Protocol of the Session on March 23, 2012

Eine unserer Forderungen damals war ausdrücklich, dass das Parlament im Rahmen der Evaluierung der Vollzugslandschaft dringend beteiligt wird. Ich denke, das Parlament kann und darf nicht nur in die Rolle des Reagierens gedrängt werden und darf nicht, selbst wenn dies sehr wichtig ist, ausschließlich eine Kontrollfunktion übernehmen.

Bei solch grundlegenden Maßnahmen und Entscheidungen ist die Landesregierung in der Pflicht, alles dafür zu tun, dass das Parlament vor allem in die Rolle des Agierens versetzt wird. Deswegen ist die Befassung des Parlaments zwingend erforderlich und unabdingbar.

Eine Aktuelle Debatte wird dem allerdings nicht gerecht. Vielmehr wäre es folgerichtig gewesen, wenn Sie heute einen Antrag eingebracht hätten, damit die Koalitionsfraktionen demonstrierten, dass sie auf einen Beschluss drängten. Sie wollen diesen Beschluss zwar ungern fassen, aber er steht irgendwann bevor.

Ich möchte aber die Aktuelle Debatte heute nicht ungenutzt verstreichen lassen und ein erstes Meinungsbild meiner Fraktion zu der bestehenden Kabinettsvorlage und - das halte ich für weitaus problematischer - zu der damit verbundenen, oft widersprüchlichen Debatte in den Koalitionsfraktionen abgeben. Es ist nützt eben nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, an demselben Strang ziehen zu wollen,

(Herr Schröder, CDU: Man muss auch in die gleiche Richtung ziehen! Ja, ja!)

man muss auch dasselbe Ende erwischen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Erst am 17. März 2012 - also vor knapp einer Woche - trafen sich alle rechtspolitischen Sprecher außer Herrn Borgwardt in der Jugendanstalt Raßnitz auf Einladung des Bundes der Strafvollzugsbediensteten.

Ich verrate keine Neuigkeit, wenn ich Ihnen sage, dass bei denen der Schuh natürlich mächtig drückt. Nach meinem Dafürhalten ist es nicht unbedingt die bevorstehende Reform; ganz im Gegenteil. Grund dafür ist vor allem die Situation der Bediensteten in den Anstalten vor Ort, und das eben auch nicht erst in diesem Jahr. Der Dreh- und Angelpunkt ist und bleibt das Personal in den Justizvollzugsanstalten vor Ort.

Bereits im letzten Jahr haben Sie uns vorgetragen, dass das vorhandene Personal eben nicht mehr ausreicht, um die bestehenden Aufgaben auch nur im Ansatz erfüllen zu können. Es wurde auch schon angesprochen, dass ein Behandlungsvollzug, wie es gesellschaftlich und gesetzlich gefordert wird, nicht mehr umgesetzt werden kann.

Die Gefangenen werden nicht selten schon um 15 Uhr weggeschlossen, weil beispielsweise kein Bediensteter mehr anwesend ist, der entsprechende Freizeitangebote machen oder begleiten kann. Nicht selten standen wir vor einem lächelnden Gesicht, wenn es um die im Personalentwicklungskonzept festgeschriebene Zielzahl von 54 Bediensteten auf 100 Gefangene ging; denn in der Realität liegt die Zahl aufgrund des überdurchschnittlich hohen Krankenstandes schon bei netto 44 Bediensteten auf 100 Gefangene.

Auch die Zukunft zeigt keine Besserung. Der Altersdurchschnitt liegt ähnlich wie bei der Polizei bei ca. 49 Jahren. Das bedeutet immer häufiger die Diagnose „schichtuntauglich“. - Ich denke, gerade in einem Betrieb, in dem an sieben Tagen in der Woche und 24 Stunden am Tag gearbeitet wird, ist das eine Katastrophe.

Die noch gesunden Bediensteten machen im Umkehrschluss natürlich die Arbeit der teilweise oder ganz ausfallenden Kolleginnen und Kollegen mit und steuern auf ein ähnliches Problem zu. Der Einstellungskorridor mildert diese Situation ebenfalls nicht.

Meine Damen und Herren, insbesondere der koalitionstragenden Fraktionen! Man kann sich natürlich hinstellen und aller Welt erzählen, dass es lediglich einen Kabinettsbeschluss gibt und die Fraktionen und auch das Parlament in der Sache noch nichts entschieden haben.

(Herr Borgwardt, CDU: Das stimmt!)

Das ist erst einmal sachlich korrekt. Unter dem Strich soll das aber heißen - genau diese Botschaft wird damit auch transportiert -, dass noch alles offen sei. Ich sage dazu noch einmal, Herr Borgwardt: Ich halte das für unredlich. Ich halte das für unverantwortlich und für politisch fahrlässig, weil die erforderliche Sorgfalt auch gegenüber den Gefangenen fehlt und insbesondere die Fürsorgepflicht gegenüber den Bediensteten vernachlässigt wird.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Weil die Presse nicht komplett alles wiedergibt, möchte ich auch noch sagen, warum ich diese Auffassung vertrete: weil die Bediensteten das soeben erwähnte und beschriebene Personalentwicklungskonzept und auch die Gefangenenprognosen kennen. Sie kennen die knallharten Zahlen und ihre Folgen. Sie wissen genau, dass bei sinkenden Gefangenenzahlen - wovon man aus meiner Sicht bei sinkenden Einwohnerzahlen durchaus ausgehen kann - und bei zugleich sinkenden Personalstellen der Betrieb aller Anstalten eben nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Ein einfaches „Weiter so!“ klingt in den Ohren der Bediensteten zunächst vielleicht gut; aber Sie wissen, dass das nicht realistisch ist.

Die Personalausgaben machen schon jetzt 3 Milliarden € des Landeshaushalts aus. Wenn wir gemeinsam auf das Jahr 2019 schauen, dann haben wir noch einigen Vorbereitungsbedarf. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Mitglieder der Koalitionsfraktionen bei den Beratungen zum Einzelplan 11 Vorschläge für einen Aufwuchs der Personalstellen gemacht hätten.

(Zustimmung von Herrn Herbst, GRÜNE)

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Mitglieder der Koalitionsfraktionen das Personalentwicklungskonzept aufbrechen wollten, was aber gerade angesichts der Debatte über die Änderungen in der Sicherungsverwahrung angezeigt gewesen wäre. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass in der Debatte über das Personalentwicklungskonzept seitens der Koalitionsfraktionen eine effizienzgeleitete Aufgabenkritik - wie sie die LINKE stets gefordert hat - ernsthaft stattgefunden hätte.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren! Warum kann ich mich nicht erinnern? - Es hat ihrerseits nichts in dieser Form stattgefunden. Ansonsten wären wir schon damals darüber gestolpert, dass die Zielzahl von 54 Bediensteten auf 100 Gefangene bei den bestehenden Strukturen und Rahmenbedingungen eben nicht sinnhaft ist.

Meine Damen und Herren der Koalition! Nach meinem Dafürhalten ist es jetzt zu spät. Wir haben es bereits fünf nach zwölf. Sie haben A gesagt und müssen im Sinne eines langfristig effizienten, aber eben auch erfolgreichen Strafvollzugs auch B sagen. Das bedeutet vorwiegend eine Standortkonzentration. Ich denke, dass wir uns diesbezüglich zumindest dem Grunde nach fraktionsübergreifend einig sind.

Eine Distanzierung von den Vorhaben der Landesregierung ist wenig glaubhaft. Prüfen Sie nunmehr, welche Vollzugsanstalt als sogenannte Pufferanstalt am Netz bleiben soll, um künftig auf gegebenenfalls wieder steigende Gefangenenzahlen reagieren zu können! Aus der Sicht der LINKEN wäre dies vorzugsweise die Justizvollzugsanstalt Volkstedt. Wir waren am Freitag der letzten Woche - Frau Dr. Klein rief es vorhin dazwischen - nicht das erste Mal, sondern zum wiederholten Mal dort. Ich denke, es handelt sich hierbei um eine in Sachsen-Anhalt im positiven Sinn einzigartige Anstalt.

Leiten Sie danach die Schließungen der übrigen Anstalten im Rahmen einer Gesetzesvorlage - damit unter Beteiligung des Landtags - ein! Dann haben Sie nämlich auch das, was Herr Herbst berechtigterweise gefordert hat: eine breite Legitimation für eine nicht kleine Reform in Sachsen-Anhalt.

Lassen Sie mich abschließend noch ein Problem anreißen: Stellen Sie sicher, dass möglichst kein

Bediensteter im Strafvollzug im Eingangsamt in Pension geht. Damit würden Sie die Reformfreudigkeit und die Motivation der Bediensteten im Strafvollzug nach meiner Auffassung um einiges erhöhen. - Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin von Angern. Es gibt eine Anfrage des Kollegen Borgwardt. Möchten Sie diese beantworten?

Ja.

Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung würde ich aus der Frage gern eine Zwischenintervention machen. Ich möchte noch einmal darauf eingehen, was ich gesagt habe. Vielleicht habe ich das nicht deutlich genug gemacht. Sie können das aber auch nachlesen.

Ich habe vorhin zum großen Teil das, was Sie jetzt sagen, auch gesagt. Es ist für uns völlig klar, dass es bis auf die Schließung der beiden Nebenstellen eines Gesetzes bedarf. Dazu muss ein Entwurf vorgelegt werden. Dann folgt die Parlamentsbefassung. Das ist unstrittig. Erwecken Sie nicht immer den Eindruck, dass wir das nicht wollen! Es ist völlig klar. - Erster Punkt.

Zweitens. Ich kann keine anderen Strukturen, egal in welchem Dienst des Landes, erkennen, in denen so frühzeitig wie jetzt gehandelt wird, in denen es einen Vorlauf - ich sage es noch einmal - von sechs bis acht Jahren gibt und man sich eine Meinung bilden kann. Ich kenne keine Struktur, in der dies in dieser Ausführlichkeit möglich wäre.

Drittens. Die Puffer, von denen Sie sprechen, haben wir auch im Blick. Das ist doch völlig klar. Ich habe vorhin ausdrücklich gesagt, dass wir nicht wissen, ob die Gefangenenzahlen in acht Jahren weiter signifikant zurückgehen werden. Ich habe manchmal den Eindruck, dass man uns gewisse Sachen unterstellen will. Wir haben genau die gleichen Gründe.

Als Letztes: Wie wollen wir uns professionell verhalten, wenn wir keine Machbarkeitsstudie kennen zu dem Fall, der machbar sein soll. Wenn die Studie vorliegt, dann werden wir uns dazu verhalten. Das halte ich für redlich; ich lasse uns nichts vorwerfen.

(Zustimmung bei der CDU)

Ich darf darauf reagieren?

Ja, dürfen Sie.

Herr Borgwardt, ich würde gern darauf reagieren, auch wenn es eine Intervention war. Sie haben meine Kritik an der momentanen Situation tatsächlich falsch verstanden. Ich denke, dass wir nicht jetzt erst begonnen haben, über die Justizvollzugsstrukturen zu reden, sondern schon sehr frühzeitig, vor Jahren. Das halte ich für gut und richtig.

Mein Kritikpunkt bzw. der meiner Fraktion ist, dass Koalitionsabgeordnete - dabei können Sie sich meinetwegen außen vor lassen; aber es gibt ja noch mehr in Ihrer Fraktion -

(Herr Borgwardt, CDU: Gott sei Dank! - Herr Thomas, CDU: Gott sei Dank gibt es noch mehr!)

durch das Land reisen und bei den Bediensteten den Eindruck hinterlassen, Sie werden sich in das Schwert werfen, bevor das Gefängnis an diesem Standort geschlossen wird. Das ist ein Problem. Damit senden Sie eine Botschaft gegenüber den Bediensteten aus, die diese hoffen lässt, dass ihre Anstalt erhalten bleibt. Ich sage es noch einmal: Das halte ich für fahrlässig und für politisch unverantwortlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Danke schön, Frau Kollegin von Angern. - Als Nächster und zum Abschluss der Debatte spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Herr Dr. Brachmann.

Bevor er das Wort nimmt, begrüßen wir auf der Besuchertribüne herzlich Schulleiterinnen und Schulleiter von Gymnasien in Sachsen-Anhalt als Gäste der Landeszentrale für politische Bildung. Herzlich willkommen im Haus!

(Beifall im ganzen Hause)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Einleitungskurve hat mir Frau von Angern leider abgenommen. Ich könnte höchstens erklären, dass ich in diesem Jahr auch schon siebenmal eingefahren bin. Ich kenne die Justizvollzugsanstalten des Landes ganz gut. Ich habe mir dort selbst einen Eindruck verschafft, wie die Situation ist und wie wir das in die anstehenden Diskussionen einordnen können.

Herr Herbst, die Überschrift Ihres Antrags lautet: „Justizvollzugsstruktur transparent gestalten.“ - Transparenter, als es bislang geschehen ist, geht es nicht.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Ich will das hier kurz skizzieren. Wir haben in der Septembersitzung über einen sehr umfänglichen Antrag beraten, der die gesamte Bandbreite der Aufgaben beinhaltete - Frau von Angern hat Fleißarbeit geleistet; es waren vier Seiten -, die wir in den nächsten Jahren im Justizvollzug zu lösen haben: Strukturen, das neue Justizvollzugsgesetz, Sicherungsverwahrung, Frauenvollzug - alles war enthalten.