Protocol of the Session on November 15, 2012

Zeugnis davon gibt die Geschichte des Verfassungsschutzes, die nach Heribert Prantl - Zitat - „in nicht unwesentlichen Teilen eine Skandalgeschichte ist“, und zwar bundesweit wie auch in SachsenAnhalt.

Das Sich-politisch-in-den-Dienst-nehmen-Lassen der Behörden durch Innenminister von Bund und Ländern mit dem Ergebnis, dass Politspinner und Fantasten, aber auch Parteien wie die LINKE in das Visier der Geheimdienste gelangen sowie die Unfähigkeit und der Unwille, Rassismus, Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit als systematische Bedrohung von Demokratie und Menschenrechten wahrzunehmen, sorgten dafür, dass weder die rassistischen Pogrome zu Beginn der 90er-Jahre in das Blick- und Handlungsfeld des Verfassungsschutzes gerieten, noch die Morde des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ verhindert worden sind.

Im Ergebnis zeigt sich: Der sogenannte Verfassungsschutz taugt weder als Vorwarnsystem einer wehrhaften Demokratie noch als effektiver Bestandteil einer Sicherheitsarchitektur im Verbund mit Polizei und Justiz.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

„Was die deutsche Demokratie heute ist, wurde sie nicht wegen, sondern trotz des Verfassungsschutzes“, so Professor Claus Leggewie und der Verfassungs- und Strafrechtler Horst Meier. Dem ist mit Blick auf die Demokratisierungs- und Selbstermächtigungsprozesse der Bundesrepublik in Ost und West wenig hinzuzufügen.

Eine lebendige, eine selbstbewusste Demokratie braucht keine Behörde zum Verfassungsschutz. Sie braucht keine staatliche Institution, die den Raum des politisch Sagbaren in unproblematische Positionen der Mitte und in böse Positionen von Extremisten aufteilt.

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit leben gefährlich und bleiben prekär. Demokratie muss von Bürgerinnen und Bürgern gelebt werden, Menschenrechte müssen von allen geschützt werden.

(Zuruf von Herrn Borgwardt, CDU)

Wer wissen will, wie das geht, dem sei der kleine Ort Nienhagen im Landkreis Harz genannt. Dort

warteten Einwohner nicht darauf, dass staatliche Behörden dem Treiben von Neonazis bei Konzerten ein Ende setzten. Sie initiierten selbst eine Bürgerbefragung, die überwältigenden Zuspruch fand und deren Ergebnis auch den Vermieter des Konzertortes davon überzeugte, seine Immobilie in Zukunft nicht mehr für Neonazi-Konzerte zur Verfügung zu stellen. Das, meine Damen und Herren, ist wirklicher Verfassungsschutz.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

Die vornehmste Aufgabe des Staates und seiner Behörden bleibt es hingegen, Straftaten zu ahnden und bei Vorliegen hinreichend konkreter Anhaltspunkte für Störungen der öffentlichen Sicherheit im Rahmen der Gefahrenabwehr tätig zu werden. Dafür braucht man keinen Verfassungsschutz, sondern eine Polizei, die den Republikschutz verinnerlicht hat, demokratische Werte lebt und bei rassistischen Verbrechen ebenso wenig die Augen verschließt wie bei allen anderen Formen der Kriminalität.

Uns ist entgegengehalten worden, der Gesetzentwurf doktere an den Symptomen herum und trage zur Manifestierung des Verfassungsschutzes bei. Solche Kritik zeigt zweierlei: Unkenntnis hinsichtlich der Perspektive bündnisgrüner Innenpolitik und eine gefährliche Art der Arbeitsverweigerung bei dem notwendigen Versuch, einen ungebändigten und aktenschreddernden Geheimdienst an die Kette zumindest eingeschränkter parlamentarischer Kontrolle zu legen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Unruhe)

Ich bin davon überzeugt, dass der Verfassungsschutz als Behörde in diesem Land keine Zukunft hat. Ich bin aber ebenso davon überzeugt, dass wir ihn, solange es ihn noch gibt, schärfer kontrollieren müssen.

(Zuruf von Herrn Borgwardt, CDU)

Demokratie und Rechtsstaat sind Instrumente der Machtbeschränkung und des institutionalisierten Misstrauens. Es ist an der Zeit, dieses gesunde Misstrauen insbesondere gegenüber einer Behörde anzubringen, die im Geheimen operiert und gerichtlich kaum zu kontrollieren ist. Parlamentarische Kontrolle ist dafür ein wichtiges, jedoch kaum ausreichendes Mittel. Bis zur Abschaffung des Inlandsgeheimdienstes bleibt mehr und bessere Kontrolle das Mittel der Wahl.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wer Instrumente der Kontrolle nicht schaffen will, der wäscht seine Hände zwar in Unschuld, ist aber mitverantwortlich, wenn die bisherigen Missstände nicht aufgedeckt und aufgeklärt werden sowie neue Skandale unerkannt bleiben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verorten sich in der Tradition

der westdeutschen und ostdeutschen Bürgerbewegung. Die politische Utopie einer demokratischen Gesellschaft ohne geheim und im Inland operierende Dienste wie den Verfassungsschutz ist nicht erst in den Jahren 1989/1990 gedacht worden. Mehr als zwei Jahrzehnte bundesrepublikanische Wirklichkeit im wiedervereinigten Deutschland und zehn durch den „Nationalsozialistischen Untergrund“ begangene und vom Verfassungsschutz nicht einmal erahnte Morde mahnen uns, diese Utopie endlich zu leben.

(Zustimmung von Frau Prof. Dr. Dalbert, GRÜNE)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben sich zur Abschaffung des Verfassungsschutzes bekannt. Die Behörde ist aufzulösen und abzuwickeln. Die dort liegenden Kompetenzen sind ersatzlos zu streichen bzw. im Bereich hinreichend konkreter Gefahren durch gewaltbereite Personen und Gruppen den Strafverfolgungsbehörden zuzuschlagen. Selbiges gilt für die Spionageabwehr und die Wirtschaftsspionage,

(Herr Rosmeisl, CDU: Das ist Unsinn! Ah- nungslos!)

Politische Bildung ist nicht die Aufgabe einer Extremismusbehörde, sondern gehört in die Hand einer Landeszentrale und vieler freier und unabhängiger Träger politischer Bildungsarbeit, die staatlicher Förderung bedürfen.

(Zustimmung von Frau Prof. Dr. Dalbert, GRÜNE)

Zudem ist der sogenannte Verfassungsschutzbericht einzustellen und durch die periodische Publikation einer unabhängigen wissenschaftlichen Beobachtungsstelle für Demokratie und Menschenrechte zu ersetzen, die Gefahren für die Demokratie auf der Grundlage wissenschaftlicher Kriterien und unabhängig davon beschreibt, ob sie aus der gesellschaftlichen Mitte oder von ihren Rändern kommen.

(Unruhe)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das System Verfassungsschutz hat sich überlebt. Die Behörde ist auch in Sachsen-Anhalt mittelfristig aufzulösen. Bis zur Auflösung und auch bei Abwicklung des Inlandsgeheimdienstes ist mehr parlamentarische Kontrolle vonnöten. Diese Kontrollmöglichkeit schafft unser Gesetzentwurf.

Wir bitten um Ihre Unterstützung und die Überweisung des Gesetzentwurfes in den Innenausschuss. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Danke sehr, Herr Abgeordneter Striegel. - Für die Landesregierung spricht Minister Stahlknecht.

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unstreitig ist, dass der Verfassungsschutz, aber auch andere Sicherheitsbehörden - dazu gehören Polizei und Justiz - aufgrund der Vorkommnisse in und um den NSU in die Kritik geraten sind und dies in Teilen auch zu Recht, weil dort in den Jahren Fehler gemacht worden sind, die jetzt von unterschiedlichen Gremien, nämlich einem Untersuchungsausschuss in Berlin und einer Arbeitsgruppe aus ehemaligen Innenministern, die in Berlin angesiedelt ist, aufgeklärt wird.

Unabhängig davon - diesbezüglich sind wir fundamental anderer Auffassung, Herr Striegel - halte ich einen Verfassungsschutz als Baustein einer Sicherheitsarchitektur für die Bundesrepublik Deutschland für unabdingbar wichtig.

(Beifall bei der CDU)

Herr Striegel, Sie haben vorgetragen - wenn man diese Auffassung hat, ist das ja glaubwürdig -, dass Sie einen Verfassungsschutz nicht wollen und ihn abschaffen wollen. Ich frage mich: Warum legen Sie dann einen solchen Gesetzentwurf vor, wie Sie ihn vorlegen?

(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Dann legen Sie doch einen Gesetzentwurf vor, der zum Inhalt hat, den Verfassungsschutz aufzuheben und das zu beenden.

(Herr Borgwardt, CDU: Ein Abschaffungs- gesetz!)

Das wäre wenigstens konsequent.

Sie fordern, dass Sie im Hinblick auf die Führung von V-Leuten entscheiden können, wann eine Maßnahme abzubrechen ist. Sie haben vielleicht in einer Freud’schen Fehlleistung gesagt, die GRÜNEN stoßen jetzt in das Herz des Verfassungsschutzes vor.

(Heiterkeit und Zustimmung bei der CDU)

Meine Damen und Herren! Lieber Herr Striegel, wenn ich mir vorstelle, dass Sie mit der Führung von V-Leuten in der PKK beauftragt werden, dann wäre selbst ich für die Abschaffung des Verfassungsschutzes.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Das möchte ich niemandem zumuten und als Kollege eigentlich auch nicht Ihnen.

Wir werden über den Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, reden müssen. Unsere Geschäftsordnung sieht vor, dass er in den Ausschuss zu überweisen ist.

In einem Punkt gebe ich Ihnen Recht, nämlich darin, dass wir Dienstvorschriften erlassen müssen,

die Standards für den Einsatz, die Verwendung und die Auswahl von V-Leuten festlegen. Darüber, ob man das, so wie Herr Erben das in einer Pressemittlung mitteilen lassen hat, auf einer gesetzlichen Grundlage machen will, kann man reden, aber das werden wir in Ruhe, so denke ich, im Ausschuss tun. - Das soll es von meiner Seite gewesen sein.

Ich denke, wir werden uns in den nächsten Jahren in diesem Punkt noch fundamental unterschiedliche Meinungen zumuten müssen, Herr Striegel. So ist das Leben. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Danke, Herr Minister. - Für die SPD-Fraktion spricht der Abgeordnete Herr Erben.