Protocol of the Session on April 24, 2015

Im bereits seit 1932 nationalsozialistischen Land Anhalt beschließt die NSDAP-Mehrheit im Stadtrat von Dessau schon 1932, dass das Bauhaus seinen Lehrbetrieb einstellen muss. Die KPD stimmt dagegen, die SPD enthält sich der Stimme.

(Frau Budde, SPD: Richtig!)

Schritt für Schritt wird Deutschland ein Unrechtstaat, eine Diktatur, in der der Einzelne nichts mehr zählt, die Volksgemeinschaft angeblich alles. Jeder Widerstand wird brutal unterdrückt.

Über das Konzentrationslager Langenstein-Zwieberge wird der jüdische Überlebende Arno Lustiger zu mir einmal sagen: Gegen Langenstein-Zwieberge war Buchenwald beinahe ein Sanatorium.

In der Tötungsanstalt Bernburg werden zwischen 1940 und 1943 fast 15 000 Menschen ins Gas getrieben und ermordet. In der Isenschnibber Feldscheune, wie heute schon erwähnt, bei Gardelegen, werden mehr als 1 000 Häftlinge auf einem Todesmarsch verbrannt oder erschossen.

Jeder Zwieberger Häftling schleppte sich mindestens einmal mitten durch das Dorf Langenstein. In Bernburg arbeiteten Ärzte, Pflegepersonal, Beamte. Der Hauptverantwortliche in Gardelegen, NSDAP-Kreisleiter und SS-Obersturmbannführer Thiele, war ein deutscher Lehrer. Alles Menschen, wie schon erwähnt, aus der Mitte der Gesellschaft, und es geschah mitten in der Gesellschaft.

Die nationalsozialistische Diktatur und der von ihr ausgelöste verbrecherische Krieg und Völkermord führten dann auch die sogenannte Volksgemeinschaft in Not und Elend. Magdeburg, wo wir heute sitzen, Halberstadt, Zerbst und viele andere Städte wurden zerstört. Wer will, der kann die Wunden heute noch sehen. Millionen Menschen mussten fliehen und wurden vertrieben. Der nationalsozialistische Größenwahn kostete mehr als 50 Millionen Menschen das Leben und hätte Deutschland beinahe von den Landkarten verschwinden lassen.

13 Millionen sowjetische, 210 000 französische, 300 000 polnische, 280 000 britische, 740 000 jugoslawische und 407 000 US-amerikanische Soldaten mussten für die Freiheit ihrer Völker und die Befreiung Deutschlands sterben.

Ja, es gab auch Gräuel und Untaten auf der Seite der Sieger. Trotzdem haben sie das deutsche Volk befreit; aus eigener Kraft war es nicht gelungen. Für viele Deutsche blieb lange die Frage: Wurden wir „nur“ besiegt oder auch befreit?

Im April 1985, bei der Gedenkfeier zum 40. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, sagte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl: „Der Zusammenbruch der NS-Diktatur am 8. Mai wurde für die Deutschen ein Tag der Befreiung.“

Sein Nachfolger Gerhard Schröder wiederholte das sinngemäß am 8. Mai 2000: „Niemand bestreitet heute mehr ernsthaft, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung gewesen ist - der Befreiung von nationalsozialistischer Herrschaft, von Völkermord und dem Grauen des Krieges.“

Der Untergang der Weimarer Republik, die nationalsozialistische Diktatur, die Befreiung durch die Alliierten und die Aussöhnung der Feinde untereinander müssen im Bewusstsein unseres Volkes tief erhalten bleiben.

(Beifall im ganzen Hause)

Die Opfer der Sieger und Befreier würdigen und ehren wir.

Es ist keine Frage, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Aufarbeitung der Nazivergangenheit nur teilweise gelungen ist. Hier, im Osten Deutschlands, auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalts, folgte der nationalsozialistischen Diktatur die kommunistisch-stalinistische.

In der Bundesrepublik Deutschland hätte ich Ende der 70er-Jahre relativ unkompliziert den Dienst eines Zivis leisten dürfen. In der sogenannten DDR musste ich mir insbesondere von Lehrern sagen lassen, dass ich als Bausoldat dem Sozialismus schadete und den Weltfrieden gefährdete.

Am 20. August 1968 gegen 23 Uhr fuhren sowjetische Panzer durch mein Heimatdorf. Bis zur Grenze der ČSSR waren es noch 25 km. Das 1945 befreite Land besetzten sie nun, um dem Sozialismus mit menschlichem Antlitz mehr als nur eine blutige Nase zu verpassen.

21 Jahre später vollendeten wir Menschen im Osten Deutschlands die Befreiung: Wir stürzten in einer friedlichen Revolution den Willkürstaat DDR. Die sowjetischen Panzer blieben in den Kasernen. Polizei, Kampftruppen, Armee, Stasi und die SED schossen nicht auf das eigene Volk.

Heute müssen wir uns fragen, ob der Sumpf, aus dem nationalsozialistische Barbarei kroch, trockengelegt ist. Wie weit ignorieren und verdrängen Menschen in Deutschland heute diesen Teil unserer Geschichte? - Insbesondere beim Ignorieren meine ich nicht die vollkommen Durchgeknallten, sondern die alltägliche Ignoranz.

Wie hoch schätzen wir die Aussöhnung mit den Völkern Europas, der Welt, dem jüdischen Volk und dem später entstehenden Staat Israel? Welchen Wert haben für unsere Bürgerinnen und Bürger die Demokratie, der Rechtsstaat und die Erkenntnis, dass Deutschland zu den Top 5 der Sozialstaaten dieser Welt gehört? Welchen politischen oder anderen Extremen könnten unsere Zeitgenossen in schwierigen Zeiten nicht nur ihr Ohr leihen?

Menschen sehnen sich nach geordneten, beschützten Lebensverhältnissen. Sie leiden unter Verlustängsten. Viele haben in den vergangenen Jahrzehnten viel verloren, andere haben viel hinzugewonnen und Angst, dieses zu verlieren. Verunsicherte Menschen suchen Sündenböcke und bauen Wagenburgen.

Am Ende der Weimarer Republik hieß der Sündenbock jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung und die Wagenburg Volksgemeinschaft.

Sind Insel und Tröglitz überall? - Ja, Insel und Tröglitz sind überall. Warum? - Weil überall die Vergangenheit vergessen und die Würde des Menschen mit Füßen getreten werden kann,

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜ- NEN)

aber auch weil es überall möglich ist - auch in Insel und Tröglitz - zu widerstehen.

(Beifall im ganzen Hause)

Sozialdemokratische Solidarität endete nie am Gartenzaun und der Gemeindegrenze. Wir haben immer versucht, die Freiheit gegen religiöse, politische und rassistische Intoleranz zu verteidigen, und wir wissen, dass soziale Gerechtigkeit sowie innere und äußere Sicherheit der Kitt der Gesellschaft sind.

Wir alle in diesem Hohen Hause wissen: Die Demokratie lebt von den Handelnden, nicht von ihren Kunden und Zuschauern. Sie lebt vom Streit um die beste Lösung. So werden wir in diesem Hohen Hause auch darüber streiten, ob der 8. Mai ein Feiertag in Sachsen-Anhalt werden soll. Nach der Überweisung in die Ausschüsse wird dieser Entwurf seinen guten, parlamentarischen Weg gehen.

Marcel Reich-Ranicki schreibt in seiner Autobiografie „Mein Leben“ über den Tag des Sieges:

„Wir schauten uns schweigend an. … Nein, nicht Freude empfanden wir, sondern Trauer, nicht Glück, sondern Wut und Zorn. Ich blickte noch einmal nach oben und sah, dass eine Wolke aufgezogen war, dunkel und schwer. Ich spürte: Diese Wolke über uns, sie würde sich nie verziehen. Sie würde bleiben, unser Leben lang.“

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir bei allem Debattieren, Würdigen und Feiern nicht vergessen. - Vielen Dank.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Danke sehr, Kollege Miesterfeldt. - Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht der Abgeordnete Herr Striegel. Bitte sehr.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende der industriellen Tötung von Menschen in Vernichtungslagern verneigen wir uns vor denjenigen, die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wurden.

Wir ehren diejenigen, die aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Identität, ihrer politischen Überzeugung, der Tatsache, dass sie im Weltbild der Nazis keinen Platz hatten oder weil sie sich den Nationalsozialisten in den Weg stellten, umgebracht wurden. Wir trauern um jene, die Opfer des Krieges wurden.

Wir danken zum 8. Mai 2015, dem 70. Jahrestag der Befreiung, denjenigen, die unter großen Opfern das nationalsozialistische Deutschland militä

risch besiegt haben. Wir tun dies in Demut, als Deutsche, deren Vorfahren zum weit überwiegenden Teil Täter, Mitläufer und Zuschauende waren.

Wir sagen heute „Spacibo!“, „Thank you!“ und „Merci!“ an Sowjets, Amerikaner, Briten und Franzosen. Wir sagen Danke an diejenigen jüdischen Soldaten, die aus Deutschland fliehen mussten und mit den Alliierten gegen Deutschland kämpften. Wir sagen „Dziekuje!“ allen, die als polnische Exilarmee ihren Beitrag zur Niederlage Deutschlands leisteten.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wir bedanken uns bei allen, die diese militärische Niederlage ermöglicht haben und die dafür vielfach mit dem Leben bezahlten: bei Jugoslawen und Kanadiern, bei Soldaten und Partisanen.

Als Richard von Weizsäcker 1985 die Formulierung vom Tag der Befreiung für die Bundesrepublik prägte, war dies eine merkbare und notwendige Zäsur in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland. Weizsäcker verhalf auch aus dem Wissen um eigene Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus einer neuen Sicht auf das Kriegsende zur Bedeutung, einer Sichtweise, die Versöhnung möglich machte, ohne deutsche Taten weiter zu bemänteln. Wir als Deutsche mussten vom Nationalsozialismus befreit werden; aus eigener Kraft, aus eigenem Antrieb erfolgte dies nicht.

Aus dem Blick könnten bei einer oberflächlichen Sicht auf den Tag der Befreiung allerdings die Kontinuitäten des Nationalsozialismus geraten. Am 8. Mai 2015 war das nationalsozialistische Deutschland militärisch besiegt. Befreit von NSTätern und einem bis heute tödlichen Gedankengut war es nicht.

Friedrich Kellner, ein deutscher Beamter, genauer Beobachter und Tagebuchschreiber, hat dies treffend zum 8. Mai 1945 beschrieben - Zitat -: Adolf Hitler wäre niemals in der Lage gewesen, diesen verfluchten Krieg zu führen, wenn nicht eine überaus stattliche Anzahl von gewissenlosen Helfershelfern ihm zur Seite gestanden hätte. - Kellner hat diese Helfer als „Mitschuldige“ und „gemeine Schurken“ bezeichnet.

Denjenigen, die dem alten System stille Tränen nachweinten, die es wiederauferstehen lassen wollten, gedachte er die Bezeichnung „irrsinnige Lumpen“ zu. Leider gab es sie und sie gestalteten das Leben in der Bundesrepublik wie in der DDR mit. Denn eine Stunde Null, ab der plötzlich ein demokratisches Land vorhanden war, gab es weder in Ost- noch in Westdeutschland.

Die Wege zur Demokratie gestalteten sich in beiden Teilen Deutschlands unterschiedlich lang und schwierig - darauf ist heute hier schon verwiesen

worden -, und auf die Schwierigkeiten der Aufarbeitung unter den Bedingungen der Diktatur in der DDR hat Birke Bull hier auch hingewiesen.

Bis heute sind Kontinuitäten der NS-Herrschaft nicht immer aufgearbeitet. Nicht überall ist aus Verdrängen und Verleugnen ein offener selbstkritischer Umgang mit Geschichte und geschichtlicher Verantwortung geworden. Bis heute wirken NSVerstrickungen nach.

Wenn heute noch lebenden Tätern der Prozess gemacht werden muss, weil die Organe der Rechtspflege dazu in sieben Jahrzehnten nicht in der Lage waren, ist das ein miserables Zeugnis, das wir uns als Deutsche ausstellen müssen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Diese juristische Aufarbeitung hätte vor Jahrzehnten stattfinden können und stattfinden müssen. Dass es bis zum Beginn dieses Jahres brauchte, damit Menschen, die für Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten, dafür angemessen entschädigt werden und nicht in Armut leben müssen - Stichwort: die letzte Regelung der Ghettorenten -, ist beschämend.

Überlebende Kriegsgefangene aus der Sowjetunion, drei Millionen Angehörige der Sowjetarmee waren in sogenannten Russenlagern interniert, haben bis heute keine Entschädigung erhalten; hier wären wir gefordert.