Wir müssen dafür sorgen, dass jeder Mann, jede Frau ohne Schwierigkeiten durch alle Türen gehen kann, dass alle Türen jedem Menschen offenstehen. Es darf dafür keine Bedingungen geben. Es muss voraussetzungslos für jeden Menschen und jeden Bürger in diesem Land möglich sein.
Der Weg zu diesem Ziel ist lang. Das ist keine Frage. Wir müssen diesen Weg aber konsequent gehen. Ansonsten rückt das Ziel, das Sie beschrieben haben, Herr Minister Bischoff, in immer weitere Ferne.
Schauen wir uns an, was „alle“ im Sinne der Regierungserklärung heißt. Im grünen Sinne betrifft „alle“ auch Kinder und Jugendliche. Deren Teilhabe ist zum Beispiel auf der politischen Ebene in diesem Land keineswegs gewährleistet. Drei Stichworte: Drittelparität, Jugendgremien und Wahlalter.
Wenn ich lese - Sie haben den Sozialbericht angesprochen -, dass ein Viertel aller Kinder in ALG-IIHaushalten lebt, dass ein Drittel aller Kinder in diesem Land von Armut betroffen ist, dann kann man sich sehr leicht denken, dass auch deren Teilhabe nicht gewährleistet ist.
Das alles - das macht es so schwierig - sind Bereiche, in denen Sachsen-Anhalt, in denen diese Landesregierung, der Sie angehören, Herr Minister Bischoff, hätte tätig werden können. Ergo ist es aus Ihrer Sicht eine gute Entscheidung, nicht zu bilanzieren, aber ergo ist es auch schlecht für dieses Land.
„Alle“ im grünen Sinne schließt auch Migranten, Geflüchtete und Nicht-EU-Ausländer ein. Möchte man Teilhabe für alle, dann braucht es an dieser Stelle beispielsweise die Gesundheitskarte für Geflüchtete. Frau Kollegin Zoschke hat dazu ausgeführt. Der durchgehende Schulbesuch für alle Kinder muss gewährleistet werden. Es braucht frühzeitigen Zugang zu Sprachkursen, um nur einige
Beispiele zu nennen. Auch die dezentrale Unterbringung aller Flüchtlinge ist entscheidend für deren Teilhabe. Ein Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer ist eine konkrete Teilhabemöglichkeit, die wir in diesem Land dringend brauchen.
„Alle“ betrifft auch Seniorinnen, Pflegebedürftige und pflegende Angehörige. Deren Teilhabe leidet oft. Auch bei uns im Land wird die Mehrzahl der Pflegebedürftigen einzig von ihren Angehörigen gepflegt. Diese kräftezehrende Tätigkeit erschwert die sonstige Teilhabe massiv. Davon künden zahlreiche Studien. Auch die Zuwachsrate an stationären Plätzen in Sachsen-Anhalt ist bundesweit am höchsten. Auch hierbei ist Teilhabe nicht gewährleistet.
Die Abwanderung junger Menschen fördert ein Phänomen in Sachsen-Anhalt, auf das der aktuelle Psychiatriebericht dezidiert hinweist, nämlich dass alleinstehende Seniorinnen und Senioren immer weiter in die soziale Isolierung geraten, immer mehr von der Teilhabe für alle, die in der Regierungserklärung beschrieben wurde, abgehängt werden. Es braucht konkret inklusive Sozialräume. Wir brauchen lokale Verantwortungsgemeinschaften. Diese müssen aufgebaut und gefördert werden. Der Quartiersansatz muss nach ganz oben auf der politischen Agenda.
Nichts davon kann ich derzeit in der Politik der Landesregierung erkennen. Deswegen hat meine Fraktion in dieser Woche eine entsprechende Große Anfrage auf den Weg gebracht.
Ebenso der Bereich Menschen mit Behinderungen: Immer noch haben sich Betroffene und Träger den starren Leistungstypen anzupassen und nicht umgekehrt, wie es sein müsste. Teilhabe würde heißen, dass ein wirklich personenzentrierter Ansatz in der Eingliederungshilfe zum Tragen kommt. Teilhabe würde stattfinden, wenn die Betroffenen tatsächlich vollumfänglich in den Hilfeplanungsprozess einbezogen werden würden - kein Standard in diesem Land.
Teilhabe für alle hieße auch abzurücken von der Feststellung eines Leitsyndroms. Es ist Politik des vorvergangenen Jahrhunderts, in vermeintliche Behinderungsformen körperlich, geistig und seelisch zu trennen. Auch hierbei hat die Landesregierung nicht geliefert.
Sehr geehrte Damen und Herren! Wer eine Gesellschaft für alle will, der muss über die Punkte reden. Das kann ich Ihnen wirklich nicht vorwerfen, Herr Minister. Sie reden ständig über diese Punkte. Ich vermisse aber, dass man diese notwendigen Veränderungen in klare Konzepte einpasst, das ernsthaft will und etwas tut.
Eine Gesellschaft für die jungen männlichen deutschstämmigen Erwachsenen ist leicht. Die haben wir schon. Für alles andere brauchen wir Einsatz, Gestaltungswillen und Durchhaltevermögen.
Zu Ihrer dritten These, Herr Minister: Ja, es braucht neue Konzepte - keine Frage, aber die Kostenfrage gleich auszunehmen und zu sagen, na ja, wir brauchen nicht zwingend mehr Geld, ist nicht nur falsch, sondern auch unehrlich. Wir müssen offensiv sein. Teilhabe für alle gibt es nicht zum Nulltarif.
Zu guter Letzt: Wer über eine Gesellschaft für alle redet, der darf zum Grundeinkommen nicht schweigen, steht diese Idee doch für einen rechtlich verbrieften Anspruch auf ein soziokulturelles Existenzminimum. Wir müssen mindestens einen Dialog darüber anstoßen.
Ein ernsthafter Schritt hin zu einem sozialen Arbeitsmarkt anstelle weiterer visionärer Ankündigungen würde helfen. Auch das hätten Sie, Herr Minister Bischoff, in den vergangenen Jahren angehen können, mit der Betonung auf „hätten“ und „können“; denn mehr ist von der Regierungserklärung, glaube ich, nicht geblieben. - Vielen Dank, für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke schön, Frau Kollegin Lüddemann. - Als Nächste spricht für die Fraktion der SPD Frau Abgeordnete Grimm-Benne.
Wir dürfen weitere Gäste im Haus begrüßen. Herzlich willkommen Schülerinnen und Schüler der Walter-Gemm-Sekundarschule aus Halberstadt!
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Inklusion und Teilhabe - zwei Begriffe, die inzwischen in aller Munde sind, die aber auch Verwirrung stiften, die zum Teil überstrapaziert sind und Stirnrunzeln verursachen.
Der Begriff Inklusion entstand in den 70er-Jahren in den USA. Mitglieder der Behindertenbewegung forderten damals eine volle gesellschaftliche Teilhabe. Obwohl alle Lebensbereiche gemeint waren, hatten ihre Forderungen insbesondere Auswirkungen auf den Bildungsbereich. Auch wenn der Begriff der Inklusion aus der Behindertenbewegung kommt, ist es einseitig und falsch, ihn mit behindertengerecht gleichzusetzen.
Treffender als die Aktion Mensch kann man es nicht formulieren: Inklusion ist, wenn alle mitmachen dürfen, wenn keiner draußen bleibt und Unterschiedlichkeit zum Ziel wird.
Wie der Herr Minister vorhin bereits äußerte, ist eine inklusive Gesellschaft eine Gesellschaft für Langzeitarbeitslose, für Menschen, die von
Hartz IV leben müssen, für Aufstocker und Spitzenverdiener, für Arme und Reiche, für Männer und Frauen, für Junge und Alte, für Dicke und Dünne, für Große und Kleine, für Schwule und Lesben, für Talentierte und Förderbedürftige, für Flüchtlinge und Einheimische.
Insbesondere im Hinblick auf das letzte Paar zeigt sich die politische Brisanz unserer Debatte. Die Pegida-Demonstrationen oder, um in unserem Bundesland zu bleiben, die Magida-Demonstrationen beschäftigen uns alle.
Ich fand, Herbert Grönemeyer hat auf der Demonstration in Dresden am vergangenen Montag den Kern der Auseinandersetzung treffend beschrieben. Er erklärte, dass er volles Verständnis dafür habe, dass Bürger demonstrierten, wenn sie der Ansicht seien, nicht gerecht behandelt zu werden, nicht akzeptieren könne er aber, dass dafür pauschal Menschen mit einer anderen Religionszugehörigkeit verantwortlich gemacht würden.
Im Gegensatz zu denjenigen, die ihnen laut oder heimlich „Ausländer raus!“ und „Deutschland den Deutschen!“ zurufen, müssen wir ihnen mit Argumenten, am besten aber mit gelungenen und erfolgreichen Beispielen der Teilhabe begegnen.
Zur Teilhabe gehört auch, dass Strukturen hinterfragt, verbessert und neu entwickelt werden, um Teilhabe zu ermöglichen. Ein wichtiger Baustein der Teilhabe ist die Partizipation. Es gibt im Land eine große Vielfalt von Selbsthilfeorganisationen und Interessenvertretungen. Den im Landesbehindertengleichstellungsgesetz festgeschriebenen
Landesbehindertenbeirat und den Runden Tisch der Menschen mit Behinderungen will ich nur exemplarisch anführen. Das Prinzip „Nichts über uns ohne uns“ muss weiter gestärkt, unterstützt und ausgebaut werden.
Zusammen mit den Menschen mit Behinderungen müssen wir Nachteile und Barrieren beseitigen. Wir jedenfalls haben mit der Gründung der Arbeitsgemeinschaft „Selbst aktiv“ in der SPD deutlich gemacht, dass die Mitarbeit von Parteimitgliedern und Unterstützern mit Behinderung in der
SPD willkommen ist und dass Inklusion und Partizipation wichtige Werte und Ziele sozialdemokratischer Politik sind.
„Selbst aktiv“ gibt Menschen mit Behinderung Gesicht und Stimme und „Selbst aktiv“ entscheidet mit, wenn es um die Verwirklichung umfassender Teilhabe am politischen Leben für alle geht.
Lassen Sie mich auf wesentliche Elemente eines umfassenden Paradigmenwechsels von der reinen Fürsorge- zur Teilhabepolitik eingehen. Gemeinsam leben, gemeinsam leben von Anfang an. Bildung ist eine wesentliche Grundlage für eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Lebensführung.
In der zu Ende gehenden Legislaturperiode haben wir mit dem neuen Kinderförderungsgesetz einen wesentlichen Beitrag im Bereich der frühkindlichen Bildung und Erziehung geleistet. Ganztagsbetreuung für alle ist dabei eine der grundlegenden Voraussetzungen für eine gleichberechtigte Teilhabe wieder aller Kinder.
Die nächste Stufe der Lebensgestaltung betrifft den Schulbereich. Hierfür bestehen noch Rahmenbedingungen und Vorgaben, die den Weg zur Teilhabe und Inklusion schwierig und für die Beteiligten ermüdend gestalten. Unsere Lehrerinnen und Lehrer führen mangelnde Unterstützung, Überforderung und fehlendes Fachpersonal an. Deshalb müssen wir uns in diesem Bereich fragen, wie lange wir noch mit immer knapper werdenden Ressourcen zwei Parallelsysteme aufrechterhalten wollen.
(Herr Kurze, CDU: Nein, wir müssen uns fragen, ob wir in dem Galopp der Inklusion weiter machen wollen!)
Ist es zeitgemäß und notwendig, wenn wir neben den Ansätzen des gemeinsamen Lernens an einem vollständig und umfassend ausgebauten Förderschulsystem festhalten, das Kinder aussondert und von der normalen Lebenswelt trennt?