Protocol of the Session on November 11, 2011

Herr Gallert, ich habe eine Frage zu Ihrem letzten Beispiel, dass der Wähler diese Frau wiedergewählt hat. Das ist die eine Sache, das ist klar. Dem Wähler steht es frei, wen er wählt, es ist also alles offen. Aber allein die Dreistigkeit, dass Sie mit aller Kenntnis einen Menschen, der Unrecht begangen hat, wieder als Kandidaten aufstellen,

(Zuruf von der LINKEN: Wer hat denn Un- recht begangen?)

diese Konsequenz hätten wir von Ihnen erwartet, was Vergangenheitsbewältigung anbelangt, nicht den Tatbestand, wer gewählt wird oder nicht gewählt wird. Dass Sie Ihre Vergangenheit diesbezüglich eben nicht aufarbeiten, zeigt allein dieses Beispiel.

(Zustimmung bei der CDU)

Frau Feußner, ich nehme es mal als Frage. Moralische Verfehlungen von Menschen, die sich im Kontext ihrer DDR-Vergangenheit oder in völlig anderen Kontexten zur Wahl stellen, können sehr vielfältig sein. Moralische Verfehlungen, die von der Öffentlichkeit und vom Wähler bewertet werden, beschränken sich nun wahrlich nicht nur auf eine Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit.

(Zuruf von der CDU: Das hat auch niemand gesagt!)

Da gibt es viele Dinge, die dabei eine Rolle spielen. Wenn Sie sicherstellen wollen, dass jeder, der eine moralische Verfehlung in seiner Biografie hat, nicht mehr zur Wahl aufgestellt wird, dann hätten wir tatsächlich ein recht eigenartiges Auswahlverfahren.

Nein, die Wählerinnen und Wähler sind souverän genug zu sagen: In Kenntnis deiner Vergangenheit schenken wir dir das Vertrauen oder nicht. Dann finde ich es von einem politischen Vertretungsgremium arrogant, nicht nur denjenigen, die man gewählt hat, zu sagen: „Du bist parlamentsunwürdig“, sondern damit gleichzeitig das Urteil über die Wählerinnen und Wähler zu fällen. Das, meine ich, ist ein Fehler.

(Zuruf von der SPD: Ach!)

Dabei bleibe ich.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Wir kommen damit zum Abstimmungsverfahren. Wie ich bereits eingangs ausgeführt habe, bedarf der Beschluss einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Abgeordneten, mindestens jedoch der Mehrheit der Mitglieder des Landtags, was 53 wären.

Ich stelle jetzt den Einsetzungsbeschluss zur Abstimmung und lasse das Ergebnis auszählen. Wer für den Einsetzungsantrag stimmt, den bitte ich um das Kartenzeichen. Ich bitte auszuzählen. - Das sind 67 Stimmen aus den Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CDU und SPD. Wir kommen jetzt zu den Gegenstimmen. - Gegen den Antrag stimmten 24 Abgeordnete. Stimmenthaltungen? - Eine Stimmenthaltung.

Dann können wir feststellen: Anwesend waren 92 Abgeordnete. 67 stimmten für den Antrag. 24 stimmten gegen den Antrag. Es gab eine Stimmenthaltung. Das erforderliche Quorum ist damit erreicht. Der Antrag hat somit die erforderliche Zweidrittelmehrheit, mindestens jedoch die Mehrheit der Mitglieder des Landtags erreicht und ist damit beschlossen worden.

(Zustimmung bei der CDU)

Das Haus hat sich für die Einsetzung des Ausschusses entschieden.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung

Aufarbeitung von DDR-Unrecht fortsetzen - Versöhnung fördern

Antrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 6/531

Einbringer für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist Herr Abgeordneter Herbst.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 11. November 1989, genau heute vor 22 Jahren, begingen die Bürgerinnen und Bürger in Ost- und Westdeutschland wohl eines der freudigsten, aufregendsten und faszinierendsten Wochenenden ihrer gemeinsamen deutsch-deutschen Geschichte.

Bei strahlendem Sonnenschein nahmen sie an diesem Samstag ein wahres Geschenk entgegen, das Hunderttausende mutiger und friedlicher Menschen möglich gemacht hatten. Endlich unterdrückte der Staat nicht mehr ihr Recht auf Freiheit. Weit über eine Million DDR-Bürger strömten an diesen Tag allein nach West-Berlin; es war wie ein tiefer Zug frischer Luft. In kilometerlangen Schlangen rollten die Trabis und Wartburgs über die innerdeutschen Grenzübergänge gen Westen. Es war wie die freibeweglichen Glieder einer aufgesprengten Kette.

Ich war damals neun Jahre alt. An diesem Tag fand ich meinen Klassenraum leer vor. Nur meine Lehrerin saß auf dem Stuhl und weinte. Das ist einer der vielen Momente aus diesen Tagen, die sich fest in mein Gedächtnis eingebrannt haben.

Auch in meiner Familie wurde in diesen Tagen viel geweint. Der Ballast aus Angst und Schmerz, der unsere familiären Beziehungen über Jahrzehnte belastet hatte, fiel ab wie Blei. Wenige Tage später konnte ich zum ersten Mal meine Großeltern im niedersächsischen Celle besuchen - nur einen Steinwurf von Magdeburg entfernt, aber auf den Geografiekarten meiner Kindheit begann westlich von Magdeburg eine graue Fläche ohne Struktur.

Für meine Familie und für Millionen andere Menschen begann mit dem Ende des SED-Regimes und seiner ebenso monumentalen wie kleingeistigen Ideologie wahrlich eine neue Zeitrechnung. Neben der gewonnenen Meinungs-, Presse- und Bewegungsfreiheit begann für viele Menschen auch eine Zeit der Freiheit ihrer Biografien. Meine ältere Schwester durfte doch in die Erweiterte Oberschule und ihren Bildungs- und Berufsweg gehen.

Dass wir heute in einem demokratisch gewählten Parlament zusammensitzen, dessen Pforte auf den Domplatz führt, auf dem Zehntausende Menschen für freie Wahlen gestritten hatten, sollte uns Ehrfurcht vor dieser wahrhaft historischen Leistung der friedlichen Revolution des Jahres 1989 einflößen.

Diese Leistung ist Teil unserer gemeinsamen deutsch-deutschen Geschichte, die wir aus der Perspektive von Politik, Forschung, Kirche oder aus welcher gesellschaftlichen Perspektive auch immer betrachten. Sie ist Teil der individuellen Biografien der Ostdeutschen, die danach individuelle Biografien in einem vereinten Deutschland mit einem anderen politischen System unter anderen Rahmenbedingungen weiterführten.

Dieses Verhältnis weist auf die unterschiedlichen Betrachtungsweisen hin, zu deren Berücksichtigung wir bei der Betrachtung und Aufarbeitung der DDR-Geschichte verpflichtet sind.

In der DDR wurden die Persönlichkeits- und Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger durch staatliches Handeln systematisch verletzt. Doch so individuell dieses Unrecht hinsichtlich seines Ursprungs, seiner Intensität und seiner Ausprägung untersucht werden muss, so individuell sind die Biografien derer zu betrachten, die unter diesen Bedingungen gelebt und gewirkt haben.

Viele Menschen haben in der DDR ihr individuelles Glück erlebt und gelebt. Ich würde meine Kindheit als eine glückliche Kindheit bezeichnen, auch wenn äußere Umstände zu vielen Beeinträchtigungen führten, die sie geprägt haben. Für die Gesellschaft ist es wichtig, dass wir über jene Menschen nicht selbstgerecht urteilen. Das sind wir unseren Mitmenschen in der Gesellschaft schuldig.

Politik hat den Auftrag, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass ein differenzierter Blick auf unsere Geschichte möglich ist. Schwarzweißmalerei

darf es nicht geben, auch nicht in der Frage des Umgangs mit dem DDR-Unrecht;

(Zustimmung von Frau Bull, DIE LINKE)

denn Schwarzweißmalerei führt zu keinem Erkenntnisgewinn. Im Gegenteil: Schwarzweißmalerei verdeckt den Erkenntnisgewinn.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

Die Aufgabe, unsere gemeinsame Geschichte zu erklären und das geschehene Unrecht aufzuarbeiten, ist eine bleibende Aufgabe. Sie wird es auf unabsehbare Zeit bleiben.

Die Realität in unserer Gesellschaft zeigt uns aber, dass ganze Gruppen unserer Gesellschaft Gefahr laufen, von ihrem Recht auf Erkenntnisgewinn gar keinen Gebrauch machen zu können. Deshalb halten wir es für wichtig, dass die Vermittlung von Wissen über die politischen Verhältnisse in der DDR qualitativ und quantitativ auch in unserem Bundesland verbessert wird.

Nur wer Kenntnisse über die individuelle und gemeinsame Geschichte besitzt, kann soziale Ungleichheiten und Unterschiede in Ost und West verstehen und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit eines aktiven Eintretens für einen pluralistischen und demokratischen Rechtsstaat entwickeln. Deshalb muss die Vermittlung von Wissen über die politischen Verhältnisse in der DDR insbesondere in den Schulen, aber auch im Bereich der Erwachsenenbildung verbessert werden.

Zu den besonders wichtigen Aufgaben in unserer Gesellschaft gehört es auch, geschehenes Unrecht systematisch aufzuarbeiten. Deshalb muss die Erforschung und Auswertung des Repressions- und Überwachungsapparats der DDR auf sicheren, auch auf finanziell und institutionell sicheren Beinen stehen. Die Finanzierung und Ausstattung der bestehenden Forschungseinrichtungen, der Bildungsträger, der Gedenkstätten und der Opfervereine muss langfristig gesichert sein.

Ich möchte die Arbeit dieser Institutionen an dieser Stelle besonders hervorheben, weil sie es durch ihren Einsatz und durch ihre Arbeit erst ermöglichen, dass immer mehr Fakten und Zusammenhänge über das Ausmaß der staatlichen Repression in der DDR ans Licht gelangen und dass die Opfer Beratung und Hilfe in Anspruch nehmen können.

Es steht fest, dass der Erforschung der Rolle der Staatssicherheit auch in Zukunft eine maßgebliche Bedeutung zukommen muss. Deshalb sind Forderungen nach der Abschaffung und Abwicklung der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen oder auch der Landesbeauftragten kontraproduktiv und gefährlich.

Wir sind es den Opfern der SED-Diktatur schuldig, alle Quellen von Repression und Unrecht in den

Blick zu nehmen. Die Stasi war eben nur Schild und Schwert der Partei. Sie handelte als wichtigstes, aber eben nicht als einziges Unterdrückungsinstrument der SED.

Der Auftrag, in ihren Unterlagen zu forschen und diese für die Aufarbeitung zur Verfügung zu stellen, ist gesetzlich klar definiert. Anders verhält es sich mit den vielen anderen staatlichen oder SEDVorfeldorganisationen, die auf ihre Weise fester Bestandteil des Unrechtssystems gewesen sind. Die Rolle der Polizeiorganisationen, der NVA oder der Kampfgruppen der Arbeiterklasse innerhalb des DDR-Repressionssystems ist noch längt nicht ausreichend erforscht.

Wer durch polizeiliches Handeln Nachteile erfahren hat, wer willkürlich seinen Beruf verloren hat oder wessen Bildungslaufbahn jäh gestoppt wurde, der kann heute nur schwer etwas über die Hintergründe erfahren und kaum gezielte Beratung erreichen.

Wir halten es daher für dringend notwendig, den Fokus der Forschung, Beratung und Aufarbeitung über die Stasi hinaus auszudehnen und die Behörde des Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen um diese Aufgabenbereiche zu erweitern, weil die Kompetenzen, die methodischen Fähigkeiten, die Erfahrungen und das Wissen über diese Arbeit nirgendwo besser verankert sind als dort.

In Brandenburg und in Thüringen ist dieser Weg bereits erfolgreich beschritten worden. Der länderübergreifende Erfahrungsaustausch zwischen den Behörden zeigt, wie wichtig es war, diese Erweiterung vorzunehmen. Deshalb sollten auch in Sachsen-Anhalt die notwendigen Schritte unternommen werden, um den Umbau der Behörde zu einem Ziel Ihrer Regierung, Herr Dr. Haseloff, und des Parlaments zu machen.

Vielen Menschen wurde durch staatliches Unrecht in der DDR Gewalt angetan. Die Dimensionen reichten dabei von seelischer über psychische bis hin zu schwerster körperlicher Gewalt durch politische Haft oder Folter und sogar bis zum Tod. Derartige Brüche bleiben in einer Gesellschaft nicht folgenlos. Sie reißen Wunden auf und hinterlassen Narben.

Damit wurde auch der Gesellschaft insgesamt Gewalt angetan, was wir heute in unserem Zusammenleben spüren: Menschen, die sich nicht in die Augen sehen können, Zur-Rede-Gestellte, die stumm bleiben, Ängste und Träume, die immer wieder hochkommen, das Wissen um den anderen, der bis heute im Verborgenen bleibt, die Demütigung, die es bedeutet, einem Peiniger beispielsweise aus einem Verhör jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit zu begegnen - diese Fälle gibt es tagtäglich tausendfach.

Wenn einer Gesellschaft Gewalt angetan wurde, dann braucht es Versöhnung. Die im vergangenen