In der Tat ist meine Hoffnung, dass sie tatsächlich einen neuen Handlungsansatz für uns hier als Parlament gibt, nämlich die Dinge, die in Sachsen-Anhalt auf der Tagesordnung stehen, mit denen wir zu kämpfen haben, die Herausforderungen, die in den Kommunen stehen - so heftig wir uns darum streiten mögen, so berechtigt wir uns darüber streiten, was der richtige Weg ist -, doch noch einmal in einen gesamteuropäischen Kontext zu setzen. So viele Baustellen es gibt: Die Probleme relativieren sich, wenn wir uns die Situation in Italien anschauen und wenn man die Eindrücke im Kopf hat.
In Italien kamen im Jahr 2014 170 000 Flüchtlinge per Boot an. Allein in den drei Tagen, bevor wir nach Palermo reisten, kamen mehr als 5 000 Menschen an. Padre Natoli, einer unserer Gesprächspartner in Palermo, ging besonders auf die Frage der Fluchtgründe und die Frage, woher die Flüchtlinge eigentlich kommen, ein. Er berichtete von einem enorm steigenden Anteil geflüchteter Kinder. 5 000 neu Ankommende - in Beamtendeutsch: unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge - waren es im letzten Jahr allein auf Sizilien.
Er beschrieb einen Wandel auch in der Zusammensetzung der Gruppen der Flüchtlinge. Es flüchten mehr Familien, mehr Frauen mit Kindern, und es steigt der Anteil der Menschen, die vor Umweltverschmutzung, vor der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und vor den Auswirkungen des Klimawandels fliehen.
Auch der Anteil der sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge steigt massiv. Allerdings - das fand ich besonders beeindruckend - scheint in Italien auf die Charakterisierung als Wirtschaftsflüchtling keineswegs das Absprechen des realen Schutzbedürfnisses zu folgen. Vielmehr wird der Fokus viel stärker und viel ernsthafter auf die Fluchtursachen, auf den Zusammenhang zwischen Weltpolitik und Fluchtbewegung und die real für die Menschen nicht vorhandenen Alternativen zur Flucht gelegt.
Sie haben in ihren Ländern keine Chance, sagte Padre Natoli. Und wir erleben einen Weltenwandel. Bisher war die Globalisierung nur ökonomisch vollzogen. Jetzt erleben wir sie in einem weit umfassenderen Sinne. Er fragte: Was ist unser gemeinsamer Horizont? Wir alle wollen unser kurzes Leben in Frieden führen. - Der Mann hat einfach Recht.
Meine Damen und Herren! Das ist nur ein Beispiel. Aber ich empfinde es durchaus als ein sehr typisches Beispiel für die Perspektive, die eigentlich alle unsere Gesprächspartner dort einnahmen oder zumindest in ihre Perspektive einbezogen haben.
Die Herausforderungen und die Probleme, vor denen Italien steht, sind weitaus größer als die, vor denen wir stehen. Sie sind weitaus existenzieller. Aber ich habe dort niemanden erlebt, der ernsthaft anzweifelte, dass die Menschen, die als Flüchtlinge nach Italien kommen, reale und anzuerkennende Fluchtgründe haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nächste Woche findet bekanntlich die zweite Runde des Asylgipfels oder des Flüchtlingsgipfels der Landesregierung in Sachsen-Anhalt statt. Ich wünschte mir einen Hauch dieser Empathie. Ich wünschte mir einen solchen weiten Horizont und eine solche Betrachtungsweise der Fluchtgründe für diese und für andere Diskussionen bei uns in Sachsen-Anhalt; daraus können wir wirklich viel lernen.
Um nicht missverstanden zu werden: Es ist keinesfalls so, dass in Italien alles besser wäre. Ganz im Gegenteil: Es sind sehr widersprüchliche Eindrücke, die ich mitgenommen habe. Die Defizite in der staatlichen Fürsorge und in der Daseinsvorsorge sind augenscheinlich. Nur ein ganz kleiner
Teil der ankommenden und dort lebenden Flüchtlinge findet in staatlich organisierten Unterkünften Platz.
Ein weitaus größerer Teil ist ausschließlich von ehrenamtlicher, spendenbasierter und freiwilliger Hilfe abhängig, sei es, wenn es darum geht, ein Dach über dem Kopf zu haben, wenn es darum geht, Wäsche zu bekommen, Wäsche waschen zu können, Nahrungsmittel zu haben, gesundheitlich versorgt zu werden, den Zugang zu Schulbildung zu haben, seien es Ämtergänge usw.
Nicht alle Menschen schaffen es überhaupt in irgendeine der Aufnahmeeinrichtungen. Vielmehr leben sie in entstehenden und auch wieder verschwindenden informellen Lagern.
Eklatante Mängel, akute Probleme bei der Unterbringung und Versorgung, mühsame Versuche, die großen Lücken zu füllen, die der Staat einerseits lässt. Andererseits aber - das scheint mir angesichts der genannten Probleme besonders bemerkenswert - scheint es die Diskussion darüber, ob Asylbewerber, die noch nicht wissen, ob sie bleiben dürfen, deren Bleibestatus und deren Aufenthaltsstatus ungewiss ist, das Recht haben, Italienisch zu lernen oder nicht, nicht zu geben.
Es ist selbstverständlich, dass jeder, der in einem Land ist, dessen Sprache er nicht beherrscht, die Chance haben muss, diese Sprache zu erlernen, und zwar möglichst schnell und unabhängig davon, was für einen Aufenthaltstitel er hat.
Zu den neu ankommenden Flüchtlingen - Herr Borgwardt ruft mir gerade zu: Die kommen doch alle zu uns! -, die nach der Erstaufnahme italienweit verteilt werden, kommen die Flüchtlinge hinzu, die als sogenannte Dublin-Fälle aus anderen europäischen Ländern nach Italien zurücküberstellt und erneut italienweit verteilt werden.
Für die völlig überlasteten Aufnahmeeinrichtungen und -strukturen in Italien ist das eine zusätzliche, enorme Belastung. Das ist nicht neu, das ist vielfach beklagt. Das stellt Fragen nach der Praxis bei uns am anderen Ende der Dublin-Bürokratie. 18 % aller Asylentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 2014 waren Entscheidungen in Dublin-Fällen, das sind ca. 23 000 Fälle.
Deutschland hat 2014 35 000 Übernahmeersuche gemäß „Dublin“ an andere europäische Staaten gestellt, 9 000 davon alleine an Italien. Rund 5 000 Menschen wurde real als Dublin-Fälle abgeschoben. Auch aus Sachsen-Anhalt geht etwa ein Drittel der Dublin-Abschiebungen nach Italien.
eine Zahl dazu, die über das praktische Funktionieren der Dublin-Regelung Auskunft gibt. 170 000 kommen neu an, nur ca. 66 000 bleiben in Italien und stellen dort einen Asylantrag. Völlig unabhängig davon, wie man das Dublin-Übereinkommen prinzipiell bewertet, wie man das findet, welche Kritik man daran hat oder auch nicht, müssen wir doch feststellen, „Dublin“ funktioniert nicht, „Dublin“ ist gescheitert.
Menschen, die die Sahara durchquert haben, die das Mittelmeer überlebt haben, lassen sich von bürokratischen Regelungen nicht abhalten. Ich habe größtes Verständnis für sie.
Dieses Nichtfunktionieren ist uns bei unserer Reise, denke ich, allen deutlich geworden. Ich bin dem Innenminister außerordentlich dankbar, dass er mit seiner Äußerung „Dublin ist nicht haltbar“ dies auch öffentlich festgestellt hat.
Meine Damen und Herren! Der heute vor uns liegende Antrag spiegelt in keiner Weise umfassend die Auffassung meiner Fraktion zur Analyse der gegenwärtigen europäischen Asylpolitik und schon gar nicht zu unseren Alternativvorschlägen wider. Denn natürlich wäre aus unserer Sicht weit, weit mehr notwendig als das hier beantragte Eintreten für die Überwindung von „Dublin“.
Folgerichtig und notwendig wäre nach unserer Auffassung ein Stopp der Überstellungen nach Italien, genauso wie die Prüfung jedes Einzelfalls. - Unser Antrag dazu - übrigens fast genau ein Jahr alt - liegt seit fast genau einem Jahr im Ausschuss. Das nur nebenbei bemerkt. - Notwendig wäre es weiterhin, die Praxis der sicheren Herkunftsstaaten ebenso zu überwinden wie „Dublin“, denn es ist das gleiche Prinzip der Abwälzung von Verantwortung.
Wir waren durchaus beim Bürgermeister von Palermo - keineswegs ein Linker im Übrigen -, einem Humanisten, einem überzeugten Europäer, der genau das als Grundlage europäischer Zuwanderungspolitik einfordert. Das würde wirklich von einer europäischen Idee zeugen. Das wäre ein Entwurf für eine moderne Migrationspolitik, statt Bleiberecht von wirtschaftlicher Nützlichkeit abhängig zu machen.
Wie schwer es mir fiel, einen Antrag zu schreiben, der genau das nicht beinhaltet, sondern sich lediglich auf das Eintreten für die Überwindung von „Dublin“ beschränkt, das werden Sie sich vermutlich vorstellen können, liebe Kolleginnen und Kollegen. Meine Fraktion hält die Frage der Flüchtlingsaufnahme, der Migrationspolitik und der Wahrnahme humanitärer und auch europäischer Verantwortung für eine der dringendsten und auch der grundlegendsten Fragen unserer Zeit und künftiger gesellschaftlicher Entwicklungen. Deshalb bin ich froh über jeden Schritt in die richtige Richtung.
Die Feststellung, dass „Dublin nicht haltbar ist“, gehört zweifellos dazu. Deswegen mag es vielleicht ungewöhnlich sein, aber es ist dennoch ernst gemeint, Herr Minister, wenn wir beantragen, der Landtag solle sich die Auffassung des Innenministers zu eigen machen. Politik ist oftmals das Aushandeln der kleinsten gemeinsamen Nenner.
Im Wissen darum, dass Sie, Herr Minister, Sie, liebe CDU, und ich die Frage, was nach „Dublin“ kommen soll, völlig unterschiedlich beantworten werden, appelliere ich an Sie: Lassen Sie diesen kleinsten gemeinsamen Nenner zu, wenn wir ihn in dieser Frage offensichtlich einmal gefunden haben. Lassen Sie ihn zu, setzen Sie sich auf Bundesebene für Ihre Auffassung, Dublin sei nicht haltbar, ein. Es stünde unserem Land nicht nur angesichts der Schlagzeilen, die wir sonst bundesweit machen, sehr gut zu Gesicht. - Herzlichen Dank.
Danke sehr, Frau Quade, für die Einbringung. - Für die Landesregierung spricht Minister Stahlknecht. Bitte sehr.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Dublin-Verordnung, nach der Asylbegehrende das Asylverfahren grundsätzlich in dem Mitgliedstaat zu betreiben haben, in den sie zuerst eingereist sind, ist derzeit tragender Bestandteil des gemeinsamen europäischen Asylsystems. Allerdings stellen die starken Flüchtlingsströme, die insbesondere über das Mittelmeer und über die Ländergrenzen von Griechenland und einigen osteuropäischen Mitgliedstaaten in die EU kommen, dieses System vor erhebliche Herausforderungen. Das macht aus meiner Sicht - ich sage das ganz deutlich - die Diskussion über „Dublin“ erforderlich und auch die Frage zulässig, ob „Dublin“ so sinnvoll ist; um das gleich von vornherein zu sagen.
Zum einen sehen sich Mitgliedsstaaten wie Italien und Griechenland mit einem unablässig wachsenden Zustrom von Migrantinnen und Migranten konfrontiert. Zum anderen sind es derzeit gerade einmal fünf Mitgliedsstaaten innerhalb der EU, die faktisch drei Viertel aller Asylbegehrenden aufnehmen, weil diese aus den Randstaaten in diese Länder weiterwandern. Die Hauptlast - das meine ich jetzt nicht negativ, sondern als Tatsache - trägt dabei Deutschland, das zurzeit rund ein Drittel aller Asylbegehrenden aufnimmt.
Aus meiner Sicht braucht man eine andere Verteilung innerhalb der europäischen Mitgliedsstaaten, ähnlich wie wir in Deutschland eine Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel haben, indem man sagt, jeder Mitgliedsstaat in der EU hat nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel die Pflicht, ein gewisses Kontingent an Asylsuchenden aufzunehmen.
Es hat jetzt Diskussionen gegeben, auch eine Entscheidung der Europäischen Kommission. Diese enthält einen Vorschlag, 40 000 Personen aus Italien und Griechenland auf der Grundlage eines Verteilungsschlüssels in andere Mitgliedstaaten umzusiedeln. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ich halte aber das, was dort im Ergebnis erzielt worden ist, unter den gegebenen Voraussetzungen eigentlich für viel zu gering.
Wir brauchen allerdings auch die Beseitigung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern. Auch das ist uns, liebe Frau Quade, in Italien klar geworden. Diejenigen, die über das Mittelmeer fliehen und insbesondere über die Schlepperbanden, sind die Mittelschicht und Oberschicht der Staaten, aus denen sie fliehen. Denn niemand anderes kann sich eine solche Reise - in Anführungsstrichen - oder Flucht über das Meer leisten.
Wir werden erleben, dass aus diesen Staaten, die keine Verwaltung, keinen Staat haben, auch noch die Menschen fliehen, die bislang mit ihren Fähigkeiten ein Land zukunftsfähig gemacht haben.
Insofern brauchen wir auch eine Antwort, wie die Fluchtursachen in den Herkunftsländern beseitigt werden. Das ist eine der größten Herausforderungen. Ich glaube, das ist noch schwieriger als die Veränderung von „Dublin“.
Liebe Frau Quade, so weit sind wir einig. Das haben wir auch in vielen Fachgesprächen in Italien gemeinsam erörtert. Ich teile Ihre Auffassung nicht, dass jeder Asylbewerber und jede Asylbewerberin, wenn sie kommt, sich ihren Aufnahmestaat frei auswählen kann. Das könnte möglicherweise dazu
führen, dass gewisse Staaten überproportional belegt werden würden, weil sie in der Wunschhitliste ganz oben ständen. Nun können Sie sagen, das kann man finanziell ausgleichen. Wie solche finanziellen Fragen funktionieren, können Sie sich gerade in Griechenland angucken; es funktioniert nicht immer. Insofern würde ich das, was Sie sagen, so nicht mittragen.
Aber ich will auch eines sagen: Viele, die über das Meer kommen, haben nur ihre Kleidung am Leib, aber noch einen Zettel, den sie wasserdicht verpackt mitgebracht haben, darauf steht eine Telefonnummer.