Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die 55. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der sechsten Wahlperiode. Ich begrüße alle Anwesenden auf das Herzlichste und freue mich auf alle, die noch kommen, insbesondere die Besucherinnen und Besucher, die uns heute in diesem Hohen Haus die Ehre geben.
Wir setzen nunmehr die 28. Sitzungsperiode fort. Wir beginnen die heutige Beratung mit dem Tagesordnungspunkt 21. Danach folgen die Tagesordnungspunkte 12, 13 und 14.
Ich erinnere daran, dass sich Herr Minister Dr. Aeikens ursprünglich für die heutige Sitzung ganztägig entschuldigt hatte, und freue mich, dass er dennoch bei uns ist.
In der Aktuellen Debatte beträgt die Redezeit zehn Minuten je Fraktion. Die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten. Die Reihenfolge wurde wie folgt vereinbart: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als Antragstellerin, danach SPD, DIE LINKE und CDU. Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht Abgeordneter Herr Striegel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit Anfang Juni wissen wir, was wenige ahnten und einige befürchteten: Geheimdienste überwachen unsere Kommunikation im Netz anlasslos, ohne Einschränkung und flächendeckend. Es geht um E-Mails, um Telefonate, um Content-, vor allem aber um Metadaten. Es mischen mit: die National Security Agency - kurz NSA -, der britische Geheimdienst GCHQ, weitere Dienste der Five-Eyes-Allianz, ja auch der BND und - wichtig - eine Vielzahl angeschlossener privater Sicherheitsfirmen.
Eine Vielzahl großer, insbesondere US-amerikanischer Telekommunikationsanbieter und Technologiefirmen wirkt zudem an der Überwachung durch das Bereitstellen von Schnittstellen mit. Es geht um angezapfte Datenkabel ebenso wie um abgehörte Telekommunikation, um Spionageanlagen auf Botschaftsgebäuden wie um geheime staatliche Serverräume bei Internetfirmen.
Es trifft jede und jeden Einzelnen von uns, weil wir ins Schleppnetz von Programmen wie Prism, Tempora, XKeyscore oder weiterer Analyse- und Schnüffelprogramme geraten. Die Datensammelwut richtet sich ebenso gegen ganz normale Bürgerinnen und Bürger wie gegen Repräsentanten des politischen Systems, gegen Firmen, gegen Forschungseinrichtungen, gegen Verwaltungen, gegen Organisationen und Vereine, ja, gegen uns alle.
Vorgeblich geht es um Terrorabwehr und vermeintlich verhinderte Anschläge. Tatsächlich geht es um alles umfassende Kontrolle.
Die Affäre, deren Ausmaß manche Vorstellung sprengt, nahm ihren öffentlichen Anfang mit den Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden. Seine Weitergabe von Informationen, die er englischsprachigen Medien aufbereitet überließ, sodass nach seiner Einschätzung keine Gefährdung von Personen zu besorgen war, zerrte die jahrelang geübte Praxis der Geheimdienste ans Licht.
Wir wissen heute: Allein die NSA überwacht in Deutschland mindestens 10 Millionen Internetkontakte am Tag. Dazu kommen zwischen 20 und 60 Millionen Telefongespräche fortlaufend, obwohl Herr Pofalla von der CDU die Affäre bereits vor Wochen für beendet erklärt hat.
Der sachsen-anhaltischen Landesregierung ist das Problem nicht bekannt, wie sie in der Antwort auf eine Kleine Anfrage von mir bemerkte. Zitat:
„Erkenntnisse über die Anwendung von Prism, Tempora oder ähnlicher Programme liegen der Landesregierung nicht vor.“
Die Nonchalance dieser Antwort ist so frech wie bezeichnend. Diese Landesregierung bemüht sich noch nicht einmal um Aufklärung, wenn es um die Überwachung sachsen-anhaltischer Bürgerinnen und Bürger oder um die Ausspähung von Firmen geht.
Herr Minister Stahlknecht, Sie schreiben namens der Landesregierung, es lägen keine Erkenntnisse zu Spionageaktivitäten mit Prism, Tempora und anderen Programmen vor. Zugleich erklären Sie öffentlich auf der Sicherheitstagung der Wirtschaft in Magdeburg, dass zukünftig - Zitat - „Kriege nicht
Man muss sich Ihre Rhetorik nicht zu eigen machen. Aber ich frage namens der Bürgerinnen und Bürger des Landes: Was tut diese Landesregierung zum Schutz unser aller Privatsphäre, wenn dies Ihre Problemanalyse ist?
Wie sichert die Landesregierung die Integrität ihrer eigenen Kommunikation, wenn selbst der Ministerpräsident über unverschlüsselte Telefonverbindungen kommuniziert und für seine E-Mail-Kommunikation ein Gerät nutzt, das nachweislich von der NSA angezapft werden kann und dessen Server überwacht werden?
„Blackberry gehört in keine sicherheitsbewusste Firma und noch viel weniger in die Hände deutscher Geheimnisträger im öffentlichen Bereich.“
Der Regierungssprecher ließ zu der Problematik mitteilen, der MP regiere und telefoniere so offen, dass sich für die Inhalte sogar die Postkarte als Kommunikationsmedium eigne.
Nun, warten wir ab, wann in Sachsen-Anhalt der erste Minister seine Entlassung für ein Porto von 45 Cent übersandt bekommt.
Aber im Ernst: Welche Aktivitäten hat die Landesregierung ergriffen, um insbesondere junge, innovative und aufsteigende Unternehmen, aber auch die sachsen-anhaltische Industrie vor Wirtschaftsspionage in einem noch nie gekannten Ausmaß zu schützen? - Ich halte angesichts der Breite und Tiefe der bekannt gewordenen Überwachung die sachsen-anhaltischen Sicherheitsbehörden und insbesondere den Verfassungsschutz für außerstande, hier wirkungsvolle Vorsorge zu betreiben.
Wir alle müssen Edward Snowden dafür dankbar sein, dass er die Aktivitäten der Geheimdienste öffentlich gemacht hat.
Er hat sein Motiv für diesen Schritt beschrieben, als er sagte: Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich tue und sage, aufgezeichnet wird; wir nähern uns einer Orwellschen Welt, wie sie im Roman „1984“ beschrieben wird; in mancherlei Hinsicht sind wir in dieser Welt bereits angekommen.
Nicht immer kommt die Überwachung dabei überraschend. Als Nutzer sozialer Netzwerke, als Rabattnehmer bei Kundenkarten - überall geben wir Daten in einem nie gekannten Umfang freiwillig an Firmen weiter. Sie werden genutzt, um insbesondere unser Kaufverhalten vorherzusagen.
Gleichzeitig haben staatliche Überwacher ihre Datensammel- und Analysefähigkeiten in den vergangenen zwei Jahrzehnten vervollkommnet. Hier soll die Überwachung vorgeblich unser aller Sicherheit dienen. 54 Anschläge seien so seit dem 11. September 2001 weltweit verhindert worden; das gaben US-Dienste zunächst bekannt. Keith Alexander, der NSA-Chef, hat diese Zahl inzwischen korrigieren müssen. Bei nur 13 Anschlägen weltweit habe die umfassende Überwachung mit oder alleinig zur Aufdeckung entsprechender Pläne geführt.
Schon allein hieran und auch aus der Liste der Zielobjekte - es handelt sich um internationale Firmen, Start-ups, Verhandlungsdelegationen bei internationalen Konferenzen, internationale Organisationen - wird deutlich, es geht zuvörderst um Spionage, nicht um Terrorabwehr.
Herr Ministerpräsident, Sie haben in einem gestern veröffentlichten Interview laut über die Vergleichbarkeit zwischen den Aktivitäten der Stasi und der Datenschnüffelei der NSA nachgedacht und die Unterschiede betont. Bespitzelung zu DDR-Zeiten habe, so sagten Sie, andere Konsequenzen, namentlich Haftstrafen in Bautzen oder das Brechen von Biografien, gehabt.
Ich halte einen Vergleich der Spitzelei gestern und heute angesichts der Unterschiedlichkeit der Akteure und der Methoden für wenig zielführend. Aber man muss festhalten: Die Datensammelwut der heutigen Geheimdienste und ihre fehlende demokratische und juristische Kontrolle sind geeignet, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schwer zu schädigen oder zu zerstören.
Auch sie zerstören Biografien. Terrorabwehr wird mit illegal gesammelten Daten betrieben und fußt heute so manches Mal statt auf Anklagen und Gerichtsprozessen auf Internierung, Folter und extralegalen Tötungen durch Drohnenangriffe. Die Datensammlungen der NSA liefern dafür ebenso die Grundlage wie für No-Fly-Listen, bei denen Personen ohne nachprüfbare Gründe und gerichtlich kaum überprüfbar die Nutzung des Verkehrsmittels Flugzeug dauerhaft untersagt wird.
Sie, Herr Haseloff, rechtfertigen diese Datensammlung mit dem Satz: Dem Bösen muss Einhalt geboten werden! - Diese eschatologische Überhöhung des „War on Terror“ spricht für sich.
Ihre Haltung liegt auf einer Linie mit der eines Bundesinnenministers Friedrich, der nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe gegen die Geheimdienste ein - Zitat - „Supergrundrecht auf Sicherheit“ herbeiphantasiert hat. Dieses Recht gibt es nicht. Unsere Verfassung und, ja, auch multilaterale Verträge und internationale Abkommen schützen stattdessen die Privatheit des Individuums, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Wir müssen diesen Rechten endlich wieder zur Geltung verhelfen: in Sachsen-Anhalt, auf deutschem Boden, international, aber auch im Internet. Das Netz darf kein rechtsfreier Raum sein. - Das war und ist ein Mantra insbesondere von konservativen Internetbedenkenträgern.
Ich sage: Ja, das Netz darf kein rechtsfreier Raum, auch nicht für Sicherheitsbehörden, sein. Das Netz braucht Freiheit und dafür müssen Geheimdienste effektiv beschränkt, kontrolliert und die Datensammelei via Internet beendet werden.
Wer das Netz vor allem als Überwachungsinfrastruktur begreift, wer auf Vorratsdatenspeicherung und damit anlasslose Überwachung setzt, beschädigt die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit über das Internet hinaus,