Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Die sieben Wochen alte Leonie wurde tot neben ihrer Mutter gefunden, die am Morgen noch mehr als zwei Promille Alkohol im Blut hatte. Der Säugling hatte Schaum vor dem Mund. Ersten Vermutungen zufolge hat die Mutter den Säugling nicht richtig gefüttert, sodass Leonie an ihrem Erbrochenen erstickte. Die Mutter wurde seit Jahren vom Jugendamt betreut. Es war bekannt, dass sie unter Alkoholsucht litt. Die Zeichen deuten auf Kindesvernachlässigung als Folge von Verwahrlosung hin.
Der zweijährige Kevin lag tot im Kühlschrank des Vaters. Sein linker Oberschenkel, das rechte Schienbein und der linke Unterarm waren gebrochen. Er hatte Blutungen am Schädel. Die Familie von Kevin stand seit seiner Geburt unter der Aufsicht des Jugendamtes. Die Eltern waren drogensüchtig.
Es ist wichtig und begrüßenswert, dass wir über diese tragischen Fälle von Kindesmisshandlung und Kindestötung öffentlich debattieren. Aber es ist auch typisch, dass es immer eines Aufschreis wie beispielsweise des Briefes der Lehrer der Berliner Rütli-Schule, eines NPDWahlerfolges oder der soeben geschilderten entsetzlichen Vorfälle bedarf, um den Blick der Öffentlichkeit auf die Belange dieser schutz- und rechtlosen Kinder zu lenken.
Wenn es gelingt, so ist dieser Blick oft geprägt von einer folgenlosen Elendsfaszination, gar von der klammheimlichen Erleichterung, dass die eigenen Kinder es besser getroffen haben.
2,5 Millionen Jugendliche unter 18 Jahren werden in Deutschland in materiellen Verhältnissen groß, die nach offizieller Lesart als „Armut“ bezeichnet werden. Als arm gilt, wer über weniger als 60 % des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens verfügt; so lautet die Definition der Europäischen Union.
In Deutschland sind das 938 €. Nach dieser Abgrenzung ist der Anteil der Armen von 1998 bis 2003 von 12,1 % auf 13,5 % gestiegen. Armut bedeutet nicht sogleich die Erklärung für Kindesmissbehandlung und Kindestötung oder schlechte Erziehung, damit ich hier nicht falsch verstanden werde. Aber sie ist eine Gefahr im Zusammentreffen mit anderen Faktoren, nämlich mit Dauer
arbeitslosigkeit, mit mangelnden Deutschkenntnissen, mit Gewalt in der Familie, mit Alkohol- und Drogenmissbrauch.
Diesen Menschen fehlt zunehmend die Energie für ihre Kinder. Sie haben über lange Zeit gelernt, dass alles sowieso keinen Sinn hat. Viele Arbeitslose leiden unter dem Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Bei dem, der lange nicht gebraucht wird, ist die Gefahr sehr groß, dass er irgendwann zur Flasche greift. Wenn man sich selbst nicht mehr spürt, wie soll man dann ein Kind spüren?
Dabei bekommen gerade in den so genannten sozial schwachen Schichten viele Frauen Kinder, weil sie denken, dass dann endlich jemand für sie da ist. Dann stellen sie fest, dass ihnen das Kind viel abverlangt. Je nach Temperament kann das in Wut oder in Resignation münden.
Die offiziellen Zahlen über die Anzahl misshandelter Kinder sind leider nur ein Teil der Wahrheit. Die Dunkelziffer ist vermutlich sehr viel höher. Verwahrlosung beginnt bereits dort, wo das Kind bis nachts um 1 Uhr fernsieht und dann zum Frühstück nichts weiter als eine Tüte Chips bekommt.
In Deutschlands Problemvierteln sind die Straßen oft menschenleer. Viele werden apathisch, ziehen sich in ihre Wohnungen zurück. Ihre Kinder kennen keine Spiele, bewegen sich nicht und sind oft krank.
Der Kinderschutzbund weiß, wann die Verwahrlosung von Familien beginnt. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn hilflose Eltern mit ihrem schreienden Säugling kommen, weil das Baby seit Tagen die Nahrungsaufnahme verweigert. Ein Arzt diagnostizierte eine heftige Entzündung im Rachenraum. Die Mutter hatte nicht gewusst, dass man den Schnuller für das Baby auskochen muss.
Ein anderes Paar hat sein Kind mit Dosenmilch gefüttert. Für einen Säugling, dessen Magen- und Darmtrakt noch nicht richtig ausgebildet ist, kann das tödlich sein.
Ein Beispiel, das mir eine Kinderärztin erzählt hat, zu der eine Mutter gesagt hat: Ich ziehe auch mein drittes Kind nicht mit der Milchflasche, sondern mit der Colaflasche groß; das hat den anderen beiden auch nicht geschadet.
Wir haben es bundesweit mit wenigstens 1,5 Millionen Kindern und Jugendlichen zu tun, die hiervon betroffen sind. Hier muss der Staat Verantwortung zeigen. Dazu ist er auch verpflichtet.
Es ist eine Offensive im Namen derer erforderlich, die nicht einfach deshalb abgeschrieben werden dürfen, weil ihre Startbedingungen dermaßen schlecht sind. Wir brauchen - das ist heute schon mehrfach angesprochen worden - ein durchgehendes Frühwarnsystem von den Geburtskliniken, den Hebammen, den Kinderärzten bis hin zu den Kitas und Schulen - jede Station vernetzt mit Sozialarbeit.
Wir müssen ein faires Zukunftsbild entwickeln, ohne Schnüffelstaat zu werden. Wer das nicht will, muss weitere Kinderdramen in Kauf nehmen. Diese Aussage stammt nicht von mir, sondern vom Vizepräsidenten des Kinderschutzbundes Professor Hubertus Lauer. Dieser Aussage kann ich mich nur anschließen.
Ein weiterer Punkt, der ebenfalls heute schon angesprochen worden ist: Das A und O bleibt auch aus meiner
Sicht die frühkindliche Bildung in den Kindertagesstätten und später in den Grundschulen. Hier haben wir das Potenzial, die Weichen zu stellen, damit die Kinder nicht geradewegs in die Sackgasse fahren.
Wir wissen, dass viele Kinder aus den betroffenen Familien Zuhause kaum Bücher haben und oft vor dem Fernseher geparkt werden. Zum Teil mangelt es an ganz alltäglichen Fertigkeiten wie Essen, Anziehen oder fair mit anderen Kindern zu spielen. In den Kindergärten können wir ihnen das geben, was sie Zuhause nicht bekommen. Zudem haben wir die Chance, auf die Familien zu wirken, sie einzubeziehen. Hier sind wir mit dem Umbau der Kitas zu Eltern-Kinder-Zentren auf dem richtigen Weg.
Auf eine Besonderheit bei den jetzt bekannt gewordenen Fällen möchte ich Sie, meine Damen und Herren, noch aufmerksam machen. In allen Fällen waren die Eltern und die Kinder den Jugend- bzw. den Sozialämtern bekannt. Kann es sein, dass Kinder- und Jugendhilfe in zunehmendem Maße nach Kassenlage erfolgt?
Entscheidungen darüber, ob Kinder aus Problemfamilien in außerfamiliäre Obhut gegeben werden, werden anscheinend nicht mehr allein nach fachlichen Gesichtspunkten gefällt. Eine Heimunterbringung ist nämlich teuer. Auch über Hilfen für die Erziehung - Frau Ministerin hatte es angesprochen - könnte man vielen Kindern einen Ganztagsanspruch in Kitas sicherstellen, wenn sie ihn dringend benötigen. Hiervon wird in vielen Kommunen aus dem Spardruck heraus kein Gebrauch gemacht.
Gestatten Sie mir zum Abschluss noch zwei Anmerkungen. Die demografische Entwicklung wird auch in diesem Land immer mehr zum Zauberwort. Dabei ist das Wort Kosteneinsparungen ein untrennbarer Bestandteil der demografischen Entwicklung geworden. Nun gibt es durchaus Bereiche, in denen die demografische Entwicklung zu Kosteneinsparungen führen kann. Der hier thematisierte Bereich gehört aber mit Sicherheit nicht dazu. Das will ich Ihnen an einem kurzen Beispiel erläutern.
Wir werden in den Haushaltsberatungen über Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen reden. Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen sollen an den Schlüssel 1 : 40 000 Einwohner angepasst werden. Das könnte dazu führen, dass insbesondere im ländlichen Raum die Beratung ausgedünnt würde, obwohl - das ist auch bekannt - der Bedarf an Beratung überproportional ansteigt. Das können wir so nicht wollen, zumal unser Frühwarnsystem, das wir alle wollen, dann schon wieder Lücken aufweisen würde.
Noch eine letzte Bemerkung für diejenigen Kolleginnen und Kollegen, denen meine Ausführungen zu sehr in Richtung staatlicher Reglementierung gehen, die der Auffassung zuneigen, jeder trage selbst Verantwortung und gerade Eltern müssten diese auch wahrnehmen: Die so genannten Sorgenkinder sind buchstäblich unsere Kinder. Das ist ein unschön instrumentelles Argument, aber es stimmt. Angesichts der Zurückhaltung der gut Ausgebildeten in puncto Familiengründung wird es über kurz oder lang von existenzieller Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft sein, wie viele Kinder aus schwierigen Verhältnissen es aus diesem Kreislauf herausschaffen, es sogar an die Universität schaffen. - Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Es ist ein sehr schwieriges Thema, dem wir uns heute als Parlament stellen wollen.
Ich denke, Kindesmisshandlung und Kindestötung macht alle hier im Saal betroffen und mit Sicherheit auch viele Menschen in Sachsen-Anhalt. Doch Betroffenheit hilft den Kindern nicht, vor allem nicht den Kindern, denen wir alle noch helfen könnten.
Politik muss daher in der Lage sein, ein Problem zu erkennen, dessen Ursache zu analysieren und mögliche Lösungsansätze zu finden - alles in allem ein sehr komplexes Vorgehen.
Kindesmisshandlung ist in ihrer Art und Weise ebenso komplex. Sie kann sowohl physischer als auch psychischer Natur sein. Aber auch das sind nur zwei Fassetten.
In einer Vereinbarung zwischen einer Kommune und einem freien Träger der Jugendhilfe ist beispielsweise zu lesen, dass Kindeswohlgefährdung ein Unterlassen oder Handeln sei, das mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erheblichen körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes führe. - Doch was steckt hinter diesem Satz?
Kindesmisshandlung und -verwahrlosung beginnt bereits da, wo Kinder - wie vorhin bereits gesagt - mit dem Babysitter Fernseher alleingelassen werden oder wo sie zum Frühstück vielleicht nur eine „Milchschnitte“ oder vielleicht auch gar nichts bekommen, weil die Eltern noch schlafen. Kinder werden sich selbst überlassen, erleben keine Liebe, keine Fürsorge, keine Familie.
Kindesmisshandlung ist natürlich auch das Ohrfeigen oder das Schlagen von Kindern. Laut einer Unicef-Statistik sterben in Deutschland jede Woche zwei Kinder an den Folgen von Kindesmisshandlung oder -vernachlässigung.
So komplex, wie das Problem ist, so komplex sind auch die Gründe, die dazu führen. So ist auch die Verantwortung von Politik sowohl auf Bundes- als auch auf Landes- und kommunaler Ebene nicht zu verschweigen. Der jahrelange Sparzwang auf allen Ebenen macht sich im besonderen Maße in der Kinder- und Jugendhilfe bemerkbar. Parallel dazu wachsen Armut und soziale Gegensätze.
Das knüpft an die vorhergehende Debatte über die soziale Spaltung der Gesellschaft an. Die Armut in Deutschland wächst stetig und die Armut bei Kindern wächst in einem beängstigend rasanten Tempo. Wir können von einer Infantilisierung der Armut sprechen.
Vor einem Jahr sprachen wir noch davon, dass jedes vierte Kind in Sachsen-Anhalt in Armut lebt. Laut aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ist nunmehr schon fast jedes dritte Kind im Land von Armut betroffen. Davor dürfen wir nicht die Augen verschließen.
Die Zahl der Erwerbslosen ist nach wie vor sehr hoch, und wir haben infolgedessen damit zu tun, dass es mehr und mehr Menschen gibt, denen der Sinn des Lebens abhanden gekommen ist oder abhanden kommt. Sie lei
den unter dem Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Leider ist dann die Gefahr sehr groß, dass man selbst der Verwahrlosung anheim fällt. Ja, Frau Budde, wir sollten an dieser Stelle den Mut haben, tatsächlich von Verwahrlosung zu sprechen.
Nun ist Kindesmisshandlung nicht allein auf das Thema Geld zu reduzieren, aber sie ist eben auch eine Folge der sich weiter öffnenden sozialen Schere.
Ein sehr wichtiger Punkt, den Politik angehen muss, ist aus der Sicht der Linkspartei.PDS, die Gesetzesfolgenabschätzung hinsichtlich der Wirkungen auf Kinder und Familien zu erweitern. Ich sage Ihnen schon vorher: Das wird mit Sicherheit weh tun; denn über allem schwingt das Fallbeil mit der Aufschrift Konsolidierungszwang.
Ich gebe Ihnen grundsätzlich durchaus Recht, wenn Sie sagen, dass wir jetzt nicht auf Kosten späterer Generationen leben dürften. Sparen ist aber kein Selbstzweck und wird zum Problemfall, wenn dem insbesondere Kinder zum Opfer fallen.
Ich werde an dieser Stelle erneut in eine tiefe Wunde in Sachsen-Anhalt stechen: Ich hätte großes Interesse daran zu wissen, zu welchem Ergebnis eine Gesetzfolgenabschätzung beim Kinderförderungsgesetz geführt hätte. Da hilft auch nicht die Floskel, wir hätten bundesweit das beste Gesetz zur Kinderbetreuung. Das sagt nämlich in diesem Punkt noch gar nichts aus.
Frau Dr. Kuppe, ich stehe an Ihrer Seite, wenn Sie sagen, dass Kindergärten Kindern das geben können, was sie zu Hause nicht bekommen; denn es kann eben nicht so einfach gesagt werden - wie in diesem Saal in der damaligen Debatte geäußert -, dass alle Erwerbslosen per se am besten für ihre Kinder sorgen könnten. Herr Haseloff, wenn Sie von paradiesischen Zuständen sprechen, die wir uns herbeiwünschten, dann sehe ich das als puren Zynismus; denn Kinder können sich eben nicht selbst helfen.
Wir dürfen die Augen nicht vor den Konflikten und Problemen verschließen, die in den Familien existieren, sondern müssen sie benennen und Lösungen dafür suchen, auch auf die Gefahr hin, dass damit finanzielle Folgen für das Land verbunden sind.