Protocol of the Session on January 29, 2015

lichen Handicaps um ihre Rechte kämpfen, aber auch stets zum Dialog bereit sind. Vor allem sind sie aber kritisch und fordern ihre Teilhabe ein.

Herr Minister, Sie haben Ihre Regierungserklärung mehr in die Zukunft gerichtet. Ich möchte meinerseits den Blick auf die Gegenwart richten, mit der ich in meinen unterschiedlichen Funktionen täglich auf allen politischen Ebenen zu tun habe. Denn in dem Maße, wie im Zentrum der Politik nicht mehr die Fürsorge steht, obwohl es Zeiten in der deutschen Geschichte gegeben hat, in denen Fürsorge Leben und Seelen hätte retten können, begehren Menschen, dass ihnen die Teilhabe für alle auch zuteil wird.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um einmal jenseits aller Programme und Absichtserklärungen einige Punkte zu benennen, die ich an den Handlungsfeldern unseres Landesaktionsplanes festmachen möchte, die sich aber natürlich nicht zwangsläufig auf die 164 politischen Maßnahmen zur Teilhabe beziehen.

Zunächst zum Thema Barrierefreiheit. Ich möchte hierzu ein Erlebnis schildern, das ich beobachtet habe. Ein junger Mann im Rollstuhl wurde mit seinem Vater wegen einer ihn betreffenden Angelegenheit in ein Rathaus in unserem Land bestellt. Da es keinen Zugang für Rollstuhlfahrer an diesem Rathaus gibt, war der Vorschlag der dortigen Verwaltung, den jungen Mann draußen zu lassen. Es hieß, der Vater könne ja die Angelegenheit regeln. Es gab auch keinerlei Möglichkeit, ihn mit dem Rollstuhl die Treppen hinaufzutragen.

Herr Minister, zu einem weiteren Punkt. Ihre Vision von einer ISO-Norm für alle teile ich uneingeschränkt. Gerade gestern konnte ich bei einem Richtfest einer Wohnanlage in Wernigerode sehen, wie bestechend die Umsetzung ist, wenn allein durch die Barrierefreiheit niemand ausgegrenzt wird und sich alle Menschen gleichermaßen um eine Wohnung dort bewerben können. Ich denke, das ist in dem Sinne, wie Sie ihn beschrieben haben.

Zum Themenfeld Kommunikation. So nötig wie interkulturelle Kompetenz in der Begegnung mit ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ist, so nötig ist auch eine Kompetenz im Hinblick auf Menschen mit besonderen Behinderungen, zum Beispiel blinden, taubblinden oder gehörlosen Menschen. Wie bei anderen Sprachkulturen kann die Körpersprache anders sein, sodass es zu unnötigen Missverständnissen kommen kann. Dies kann insbesondere bei Kontakten mit Behörden oder mit der Polizei eine große Rolle spielen.

Zum Themenfeld Information und unabhängige Lebensführung. Gerade die unabhängige Lebensführung ist eines der Themen, über das wir im Landtag schon ausführlich diskutiert haben. Dazu zählt unter anderem die Forderung „ambulant vor statio

när“, die in ihrer Umsetzung natürlich finanzieller Ressourcen bedarf, die auch bereitgestellt werden müssen. Dazu zählt für mich auch das persönliche Budget, das sich am individuellen Bedarf orientieren soll.

Die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht wird von uns schon lange - ich sage es einmal so - ersehnt. Ich hoffe, dass auf der Bundesebene bald ein Bundesteilhabegesetz zukunftsfähige Lösungen und einen guten gesetzlichen Rahmen hervorbringt.

Wir als Parlament haben uns diesbezüglich bereits mehrfach über den Sozialminister unseres Landes an die Bundesebene gewandt.

Herr Minister, ich möchte ein kurzes Zitat aus Ihrer Regierungserklärung verlesen:

„Menschen mit körperlichen, geistigen oder mentalen Beeinträchtigungen sind nicht per se behindert. Behinderungen entstehen erst im Zusammenwirken der Beeinträchtigungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die die Menschen an gleichberechtigter Teilhabe in der Gesellschaft hindern.“

Diese Prämisse trifft natürlich in den allermeisten Fällen zu. Wir müssen uns aber auch den Menschen zuwenden, die aufgrund ihrer spezifischen Behinderung oder ihres hohen Grades an Behinderung nicht in der Lage sind, ausreichend für sich selbst einzustehen und ihre Teilhabe aktiv einzufordern.

In diesem Zusammenhang stellt sich zum Beispiel die Frage, welche Angebote wir alt gewordenen Menschen mit Behinderung im Hinblick auf ihre Wohnsituation im Alter machen können. Gerade die Menschen, die eben nicht für sich allein sorgen können bzw. ihre irgendwann einmal hochbetagten Eltern, die sich um die Zukunft ihrer Kinder sorgen, wenn sie selbst nicht mehr da sind, brauchen verlässliche Antworten und Regelungen. Dieses Thema haben wir im Parlament schon häufig aufgerufen.

Hierzu zählt auch eines meiner Lieblingsthemen, nämlich die Hort- und Ferienbetreuung von über 14-Jährigen, deren Eltern berufstätig sind und die nicht allein bleiben können, wie andere 14-jährige Kinder es können.

Hierzu zählt natürlich auch die Bereitstellung von Informationen für blinde oder hörgeschädigte Menschen, für Menschen ohne ausreichende Deutschkenntnisse oder für Analphabeten, damit sie ohne Scham und auf Augenhöhe mit anderen ihre Interessen wahrnehmen können.

Wer würde sich manchmal nicht selbst ein Formular in einfacher Sprache wünschen, zumal man bereits Hilfestellungen der Behörden beim Verstehen der Fragestellungen benötigt?

Ich komme auf das Handlungsfeld Bildung und lebenslanges Lernen zu sprechen. Orte der Bildung sollten immer auch Orte der Begegnung sein. Dort, wo Menschen miteinander und voneinander lernen, sind schnell Brücken geschlagen, die das Anderssein vergessen lassen. Wir können sie dabei jedoch nicht allein lassen. Wir sind dafür verantwortlich, dass das Brückenschlagen auch gelingen kann. Dazu gehört meiner Ansicht nach, dass wir Sorge tragen müssen für das Wohlergehen der Lernenden, indem wir dabei helfen, dass sie sich nicht ausgegrenzt fühlen und dass sie nicht ausgegrenzt werden.

Das Bewusstsein, dass der Prozess hin zur Inklusion nur gemeinsam mit den handelnden Personen, wie Eltern, Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern, sowie mit den sächlichen und personellen Rahmenbedingungen gelingen kann, scheint inzwischen auch bei uns gewachsen zu sein.

Bildung und Lernen sollen Freude machen. Es gibt viele Kindereinrichtungen und Schulen in unserem Land, die hierfür beispielgebend sind, die aber auch wissen, wie wichtig der ständige Austausch in multiprofessionellen Teams ist, sei es in Zusammenarbeit mit Logopäden oder Therapeuten, Sozialarbeitern oder speziell ausgebildeten Lehrern. Auch in diesem Bereich gibt es keine Weiterentwicklung zum Nulltarif.

Das Thema Beschulung für Kinder, deren Muttersprache nicht deutsch ist, beschäftigt uns heute Nachmittag noch.

Zum Themenfeld Arbeit und Beschäftigung. Hierzu zählt, Arbeit zu geben im Sinne von Mitarbeit ermöglichen, anstatt die Abgabe zu zahlen und dann nicht mehr darüber nachzudenken, auf welchem Weg Beschäftigung mit der richtigen Arbeitsplatzgestaltung gelingen kann.

Auch in diesem Handlungsfeld muss in den Köpfen der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber noch einiges passieren. Die Preise, die im letzten Jahr anlässlich der Festveranstaltung „20 Jahre Runder Tisch für Menschen mit Behinderungen“ vom Ministerpräsidenten vergeben wurden, bzw. vor allem die Betriebe, die sie erhalten haben, sollten ein Ansporn sein.

Zum Themenfeld Gesundheit, Rehabilitation und Pflege. In diesem Bereich besteht großer Handlungsbedarf, wie es Minister Bischoff bereits angesprochen hat. Ärztliche Versorgung und Gewinnung von Pflegepersonal stellen vor dem Hintergrund des demografischen Wandels schon jetzt große Probleme dar.

Im Sinne von Teilhabe müssen spezielle Angebote geschaffen werden, die Menschen im Alter nicht isolieren. Dieses gilt umso mehr für Menschen mit Behinderungen, die ganz spezifische Bedürfnisse haben. Gehörlose Menschen möchten mit ande

ren kommunizieren. Geistig behinderte Menschen möchten in ihrer gewohnten Umgebung bleiben.

Die Versorgung mit Hilfsmitteln, wie Rollstühlen oder Prothesen, ist häufig ein langer, nicht immer sofort erfolgreicher Prozess. Auch hierbei spielen Kosten eine Rolle.

Die Erreichbarkeit der Versorgung im ländlichen Raum wird uns zukünftig noch mehr als heute beschäftigen; dies wurde bereits angesprochen.

Zu dem Themenfeld Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben. Hierbei ist aus meiner Sicht in erster Linie die Politik selbst gefragt, Bürgerinnen und Bürger für ihre Arbeit zu interessieren und in ihre Arbeit einzubeziehen. In Stadträten oder Kreistagen die Entscheidungen zu begleiten führt vielleicht letztlich auch dazu, dass besser kontrolliert wird, ob die Forderungen, zum Beispiel die nach Barrierefreiheit, auch eingehalten werden.

Die Erstellung von kommunalen Aktionsplänen ist ebenfalls ein Mittel, um im Dialog mit Betroffenen eine Sensibilisierung für deren Situation und Bedürfnisse zu erreichen. Lokale Aktionsbündnisse binden viele gesellschaftliche Kräfte im Sinne von Vielfalt ein und ermöglichen direkte Mitsprache. Die betrifft alle Bereiche unserer Bevölkerung.

Auch zum Handlungsfeld Sport, Kultur und Tourismus wäre noch einiges zu sagen. Teilhabe für alle trifft im besten Falle auf alle drei Bereiche zu, wie am Beispiel der Begeisterung für die Special Olympics zu sehen ist. Aber in einigen Fällen ist auch Hingucken notwendig, sei es bei gewaltbereiten Fans oder bei extremistischen Auftritten.

Im Bereich der Teilhabe im Tourismus sind wir in Sachsen-Anhalt auf dem Weg. Auch der Landesbehindertenbeirat bringt sich intensiv und fachkompetent beispielsweise in die Vorbereitung des Luther-Jubiläums ein, damit unser Land ein positives Bild von sich in der Welt zeigt.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete! Trotz der mir zur Verfügung stehenden Zeit ist es mir nicht möglich, auf alle Aspekte einzugehen, zu denen ich mich gern geäußert hätte. Ich denke, dazu ist auch unsere politische Arbeit in den Ausschüssen bzw. in den Arbeitsgruppen der richtige Ort.

Das Thema der Regierungserklärung hat mir ein breites Spektrum zum Nachdenken eröffnet, das ich gern genutzt habe. Entscheidend ist jedoch, was letztlich in der Politik oder im eigenen Handeln umgesetzt wird. Das betrifft auch jeden Einzelnen von uns.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal die Perspektive wechseln: Gemessen an dem relativ kurzen Zeitraum im Vergleich zu den alten Bundesländern haben wir in Sachsen-Anhalt gewaltig aufgeholt, um tatsächliche Teilhabe zu ermöglichen.

Der vom Minister für Arbeit und Soziales in der dieser Woche vorgestellte Sozialbericht zeigt auf einer fundierten Datengrundlage auf, dass sich die soziale Lage der Bevölkerung Sachsen-Anhalts in den vergangenen Jahren unter der CDU-SPD-geführten Landesregierung verbessert hat.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD)

Gleiches gilt für die Lage von Menschen mit Behinderungen und deren aktive Teilhabe an politischen Prozessen. Das habe ich in meinem Redebeitrag mehrfach erwähnt. Ich denke, darauf können wir trotz aller Kritik auch einmal stolz sein.

Ich bin aber gleichzeitig der festen Überzeugung, dass die Umsetzung von Teilhabe für alle auch weiterhin großer Anstrengung bedarf und wir nicht nachlassen dürfen, die Herausforderungen anzunehmen und die Probleme zu benennen und zu lösen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns in diesem Bereich weiterhin große Schritte, die wir in eine gute Zukunft für Teilhabe für alle machen. - Danke.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD)

Danke schön, Kollegin Gorr. - Wir fahren fort. Als Nächste spricht für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abgeordnete Frau Lüddemann.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrter Herr Minister Bischoff, eigentlich müsste ich mich an dieser Stelle für die Wahlkampfrede, die Sie hier gehalten haben, bedanken, wenn ich es nicht deplatziert finden würde. Denn ich - das muss ich gestehen - gehöre zu denjenigen, die in der Tat von einer Regierungserklärung erwartet haben, Schwerpunkte des Sozialministeriums und eine Bestandsaufnahme des politischen Handelns der Landesregierung in diesem Feld zu hören.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Immerhin waren Sie so offen, gleich zu sagen, dass Sie das nicht tun wollen. Aber ich finde das an dieser Stelle nicht angemessen.

Ich werde auch nicht der Versuchung verfallen, Ihnen unsere grünen Konzepte nahezubringen, sondern ich werde in der wenigen mir zur Verfügung stehenden Zeit ebenfalls einen Aus- und Rundblick versuchen.

Meine Damen und Herren! Die sogenannte Regierungserklärung trägt den Titel „Teilhabe für alle“. Das klingt gut und, ich glaube, jeder in diesem

Saal würde das unterschreiben, auch wir GRÜNE selbstverständlich; denn Teilhabegerechtigkeit ist Teil unseres Gründungskonsens und Teil des Grundsatzprogramms meiner Partei.

Teilhabegerechtigkeit steht ganz im Zeichen von Menschen- und Grundrechten. Die Behindertenrechtskonvention ist angesprochen worden. Wir müssen ihr umfassend zur Geltung verhelfen.

Teilhabe ist ein Menschenrecht, ist voraussetzungslos zu erfüllen. Die Gesellschaft hat die Bedingungen dafür zu schaffen. Die Gesellschaft muss sich den Menschen anpassen, nicht umgekehrt.

Wir müssen dafür sorgen, dass jeder Mann, jede Frau ohne Schwierigkeiten durch alle Türen gehen kann, dass alle Türen jedem Menschen offenstehen. Es darf dafür keine Bedingungen geben. Es muss voraussetzungslos für jeden Menschen und jeden Bürger in diesem Land möglich sein.