Protocol of the Session on October 17, 2014

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass Menschen in ungeahnter und diktaturbrechender Weise im Jahr 1989 auf die Straße gegangen sind, war das Ergebnis von sehr viel Mut. Aber es war kein spontanes Ereignis, sondern ein Ereignis, das Ergebnis jahrelangen Vorlaufs und sehr starker Motive war.

Ich war zwar - oder vielleicht auch zum Glück - in den Tagen der Wende, der friedlichen Revolution erst 21 Jahre alt, kann mich aber noch sehr gut an die Repressalien erinnern, die die Jungen in unserer katholischen Gemeinde auszustehen hatten, wenn sie den Wehrdienst verweigern wollten.

Wie wurde mit uns und unseren Familien umgesprungen, wenn wir nur Fragen zum Wehrkundeunterricht hatten? Was ist meinem Vater widerfahren, der nicht in die SED eintreten und sich nicht von der kirchlichen Arbeitsstelle, geschweige denn von der Westverwandtschaft meiner Mutter distanzieren wollte?

Wenn man täglich erlebt hat, wie Kinder aus dem Husten nicht mehr herauskamen, wie sie von Erstickungsanfällen gebeutelt wurden, die nur durch Spritzen wieder aufgelöst werden konnten, und allen hinter vorgehaltener Hand klar war, dass die extreme Luftverschmutzung in der DDR dafür der Grund war, aber allein das Thematisieren dieses Faktes schon Staatsgeheimnisverrat war - je

der, der ein denkender und verantwortungsvoller Mensch war, musste widerständig werden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)

So hat die DDR ihren eigenen Widerstand produziert. Selbständiges Denken und Verantwortungsbewusstsein, später dann Verantwortungsübernahme wuchsen zunächst unter dem Dach der Kirchen, in den 80er-Jahren dann auch außerhalb.

Die friedliche Revolution ist dabei für mich Höhepunkt und für viele auch Endpunkt eines Weges des Sprechenlernens, des Argumentierenlernens, des Faktensammelns und der Erkenntnis; denn man musste zur Kenntnis nehmen, dass der Druck so groß war, dass es tatsächlich - ich mag das Wort ansonsten nicht - alternativlos war, dass diese DDR krachen gehen musste.

(Zustimmung bei den GRÜNEN, bei der LIN- KEN und bei der SPD)

Denn immer mehr Menschen wollten sich selbst ein Bild von der Welt machen, wollten ihre Haare so lang tragen, wie sie wollten. Immer mehr Menschen wollten entscheiden, welche Bücher sie lesen, und diese frei interpretieren können, wollten reisen, wohin und wann immer sie wollten, wollten eine Möglichkeit zum Widerspruch haben, eine Rechtsprechung, die diesen Namen verdient, und Bildungschancen für sich und ihre Kinder.

Was mir aber besonders wichtig ist: Die friedliche Revolution, die die Ursache war und den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung überhaupt erst möglich gemacht hat, hatte drei wesentliche Bestandteile: Information, Aktivierung und Reformation.

(Zustimmung von Herrn Scheurell, CDU)

Es ging darum, dass Umweltdaten offengelegt werden, dass es keine Zensur mehr geben sollte und freie Meinungsäußerung möglich war. Daran sollten sich so viele Menschen wie möglich beteiligen, deswegen Aktivierung.

Jeder, der damals, im Jahr 1989, dabei war, hat sicherlich noch die Rufe im Ohr: „Reiht euch ein!“, „Macht mit!“, „Zusammen sind wir stark!“, „20 können ausgewiesen werden, aber nicht ein ganzes Volk!“.

Zudem ging es eindeutig um Reformation. Es ging darum, die demokratische Erneuerung unserer Gesellschaft - in der DDR damals noch - voranzutreiben. „Für ein freies Land mit freien Menschen!“, „Freie Wahlen!“ - das waren die Slogans.

„Wir bleiben hier!“ - darin kann ich der Kollegin Budde nur zustimmen: das war in der Tat der Ruf, der uns in Leipzig, Dessau, Magdeburg oder wo auch immer auf die Straße getrieben hat. Wir wollten das Land, in dem wir geboren wurden, in dem

wir lebten, verändern. Wir wollten nicht weggehen, wir wollten hier eine andere Gesellschaft.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Widerständigkeit hatte dabei sehr viele und zum Ende immer mehr Ausprägungen: Frauen für den Frieden, Friedenskreis, Dritte-Welt-Gruppen, Bürgerrechtsgruppen, Umweltgruppen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Ich finde, wir haben hier in Sachsen-Anhalt ein Erbe, auf das wir besonders stolz sein können. Hier wurden Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet, hier in Halle wurde die Gruppe „Frieden 1983“ gegründet, der wir es zu verdanken haben, dass es keine weiteren Atomkraftwerke auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gibt.

Es gab unzählige Kulturbundgruppen, die vorgeblich beispielsweise Orchideenwiesen schützen wollten, aber tatsächlich unter dem Einsatz ihrer eigenen Unversehrtheit Wasser- und Bodenproben in den Westteil Deutschlands schmuggelten. Dem Mut und der Vorarbeit dieser zahlreichen Umweltaktivisten und Aktivisten verdanken wir eines der größten Geschenke der sogenannten Wendezeit.

Ich habe es in dieser Woche noch einmal nachgelesen. Ein Dankeschön geht in diesem Zusammenhang an die „Süddeutsche“, die dies in dieser Woche in einem Interview mit Professor Succow noch einmal thematisiert hat.

Es war der letzte Beschluss der DDR-Regierung, der 4,5 % des Staatsgebiets der ehemaligen DDR unter Naturschutz stellte, das daraus erwachsene Naturparkprogramm ist vorbildhaft und wurde auch im Westen Deutschlands kopiert. Wir haben dadurch eine europaweit einmalige Landschaft, ein Paradies an Artenvielfalt, ein Segen für die Menschen und für den Tourismus.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Wahrheit und zum Nachdenken über 25 Jahre friedliche Revolution gehört für mich aber auch das zweifache Wunder von Leipzig: auf der einen Seite, dass tatsächlich so viele Menschen - darüber, ob es 70 000 oder 100 000 waren, streitet sich die Geschichtsschreibung noch - auf die Straße gegangen sind, auf der anderen Seite aber, dass es Stasi-Leute gab, die nicht geschossen haben.

Zur Wahrheit gehört auch, dass sich alle, die sich über die Stasi-Methoden und den Überwachungsstaat aufregen, heute gegen die Überwachungsmethoden der NSA und anderer Geheimdienste aufbegehren müssen.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der LINKEN und bei der SPD)

Zur Wahrheit gehört auch, dass wir das Naturgeschenk oft nicht in der gebotenen Weise würdigen. Wir müssen mehr tun, damit freie Wahlen

nicht noch mehr an Attraktivität verlieren. Wir müssen uns daran erinnern, warum wir damals auf die Straße gegangen sind und was dies heute, 25 Jahre danach, insbesondere für die nachwachsende Generation, noch für eine Bedeutung hat. Immer und überall sind alle Demokratinnen und Demokraten gefordert, aufzustehen, wenn die Demokratie in Gefahr ist. Denn insbesondere in Deutschland haben wir gelernt, dass es immer eine fragile Geschichte ist.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung von Frau Budde, SPD, und von Frau Grimm- Benne, SPD)

All diejenigen, die das Erbe der friedlichen Revolution für sich reklamieren, müssen sich diesen Herausforderungen stellen. Die Themen der friedlichen Revolution sind aktueller denn je.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der SPD und bei der LINKEN)

Meine größte persönliche Lehre aus dieser Zeit ist, dass Verantwortungsübernahme für jeden möglich ist. Niemand ist den Verhältnissen einfach nur ausgeliefert, jeder kann etwas tun. Das ist etwas, was ich gern der nachwachsenden Generation mitgebe, und diesen Geist möchte ich in diesem Hohen Hause viel häufiger spüren. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der SPD und bei der LINKEN)

Danke schön, Kollegin Lüddemann. - Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU der Fraktionsvorsitzende Schröder.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Es war die erste unblutige Revolution in der Geschichte.“, so können es die Schülerinnen und Schüler heute in ihren Geschichtsbüchern über den Herbst 1989 lesen. Sie erfahren eine Menge, beispielsweise von der Massenflucht über Ungarn, von den Protesten gegen die manipulierten Kommunalwahlen, von den Botschaftsbesetzungen in Prag und Warschau, von Gründungsaufrufen oppositioneller Gruppen, die sich „Neues Forum“, „Demokratischer Aufbruch“ oder „Demokratie jetzt“ nannten. Sie lesen von den Montagsdemos, getrieben von dem Wunsch nach Freiheit und Demokratie.

Ich persönlich habe mich oft selbst gefragt, wann mir bewusst geworden ist, dass dies eine historische Stunde ist. Den von vier Mitgliedern der OstCDU verschickten Brief aus Weimar vom 10. September 1989 kannte ich erst Jahre später. Ich habe heute den Eindruck, manche wollen ihn bis heute nicht kennen.

(Beifall bei der CDU)

Heute gilt er als eines der Schlüsseldokumente für die Forderung nach Reformen und für den Appell zur Gewaltfreiheit und gegen eine, wie es damals hieß, „chinesische Lösung“. Wo war ich damals? - Ich selbst war parteilos, 20 Jahre alt und trug den Uniformrock der Nationalen Volksarmee. Zu denen, die im Nachhinein schon immer alles gewusst haben wollten, gehörte ich nicht.

Ich stand eingeschüchtert - das Schicksal wollte es so - mit Gewandhauskarten in der Hand am 9. Oktober 1989 auf dem Augustusplatz in Leipzig. Das erste Mal sah ich die Menschenmassen und ich hörte, was sie riefen. Selbst beim späteren Versprecher eines Politbüromitglieds bei der Verkündung neuer Reiseregelungen fiel ich am Fernseher noch auf das bürokratische Ostdeutsch herein.

Spätestens bei den ersten Wahnsinnsrufen auf der Bornholmer Brücke und dem plötzlichen Verkehrschaos in Berlin wurde dann auch mir endlich klar, dass gerade Geschichte geschrieben wird. Meine erste innerdeutsche Trabifahrt über die Grenze, nämlich von Sangerhausen nach Hildesheim, mit einem guten Freund werde ich nie vergessen. Ich selbst war kein Mauerspecht. An der innerdeutschen Grenze kam man nicht so weit. Wenn man damals mit dem Zug von Sangerhausen nach Nordhausen fuhr, dann kam bereits die Ausweiskontrolle dazwischen. Aber heute gibt es nicht nur in Hötensleben Möglichkeiten. Ich habe mir damals von dort dieses verzinkte Stück Zaun mitgenommen.

(Herr Schröder, CDU, hält ein Stück Zaun hoch)

Es sollte lange halten. Weiter kam man an dieser Stelle nicht. Ich habe es immer noch, um an diese Zeit zu denken.

„Wir sind das Volk“, dichtete Ferdinand Freiligrath 1848 in den Tagen der damaligen Deutschen Revolution. „Wir sind ein Volk“, heißt es seit dem 3. Oktober 1990. Dazwischen liegen anderthalb Jahrhunderte deutscher Geschichte im Ringen um Einigkeit und Recht und Freiheit. Wir Deutschen hatten unsere Geschichte nie für uns allein. Von mehr Nachbarn als jedes andere Land in Europa umgeben, waren die Deutschen immer auch von der europäischen Entwicklung direkt betroffen.

So hat auch der glückliche Moment des Falls der Mauer eine europäische Dimension. Das sollte heute nicht vergessen werden. Ohne die Überwindung der Spaltung Europas wäre die deutsche Einheit nicht möglich gewesen. Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit unseres Landes war umgekehrt die Voraussetzung für das Zusammenwachsen Europas in einer Europäischen Union.

Heute gibt es keine vernünftige Alternative zu Europa, wenn es durchaus auch Alternativen zu dem Europa gibt, wie wir es gegenwärtig kennen.

Interessanterweise war den Menschen in der DDR der Zusammenhang zwischen dem Volksaufstand im Jahr 1953, den späteren Aufständen in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen und dem Fall der Mauer im Jahr 1989 kaum bewusst. Dass dieser Zusammenhang aber besteht, belegt die unfreiwillig komische Frage des damaligen Staatssicherheitsministers Erich Mielke, der im August 1989 fragte: „Bricht morgen der 17. Juni aus?“ Der 17. Juni ist im Jahr 1989 nicht ausgebrochen. Die Panzer blieben in den Kasernen. Im Sommer und Herbst 1989 wurde aber vollendet, was im Jahr 1953 mit dem Ruf nach Freiheit begann.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Frau Budde, SPD)

1989, das bedeutet auch, sich von der Entmündigung mit Kerzen und Gebeten zu befreien und die Dinge selbst in die Hand nehmen zu wollen. Die ersten Volkskammerwahlen im März 1990 hatten mit mehr als 93 % bis heute die höchste Wahlbeteiligung in der Geschichte deutscher Wahlen.

Frau Lüddemann, ich gebe Ihnen Recht, wir müssen immer wieder daran erinnern, gerade wenn man sich die Wahlbeteiligungen heute anschaut, warum wir damals so gedacht haben und auf die Straße gegangen sind.

Der 18. März war kein Geschenk, keine himmlische Fügung, sondern ein hart errungenes Ergebnis der friedlichen Revolution.

25 Jahre nach diesem Datum und 24 Jahre nach der Wiedervereinigung kann man auch über die gemachten Fehler reden. Man kann bedauern, dass die Wiedervereinigung keine Korrekturen von schon lange anhaltenden Fehlentwicklungen im Westen bewirkt hat, dass bis heute keinen einzigen Dax-Konzern gibt, der seinen Hauptsitz im Osten Deutschlands hat, dass wir immer noch ein geringeres durchschnittliches Einkommen haben und die Abwanderung dramatisch war. All das und vieles mehr kann man beklagen. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, nach Abwägung aller Umstände kann man doch sagen, die deutsche Einheit ist zu einer Erfolgsgeschichte geworden. Allen - ich betone: allen -, die daran mitgewirkt haben, gilt bis heute meine tiefe Dankbarkeit.