Protocol of the Session on May 13, 2011

Über Jahre hinweg war die Absenkung der Löhne und Gehälter mit der Argumentation der Arbeitsplatzsicherung das Rezept für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und in Sachsen-Anhalt. In diesem Punkt waren sich führende Politiker und Wirtschaftsvertreter immer einig. Diese Politik gipfelte in der Agenda 2010. Es entstanden die so genannten Hartz-Gesetze, die die Gewerkschaften mit Angst und Schrecken erfüllten, weil für sie absehbar war, dass damit dem Niedriglohnsektor Tür und Tor geöffnet würde. Diese Politik, die von Vertretern der Sozialdemokratie noch heute für richtig befunden wird, störte durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes sowie der Sozialsysteme in der Tat den Arbeitsmarkt.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Ein-Euro-Jobs sowie Mini- und Midijobs, Leiharbeit, Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Werkverträge, Scheinselbständige und unbezahlte Praktika zerstörten reguläre Beschäftigungsverhältnisse und setzten die öffentlichen Haushalte immer mehr unter Druck, weil sie die Einkommen dieser prekär Beschäftigten aufstocken und subventionieren müssen.

Unser Antrag ist überschrieben mit „Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenfreizügigkeit beschäftigungs- und sozialpolitisch gestalten“. Das heißt: Anders als der Präsident des Ifo-Instituts HansWerner Sinn wollen wir nicht die Freizügigkeit von ihrer sozialpolitischen Einbettung trennen.

Wir wollen gleiche Rechte für Einheimische, Zuwanderer und entsandte Arbeitnehmerinnen zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Der LINKEN fehlt das Soziale in Europa. Es war ein Gründungsfehler, statt positiv nur negativ zu integrieren. Statt einen sozialpolitischen Ordnungsrahmen zur Steuerung von Mindeststandards zu schaffen, ging man den Weg der negativen Integration, also der Anerkennung unterschiedlicher Standards und des Herkunftslandprinzips.

Unter dem Leitbild globalisierter flexibler Arbeitsmärkte wird kurzsichtig der Wettbewerb um die besten Köpfe geführt. Das hat zur Folge, dass in Estland die IT-Fachleute abgeworben werden. In Großbritannien werden keine Krankenschwestern mehr ausgebildet, weil die zugezogenen polnischen Fachkräfte schon bestens ausgebildet sind. Die Schweiz, Schweden und Norwegen nehmen die Fachkräfte aus Deutschland sehr gern.

Mit den langen Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit suggerierte die politische Mehrheit, dass diese Abschottungs- und Vertagungsstrategie den hiesigen Arbeitsmarkt schütze. Aber wovor? - Die Lösung ist aus unserer Sicht sehr einfach. Sozial- und Lohndumping - wenn man sie denn bekämpfen will - lassen sich nur durch gleiche Bedingungen am gleichen Arbeitsort verhindern.

(Beifall bei der LINKEN)

Dazu brauchen wir einen europaweiten Mindestlohn, der 60 % des jeweiligen nationalen Durchschnittseinkommens beträgt, und für Deutschland den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 €, der ein Abdriften nach unten verhindert. Gut ausgebildete Fachkräfte müssen auch gut bezahlt werden. Ihre Leistung muss anerkannt werden und sie müssen sich wohl fühlen, wenn sie schon ihre Heimat verlassen.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Die Geiz-ist-geil-Mentalität wird die Facharbeiterlücke nicht schließen. Sie wird dazu führen, dass die Menschen einen Bogen um Sachsen-Anhalt machen. Ich glaube, Herr Haseloff hat gestern in seiner Rede auch schon angedeutet, dass wir als Land Sachsen-Anhalt doch ein Stück davon wegkommen wollen.

Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aus dem Jahr 1996 schaffte, ausgehend von der Baubranche,

sukzessive für fünf weitere Branchen einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn. Vor der Einführung des Entsendegesetzes konnte man sehen, was auf den Baustellen passierte. Da für die entsandten Arbeiter die Arbeits- und Sozialbedingungen ihrer jeweiligen Herkunftsländer galten, hatten am selben Arbeitsort Deutsche, Portugiesen, Briten oder Spanier unterschiedliche Löhne, Arbeitszeiten, Pausen, Urlaub, Sozialversicherung und Sonstiges.

Zur Verhinderung dieses Szenarios in anderen Branchen bedarf es einer Ausweitung des Entsendegesetzes auf alle Branchen. Dienstleistungen mit entsandten Arbeitnehmerinnen und grenzüberschreitende Leiharbeit werden sonst aufgrund der Regelungslücke weiter zunehmen.

Vor allem muss die Leiharbeit in das Entsendegesetz aufgenommen werden. Der jüngste Tarifabschluss ist aus meiner Sicht zur Lösung der Probleme der Branche nicht geeignet.

Eine nach wie vor unterschiedliche Bezahlung in Ost und West ist durch nichts gerechtfertigt. Dennoch ist es wichtig, die Leiharbeit in das Entsendegesetz aufzunehmen. So lange die Leiharbeit nicht in das Entsendegesetz aufgenommen wird, führt sie zu Lohndumping, weil der Gleichstellungsgrundsatz durch ausländische Leiharbeitsfirmen unterlaufen werden kann und die Bezahlung noch schlechter wird.

Wir als LINKE bleiben bei unserer alten Forderung, dass Leiharbeit per se wieder auf maximal drei Monate zu begrenzen ist und dass Leiharbeiter ab dem ersten Tag

(Beifall bei der LINKEN)

gemäß dem Grundsatz „Gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit“ der Stammbelegschaft gleichzustellen sind. Für flexible Arbeitsbedingungen sind die Arbeitnehmer mit einer Flexibilisierungsprämie in Höhe von 10 % zu versehen, wie das in Frankreich bereits praktiziert wird.

Die Umsetzung guter Einkommens- und Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten in Sachsen-Anhalt wollen wir mit stabilen Arbeitnehmervertretungen, den Betriebs- und Personalräten, sichern.

Ja, wir wollen ein Vergabegesetz mit Tariftreue bzw. einem Mindestlohn in Höhe von 8,50 €. Nach der gestrigen Diskussion, Frau Budde, habe ich mich nun dazu hinreißen lassen, noch etwas dazu zu sagen. Ich kann mich nämlich daran erinnern, dass wir im Jahr 1999 gemeinsam an einem Vergabegesetz gearbeitet haben. Herr Steppuhn und Herr Henke können sich noch daran erinnern; ich habe mit ihnen gesprochen. Wir waren damals auch nicht die Ersten, also nicht Sachsen-Anhalt,

(Frau Budde, SPD: Stimmt!)

sondern die Bayern waren die Ersten. Der Freistaat Bayern war viel klüger als wir; er hatte bereits ein Vergabegesetz, um seine wirtschaftlichen Interessen im Land zu sichern. Das war nämlich der Hintergrund. Das war hier auf Dauer nicht gewollt. Deswegen fiel es im Jahr 2002 den Liberalisierungsinteressen der CDU-FDP-Regierung zum Opfer.

Leider ist es uns seitdem nicht gelungen - auch in der vergangenen Legislaturperiode nicht -, ein neues Vergabegesetz auf den Weg zu bringen. Deswegen fordern wir das nach wie vor für diese Legislaturperiode und hoffen, dass wir irgendwann gemeinsam ein Vergabegesetz für das Land Sachsen-Anhalt beschließen.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Deshalb steht die öffentliche Hand als Auftraggeber in einer besonderen Verantwortung. Unsere Vorschläge für ein Vergabegesetz liegen vor. Deswegen erspare ich mir weitere Ausführungen dazu. Ich sage nur so viel: Auch wir wollen ein europarechtskonformes Vergabegesetz. In Thüringen, Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz ist das offensichtlich gelungen.

Um die sozialen Grundrechte nicht dem Wettbewerb unterzuordnen, will die DIE LINKE, dass in den Lissabonner Vertrag eine soziale Fortschrittsklausel aufgenommen wird. Der Europäische Gerichtshof hat aus unserer Sicht den Demokratie- und Sozialabbau durch eine Serie von Urteilen beschleunigt. Der Vertrag von Lissabon förderte diese Entwicklung; deswegen wollen wir die Aufnahme einer sozialen Fortschrittsklausel in den Lissabon-Vertrag erreichen.

Diese muss erstens eindeutig festhalten, dass soziale und politische Grundrechte Vorrang vor den Grundfreiheiten des Marktes haben, zweitens dass Mitgliedstaaten mehr als den minimalen Schutz der Entsenderichtlinie verlangen dürfen, um das Prinzip „gleicher Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen“ auf ihren Arbeitsmärkten durchzusetzen, drittens dass Gewerkschaften kollektive Maßnahmen ergreifen dürfen, um höhere Standards durchzusetzen - das ist in Deutschland eigentlich nicht unüblich -, und viertens dass Mindeststandards nicht zu Höchststandards werden.

Meine Damen und Herren! DIE LINKE vermisst in dieser Zeit das Interesse unserer Landesregierung. Im Gegensatz zur brandenburgischen Landesregierung sind die Informationen der hiesigen Landesregierung zum Thema Freizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit für die acht inzwischen nicht mehr so neuen Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa mehr als spärlich. Auch dieses Thema vermissen wir im Koalitionsvertrag.

In Brandenburg hat das Kabinett dem Landtag einen Bericht zu der ab dem 1. Mai 2011 geltenden

Arbeitnehmerfreizügigkeit vorgelegt. Er enthält unter anderem eine Bestandsaufnahme bisheriger Kontakte, Aktivitäten und Maßnahmen der Landesregierung.

Meine Damen und Herren! Wir haben es bisher nicht beantragt, aber ich wäre demjenigen, der für die Landesregierung spricht - ich vermute einmal, dass der Sozialminister spricht -, dankbar, wenn er dazu vielleicht noch etwas sagen könnte. Sie bitte ich um die Zustimmung zu unserem Antrag.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Rogée. - Bevor wir mit den Redebeiträgen fortfahren, gibt es einen Antrag zur Geschäftsordnung.

Herr Präsident! Ich habe eine Bitte. Wir sind erst am Anfang der Legislaturperiode, und die Regierung dürfte eigentlich noch nicht so ausgepowert sein, dass um 10.15 Uhr lediglich ganze zwei Minister anwesend sind. Es wäre wunderbar, wenn Initiativen stattfinden würden, um die Minister hereinzuholen. Das ist ein Thema, das, wie es eben gesagt wurde, eigentlich alle interessieren müsste.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Frau Kollegin, ich teile ausdrücklich Ihre Auffassung. Ich denke, man wird das den Kolleginnen und Kollegen von der Regierungsbank mitteilen, sodass sie so schnell wie möglich wieder im Saal anwesend sind, wie sich das gehört.

Bevor Herr Minister Bischoff das Wort ergreift, möchte ich noch Gäste im Haus begrüßen. Wir begrüßen auf der Besuchertribüne Gäste der Landeszentrale für politische Bildung. Herzlich willkommen im Haus!

(Beifall im ganzen Hause - Minister Herr Bi- schoff: Du musst mich noch ankündigen!)

- Wir begrüßen am Rednerpult den Minister für Arbeit und Soziales Norbert Bischoff.

(Heiterkeit - Herr Gallert, DIE LINKE: Immer- hin ist noch einer da! - Heiterkeit bei der LINKEN)

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Ich habe gedacht, dass ich nicht sprechen könnte, solange ich nicht angekündigt worden bin. Aber dass er es nun so förmlich macht … Herzlichen Dank.

Mit Ihrem vorliegenden Antrag spricht die Fraktion DIE LINKE unter der Überschrift „Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenfreizügigkeit beschäftigungs- und sozialpolitisch gestalten“ eine ganze Reihe sozialpolitischer Themen an, die alle sehr komplex ausfallen und auf die ich auch nicht im Einzelnen eingehen kann, weil das die Zeit wahrlich überschreiten würde.

Auf die Frage der sofortigen Freizügigkeit für Bulgarien und Rumänien möchte ich nachher noch kurz eingehen. Zunächst ein paar grundsätzliche Bemerkungen zum Thema Freizügigkeit.

Nach den bisherigen Beobachtungen und den vorliegenden aktuellen Studien kann als Folge tatsächlich kurzfristig davon ausgegangen werden - das teilen, glaube ich, auch die Gewerkschaften -, dass die Zahl der temporären Arbeitsaufenthalte in Deutschland zunehmen wird. Jedoch wird das auf Deutschland gerichtete Migrationspotenzial aus heutiger Sicht eher niedrig eingeschätzt. Sorgen um tief greifende Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt erscheinen deshalb auf mittlere und lange Sicht unbegründet. Dafür spricht auch die für die bisherigen Hauptzuwanderungsstaaten konstatierte Entwicklung. Insgesamt werden aufgrund der Arbeitsmigration aber positive volkswirtschaftliche Effekte in den Einwanderungsländern erwartet.

Warum das ist so ist, kann man sich recht einfach erklären. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und eines vielfach vor allem für den Osten Deutschlands prognostizierten Fachkräftemangels wird mittel- und langfristig kaum eine Alternative zur Zuwanderung von gut ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bestehen.

In diesem Zusammenhang erscheint es einer Studie des IWH zufolge bereits fraglich, ob das nach den frühen Wanderungswellen noch vorhandene Migrationspotenzial aus Mittel- und Osteuropa überhaupt ausreicht, um die Nachfrage nach Fachkräften bei uns in Sachsen-Anhalt zu befriedigen.

Um die Chancen Sachsen-Anhalts im Ringen um Fachkräfte, das in den nächsten Jahren in der EU und weltweit in den Industrieländern zunehmen wird, nicht zu verschlechtern, sollten Fachkräfte, jedenfalls bei uns, herzlich willkommen sein. Man darf in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass die meisten Unternehmen mit der Einstellung von hoch qualifizierten Fachkräften auch die Einstellung von geringer qualifizierten Arbeitskräften verbinden. Das sind eigentlich alles günstige Auswirkungen auch für unseren Markt in Sachsen-Anhalt.

Was Bulgarien und Rumänien betrifft: Sie sind 2007 vollwertige Mitglieder der EU geworden und genießen die grundsätzlichen Vorzüge des europäischen Binnenmarktes. Ihnen stehen insbesondere auch die im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft garantierten Grundfreiheiten schon heute zu.