht die erste Generation von Landtagsabgeordneten; ich meine die Leute, die nach 1990 eine bedeutsame Entscheidung getroffen haben: die Entscheidung, hierzubleiben.

(Zustimmung)

Ich denke an dieser Stelle an die Generation meiner Eltern, die sich bewusst entschieden haben, nicht zu wegzugehen in die industriellen Zentren Westdeutschlands, um dort gut besser bezahlte Arbeit zu finden. Das wäre für viele der leichtere und verständlichere Weg gewesen. Viele sind gegangen, und für viele schien es damals auch die einzige Alternative zu sein. Deshalb können wir froh sein über alle, die sich entschieden haben, zu bleiben, und sich hier neue Chancen erarbeitet haben: vielleicht ein kleines Unternehmen gegründet oder sich in ihrer Stadt oder Gemeinde