Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 74. Sitzung des Landtags von Sachsen-Anhalt der sechsten Wahlperiode.
Dem einen oder anderen wird auf dem Weg ins Haus ein übergroßes Huhn begegnet sein. Ich hoffe, es ist nicht aus gentechnischen Gründen so groß. Bei diesem Wetter hätte es eher eine Ente sein müssen - so nass, wie es draußen ist.
Bevor wir in die Tagesordnung einsteigen, möchte ich um Ihre Zustimmung für eine Veränderung der Tagesordnung werben. Mir wurde von den Fraktionen signalisiert, dass der Tagesordnungspunkt 19 vor der Mittagspause behandelt werden sollte, sofern dem niemand widerspricht.
Ich habe einmal reihum gefragt und keinen Widerspruch dagegen feststellen können, den Tagesordnungspunkt 19 im Anschluss an die Aktuelle Debatte zu behandeln. - Ich stelle auch jetzt keinen Widerspruch fest. Dann machen wir das so. Nach der Aktuellen Debatte wird der Tagesordnungspunkt 19 und danach der Tagesordnungspunkt 3 aufgerufen. Damit ist die heutige Tagesordnung in der veränderten Fassung festgelegt worden.
Die Sicherung der gesetzlich garantierten Mitbestimmung und der Arbeit der Betriebsräte in Sachsen-Anhalt
Die Redezeit beträgt zehn Minuten je Fraktion. Der Landesregierung steht ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten zur Verfügung. Es wurde folgende Reihenfolge vereinbart: DIE LINKE, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD. Zunächst hat die Antragstellerin das Wort. Für die Fraktion DIE LINKE spricht Herr Abgeordneter Dr. Thiel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht zum ersten Mal beschäftigt sich der Landtag mit dem Thema Mitbestimmung von Beschäftigten in den Unternehmen und Einrichtungen unseres Landes. Erst im März 2014 fand eine Aktuelle Debatte zu diesem Thema mit Blick auf die bevorstehenden Betriebsratswahlen statt. Die Überschrift lautete: Betriebsratswahlen in Sachsen-Anhalt als Chance zur Stärkung der Demokratie in den Unternehmen nutzen.
Die Arbeitnehmerinnen und die Gewerkschaften, die diese Debatten verfolgen, fragen sich, wie ernst es die politisch Verantwortlichen eigentlich meinen. Das Hohe Haus beschäftigt sich mit Betriebsräten und Arbeitnehmerrechten oftmals erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die Beispiele sind bekannt: Doppstadt, InBev, „Volksstimme“, Q-Cells, Schlecker und jüngst die Call-Center-Branche.
Auch mit Enercon haben wir uns hier schon beschäftigt. Seit dem Bestehen des Unternehmens in Sachsen-Anhalt wehren sich die Eigentümer gegen Gewerkschaften und Betriebsräte im Unternehmen. Die Zergliederung in 16 Betriebsteile in und um Magdeburg ist auch ein Führungsinstrument, um Arbeitnehmerrechte zu zerschlagen und Arbeitsbedingungen zu verschlechtern.
Der eine oder andere wird sich die Frage stellen: Was geht uns der Einzelfall, über den wir heute reden, eigentlich an? Schließlich wird heute um 11.30 Uhr ein Gericht darüber beraten.
Meine Damen und Herren! Natürlich ist es Sache der Arbeitsrichter, darüber zu urteilen, wie Gesetze in der Praxis konkret ausgelegt werden. Das, was uns als Politiker jedoch interessieren sollte, ist die Dimension, in der die vielfach beschworenen Mitbestimmungsmöglichkeiten im wirklichen Leben, in der sozialen Marktwirtschaft umgesetzt werden.
Ich nenne einfach einmal die Fakten: Im Osten Deutschlands haben 10 % der privaten Unternehmen Betriebsräte - 10 %!
Für knapp 40 % der Beschäftigten gibt es eine Personalvertretung. Jeder, der die Zahlen kennt, weiß, dass es hierbei vor allem um Großbetriebe geht, in denen die Betriebsratsbindung im Osten bis zu 85 % beträgt. Aber jeder von uns weiß, dass wir mit Großbetrieben nicht so reichlich gesegnet sind. Die Frage ist tatsächlich, wie die Mitbestimmungsrechte in den kleinen und mittleren Unternehmen umgesetzt werden sollen.
Nils-Holger Böttger, der heute mit seinen Kollegen unserer Beratung auf der Besuchertribüne folgt, hat als Betriebsratsvorsitzender offenbar das getan, was von einem Betriebsratsvorsitzenden erwartet wird.
Er hat sich für die Interessen der Arbeitnehmerinnen eingesetzt. Dazu gehören gemäß § 80 des Betriebsverfassungsgesetzes auch die Leiharbeitnehmerinnen.
Er hat Gespräche gesucht, auch mit der Geschäftsleitung, um die Probleme zu lösen. Und als sich nichts änderte, hat er das getan, was manche fürchten wie der Teufel das Weihwasser: Er hat die Probleme öffentlich gemacht. Er hat seine Kollegen über den Umgang mit Beschäftigten bei Enercon informiert, um gewissermaßen einen weiteren Durchbruch zu erzielen. Dass daraus ein Gerichtsprozess wird, ist der eigentliche Skandal - nicht das Verhalten eines Betriebsrates im Sinne der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen.
Übrigens hat das Bundesarbeitsgericht schon vor längerer Zeit beschlossen, dass Leiharbeiter bei der Betriebsgröße mitzuzählen sind. Das war eine rechtliche Kehrtwende; denn damit wurde die bisherige Rechtsprechung aufgegeben. Die Zuständigkeit des Betriebsrates im Entleihbetrieb für Leiharbeitnehmerinnen erstreckt sich zum Beispiel auf Fragen der Ordnung des Betriebes, auf Fragen der Mehrarbeit, des Beginns und Endes der Arbeitszeit, auf das Beschwerderecht, den Arbeitsschutz, die Versetzung etc.
Wenn man die Kollegen bei Enercon befragt, dann hört man: Es geht der Geschäftsführung darum, eine Gewerkschaft im Betrieb zu verhindern und an ausgewählten Personen und bei jeder Gelegenheit ein Exempel zu statuieren. Das ist unbegreiflich, vor allem angesichts der Tatsache, dass die Beschäftigten dort gern ihre Arbeit tun. Sie wollen eigentlich nichts anderes, als respektvoll behandelt und wertgeschätzt werden.
Sie wollen Transparenz bei Entscheidungen und sie wollen mitbestimmen können. Es gibt eine Menge zu tun, wenn man bedenkt, dass die IG Metall gegenwärtig für einen solchen Tarifvertrag kämpft, mit dem ein ausgelernter Facharbeiter annähernd das Gleiche bekommt wie ein Facharbeiter bei Mitbewerbern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dumpinglöhne entwickeln sich - das belegen Erfahrungen - auf Dauer zum Nachteil der Unternehmen, die sich damit langfristig Wettbewerbsvorteile sichern wollten.
Der Bezirksleiter der IG Metall für Sachsen-Anhalt und Niedersachsen Hartmut Meine sagte: Besonders empörend ist das Verhalten deshalb, weil der Windkraftanlagenbauer Enercon seit Jahren von öffentlichen Steuergeldern profitiert und den Firmengründer Aloys Wobben zum reichsten Niedersachsen gemacht hat.
Wenn Enercon so weitermacht, dann muss man sich nicht wundern, wenn das Thema Akzeptanz von Windenergie bei der Bevölkerung auch in
einer neuen Dimension gesehen wird. Wir erwarten, dass Unternehmen, die Betriebsratswahlen und die Umsetzung von Betriebsverfassungsrechten nach dem Betriebsverfassungsgesetz behindern, zur Verantwortung gezogen werden können.
Und außerdem - um das einmal klarzustellen, meine Damen und Herren - dürfen Unternehmen, die den Beschäftigten keine tariflichen Leistungen zahlen, nicht mit Steuermitteln finanziell bevorzugt werden.
Damit sind wir in der Aktuellen Debatte bei der Frage angelangt, wie die Landespolitik noch stärker auf die Umsetzung von Gesetzen hinwirken kann. Wo bleibt eigentlich die regelmäßige Anregung an den Tarifpartner Arbeitgeberverband, sich den Fragen der Arbeit von Betriebsräten in allen Unternehmen mit mehr als fünf Beschäftigten zu stellen?
Seit dem 1. März 2014 ist klar: Unternehmen mit mehr als fünf Beschäftigten haben die Möglichkeit, einen Betriebsrat zu wählen. Wo bleibt die offensive Diskussion zu diesem Thema in den Industrie- und Handelskammern mit ihren Mitgliedsunternehmen, wo die Bereitschaft, sich diesen Anforderungen zu öffnen?
Die Mitwirkung von Arbeitnehmervertretern in den Vorständen oder der allgemeine Aufruf dazu reichen sicherlich nicht aus.
Es ist kein Geheimnis, dass Unternehmen, die über eine organisierte Mitbestimmung verfügen, produktiver sind und bessere Ergebnisse erzielen. Engagierte Mitarbeiter tragen zu einem besseren Betriebsklima bei.
Es ist nicht gut für ein Unternehmen, wenn sich das Management von den Kolleginnen und Kollegen im Betrieb abkoppelt und sich zwei Welten bilden, die dann nichts mehr miteinander zu tun haben.
Ein Geschäftsführer der spanischen Kooperative Mondragón - das ist eines der größten Unternehmen Spaniens und die weltgrößte Genossenschaft - sagte einmal, er wolle nach der Arbeit auch mit den Kolleginnen und Kollegen in einer Kneipe einen Wein trinken können. Ein guter Chef ist an der Arbeit, den Ideen und der Lebensweise seiner Mitarbeiter interessiert und lernt bestenfalls auch von ihnen.
Es reicht eben nicht aus, dass der Sozialminister gemeinsam mit dem DGB zur Wahl von Betriebsräten aufruft, während andere Ministerien bei der Ausreichung von Fördermitteln nicht danach fra
gen, inwieweit damit gute Arbeit befördert wird. Das ist nicht nur eine Frage der Lohnhöhe. Wie oft haben wir gefordert, in die Antragsformulare für die Gemeinschaftsaufgabe Ost oder für Mittel aus den EU-Strukturfonds die Unterschrift eines Betriebsrates oder eines Personalrates aufzunehmen? - Das könnte eine andere Atmosphäre für das Thema der betrieblichen Mitbestimmung schaffen.
Diese Forderung sollte nicht einfach mit dem Argument, das sei ein vergabefremdes Kriterium, abgewürgt werden.
Ich möchte dem Kollegen Bischoff nicht zu nahe treten, aber es wird zukünftig notwendig sein, dass im Wirtschaftsministerium wieder stärker berücksichtigt wird, dass Wirtschaftsförderung nicht nur Investitionen in Anlagen bedeutet, sondern auch in gute Arbeit für Beschäftigte in all ihren Fassetten.
Eine innovative Förderstrategie ist nicht zu vereinbaren mit der Akzeptanz hinterwäldlerischer Mitbestimmungsdefinitionen nach der Maßgabe: Als Chef weiß ich am besten, was für meine Untergebenen gut ist.