Protocol of the Session on January 29, 2015

Allerdings müssen wir alle genau hinschauen; denn es gibt auch Mogelpackungen, die dann Teilhabe zwar zeitlich ermöglichen, aber finanziell einschränken. Der Mindestlohn wird gezahlt, aber die Zahl der vertraglich fixierten Arbeitsstunden pro Beschäftigten wird reduziert. Das kann es wohl auch nicht sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Beispiel Teilhabe und Langzeitarbeitslosigkeit. Was uns unterscheidet, Herr Minister, ist die Haltung zum Umgang mit der Langzeitarbeitslosigkeit. In der SPD wird man derzeit nicht müde zu behaupten, Hartz IV hätte den Abbau von millionenfacher Arbeitslosigkeit bewirkt. - Dazu will ich gar nichts weiter sagen; das wird meine Fraktionskollegin Sabine Dirlich morgen in der Aktuellen Debatte noch ausführlich tun.

Ich will aber darauf eingehen, dass wir in den letzten zehn Jahren zwar nominal einen leichten Zuwachs bei der Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse feststellen können, aber eben auch einen ganz erheblichen Zuwachs bei den prekären Beschäftigungsformen verzeichnen müssen.

Das durchschnittliche Jahresbruttoeinkommen eines Arbeitnehmers bzw. Arbeitnehmerin lag im Jahr 2012 in Sachsen-Anhalt bei 24 407 €. Damit sind wir bundesweit knapp vor MecklenburgVorpommern auf dem zweitschlechtesten Platz.

Außerdem ist die Senkung der Arbeitslosigkeit wahrlich kein Verdienst neu geschaffener Arbeitsplätze. Seit dem Jahr 2002 hat Sachsen-Anhalt 300 000 Einwohner verloren. Das Land weist bis heute die höchste Abwanderungsrate aller ostdeutschen Flächenländer auf. - Auch das ließe sich als ein Indikator einer mangelhaften Teilhabe werten.

(Herr Borgwardt, CDU: Woher haben Sie diese Statistik?)

Beispiel Teilhabe und Arbeit. Herr Minister Bischoff, vielleicht sollten Sie in diesem Zusammenhang uns darin unterstützen, Ihre Parteigenossin und Ministerkollegin Andrea Nahles mit ihrem Gesetzentwurf zur Tarifeinheit zurückzupfeifen. Es handelt sich hierbei um die Beschneidung von Grundrechten und damit ebenfalls um einen Abbau von Teilhabe.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Werte Kolleginnen und Kollegen! Beispiel Teilhabe von Kindern und Jugendlichen. Mit Stand vom September 2014 waren in Sachsen-Anhalt insgesamt 65 455 Kinder unter 15 Jahren von Hartz-IVLeistungen abhängig. Das ist eine Quote von 25,86 % aller unter 15-Jährigen.

Sie können sich auch die Vergleichsdaten ansehen. Sie zeigen, dass nach einem Zwischenhoch im Grunde genommen heute nur unwesentlich weniger Kinder von Hartz IV betroffen sind als zur Einführung im Jahr 2005. Man kann also von struktureller Kinderarmut sprechen, da relativ konstant ein Drittel bis ein Viertel der Kinder betroffen ist.

Um zu verdeutlichen, wie sich diese Armut finanzielle konkret auswirkt, hilft ein Blick auf die gerade erhöhten Regelsätze. Der eigentliche Grundregelsatz liegt seit Anfang Januar bei 399 €. Für Kinder zwischen 14 und 17 Jahren beträgt er 302 €, für Kinder zwischen sechs und 14 Jahren 267 € und für Kinder unter sechs Jahren 234 €.

Mit Verweis auf diese Regelsätze für Kinder möchte ich Sie fragen, ob Sie wirklich glauben, Herr Minister, dass der Begriff der Teilhabe hier zutreffend ist und, wenn ja, wie Sie diesen Begriff definieren.

Wer Kleinkinder hat, der weiß genau, dass selbst die billigste Sorte Windeln und passende Schuhe an wachsenden Kinderfüßen Kosten verursachen. Inklusive aller notwendigen Nahrungs- und Körperpflegemittel kommt man meist auf eine höhere Summe, sodass die Eltern aus dem eigenen Regelsatz etwas abzwacken müssen.

Teilhabe an gesellschaftlichen Ereignissen wie Kultur, Sport oder Reisen ist, wenn überhaupt, nur in einem äußerst begrenzten Rahmen möglich. Auch das berühmte Bildungs- und Teilhabepaket löst dieses Problem mitnichten.

Aber auch die Familien, deren Einkommen ausreichend ist, werden bei uns strukturell benachteiligt. Lassen Sie mich als ein Beispiel nur die Möglichkeiten der Weiterbildung benennen.

Das Freistellungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt ermöglicht zwar eine Freistellung von der Arbeit, alleinerziehende Mütter und Väter können jedoch oftmals trotzdem nicht davon profitieren, weil es keine Möglichkeiten gibt, die Kinderbetreuung

abzusichern. Hierzu wäre eine weitergehende Regelung notwendig.

Beispiel Integration und Teilhabe von Flüchtlingen und Asylsuchenden. Das tragen wir alles mit. Allerdings müssen sich die Worte an Taten messen lassen. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die Asylgesetzgebung genau den von Ihnen genannten Prämissen folgt.

(Zustimmung bei der LINKEN und von Herrn Striegel, GRÜNE)

Der Zugang zu Integrationskursen darf niemandem verwehrt werden. Die räumlichen Beschränkungen gehören abgeschafft. Die Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten müssen sich ändern. Die Wohnmöglichkeiten müssen verbessert werden. Wer Teilhabe für alle verspricht, der muss dafür auch die Weichen stellen.

Die Landesregierung könnte viel stärker für eine Neuregelung auf Bundesebene kämpfen; denn nicht Regierungserklärungen gestalten die Lebensrealität, sondern die ganz konkreten politischen Maßnahmen und Entscheidungen.

(Zustimmung bei der LINKEN und von Herrn Striegel, GRÜNE)

Dazu gibt es auch eine Reihe von Vorschlägen meiner Fraktion, die auf der Landesebene umgesetzt werden könnten.

Die Gesundheitsversorgung muss als eine Mindestanforderung der Teilhabe begriffen werden. Eine Gesundheitskarte für Asylsuchende und Flüchtlinge würde den Menschen das Leben erheblich einfacher machen und wäre ein wesentlicher Schritt aus der Exklusion.

Sie wissen - wir haben das Thema bereits im Dezember 2014 im Landtag auf der Tagesordnung gehabt -, dass es andernorts bereits entsprechende Maßnahmen gibt. Die Gesundheitskarte nach dem Bremer Modell wäre ein konkret machbarer Schritt und ein klares Statement für Willkommenskultur und Teilhabe.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Langfristig müssen wir das System der Zwangsverteilung überwinden. Wer sich sein Wohn- und Lebensumfeld selbst wählen kann, der lebt sehr viel selbstbestimmter. Das ist die zentrale Voraussetzung für Teilhabe und erhöht die Chancen für eine gelungene Integration.

Ein erster Schritt könnte hierbei die Berücksichtigung der Wünsche der Asylsuchenden bei der Verteilung auf die Kreise im Land sein. Manche sagen, dass damit Ungleichgewichte und Ungerechtigkeiten entstehen.

(Herr Borgwardt, CDU: Das ist so!)

Diesem Argument müssen wir entgegenhalten, dass finanzielle Ausgleichssysteme auch in anderen Bereichen gut geeignet sind und ihre Funktion erfüllen. Man schaue sich hierzu auch die bisherige Praxis im Umgang mit den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen an.

Auch die dezentrale Unterbringung in Wohnungen wäre ein wesentlicher Schritt hin zu Normalität und zur Selbstverständlichkeit von kultureller Vielfalt.

Die dezentrale Unterbringung ermöglicht oftmals überhaupt erst die Teilhabe am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben, weil nur so eine nicht von Ausgrenzung und Einschränkung geprägte Wohnsituation entsteht. Das gilt zuerst für die Betroffenen, aber auch für die Aufnahmegesellschaft.

Außerdem sind wir der Auffassung: Derjenige, der hier lebt, muss auch entscheiden dürfen. Wir brauchen daher ein kommunales Wahlrecht auch für Nicht-EU-Bürger.

(Beifall bei der LINKEN)

Werte Kolleginnen und Kollegen! Zu dem Thema „Teilhabe für alle“ ließen sich noch viele Beispiele benennen, bei denen es Probleme gibt. Ausgespart habe ich in meinem Beitrag das Beispiel Seniorenpolitik. Hierbei wären Fragen zu nennen, wie Altersarmut zu bekämpfen ist und wie Beteiligungsmöglichkeiten für alte Menschen gestärkt werden können.

Ich möchte mit diesen Beispielen noch einmal die Dimension dieser gesellschaftlichen Aufgabe deutlich machen, die hinter dem von Ihnen gewählten Thema steckt. Gemessen daran sind Sie uns konkrete Handlungsvorschläge oder die Ankündigung von Maßnahmen in Ihrer Regierungserklärung schuldig geblieben.

Unserer Meinung nach reicht es nicht aus zu sagen, dass „Teilhabe für alle“ auch unter den Bedingungen des demografischen Wandels möglich ist. Dafür bedarf es konkreter kluger Konzepte, was Sie ja auch betonen. Es gehört aber auch dazu, dass man die strukturellen Probleme, die diesem Konzept entgegenstehen, offen und ehrlich benennt.

Zu diesen Problemen gehört unter Umständen auch das Fehlen finanzieller Mittel. Die Möglichkeiten des von uns beschlossenen Haushaltsplans kennen Sie alle.

Werden Sie, Herr Minister, nicht konkreter, verharren Sie unter der Überschrift „Teilhabe“ nur bei einer - zwar in Hochglanz gedruckten - Absichtserklärung. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Danke, Frau Kollegin Zoschke. - Wir fahren fort in der Aussprache. Als nächster Rednerin erteile ich für die Fraktion der CDU der Abgeordneten Frau Gorr das Wort.

Zuvor begrüßen wir Gäste auf der Besuchertribüne. Es sind Schülerinnen und Schüler der Europaschule Carl-von-Clausewitz in Burg. Willkommen im Hohen Hause!

(Beifall im ganzen Hause)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Bischoff, Ihre heutige Regierungserklärung trägt den Titel „Teilhabe für alle“. Sie benennen die großen Themen Demografie und Inklusion. Sie spannen den Bogen von der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Land Sachsen-Anhalt bis hin zu dem Programm „Vielfalt tut gut“.

Damit haben Sie sich ein hohes Ziel gesetzt; denn es geht nicht nur um sozialpolitische Schwerpunkte im Bereich Ihres Ministeriums, sondern auch um die Verantwortung der Landesregierung insgesamt.

Die Federführung für die Entwicklung des Landesaktionsplanes zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wurde Ihnen vom Parlament übertragen. Damit haben Sie Querschnitts- und Koordinierungsverantwortung für alle Themenbereiche übernommen, die in einem intensiven Diskussionsprozess mit vielen Partnern als gemeinsame Zielstellung erarbeitet worden sind.

Dazu zählen unter anderem die von Ihnen benannten Handlungsfelder Barrierefreiheit, Kommunikation, Information und unabhängige Lebensführung, Bildung und lebenslanges Lernen, Arbeit und Beschäftigung, Gesundheit, Rehabilitation und Pflege, Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben, Sport, Kultur und Tourismus.

Diese Handlungsfelder berühren alle Ressorts und damit auch uns Parlamentarier in unseren jeweiligen Arbeitsgruppen und Ausschüssen. Wie auch Sie werden wir daher von den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes in die Pflicht genommen, die gesteckten Ziele umzusetzen. Die Umsetzung dieser Ziele, meine Damen und Herren, ist allerdings leider nicht zum Nulltarif zu haben. Mit diesen niedergeschriebenen Zielen dürfen wir auch keine Erwartungen wecken, die wir letztlich nicht, nur sehr schwer oder nur langfristig erfüllen können.

Als ständiger Gast des Runden Tisches für Menschen mit Behinderungen kann ich davon berichten, dass die Menschen, die sich dort ehrenamtlich engagieren, trotz ihrer zum Teil erheb

lichen Handicaps um ihre Rechte kämpfen, aber auch stets zum Dialog bereit sind. Vor allem sind sie aber kritisch und fordern ihre Teilhabe ein.