Protocol of the Session on October 20, 2006

Das Jugendamt der Landeshauptstadt beabsichtigt ferner, mit der Ärzteschaft und mit den Schulen Kooperationsvereinbarungen abzuschließen, um sie als Partner in die Sorge für Kinder einzubinden.

Ein zweites Beispiel. Die Stadt Halle baut in den Stadtteilen und Wohnquartieren ein Pro-Aktiv-System auf. In jeweils einer Einrichtung, sei es eine Kita, ein Hort oder eine Jugendfreizeiteinrichtung, werden die Dienste an ein sozialpädagogisches Zentrum angebunden.

Dieser primär präventive Ansatz bindet alle Dienste im Bereich der Jugendhilfe und der sozialen Begleitung, Beratung und Betreuung ein und knüpft an die unmittelbare Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger an. Die Sozialraumorientierung der einzelnen Stadtteile wird heruntergebrochen auf die einzelnen Wohnquartiere. Es findet eine Kooperation mit Wohnungsgesellschaften statt. Die Bevölkerung wird eingebunden. Auch das ist ein wichtiger und ein richtiger Ansatz.

Aber gesellschaftliche Verantwortung für das Wohl der Kinder darf nicht allein bei der Jugendhilfe oder bei anderen sozialen Behörden abgeladen werden. Es ist unverzichtbar, sich fachübergreifend des Themas anzunehmen.

Ich finde es daher nur konsequent, dass beispielsweise der Präsident des Landgerichtes Stendal Akteurinnen und Akteure aus den Landkreisen sowie Vertreter der Jugendämter, von Familien- und Vormundschaftsgerichten, von Jugend- und Amtsgerichten, von der Staatsanwaltschaft und von der Polizei zu einem Kolloquium zu dem Thema „Kommunikatives Netzwerk Kindeswohl“ eingeladen hat. Es ist auch gut, dass bei dieser Veranstaltung der Datenschutzbeauftragte unseres Landes gleich mit einbezogen wird, um mögliche Hemmnisse des Datentransfers unmittelbar mit ihm diskutieren zu können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen weiterhin ein Frühwarnsystem in Sachsen-Anhalt. Eine ganz wichtige Rolle dabei können Familienhebammen übernehmen; Herr Kurze hat es schon angesprochen. Die Hebammen genießen ein großes Vertrauen in der Bevölkerung. Es ist völlig normal, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen und sich ihnen anzuvertrauen.

Darauf aufbauend können Familienhebammen über die Geburt eines Kindes hinaus Familien mit sozialen Problemen begleiten. Im Mittelpunkt des Projektes in Sachsen-Anhalt stehen Familien, deren Erziehungskompetenz gestärkt werden soll. Das können zum Beispiel minderjährige Mütter, Eltern mit Suchtproblemen oder mit psychischen Problemen, Eltern mit Migrationshintergrund, Eltern mit eingeschränkten Fähigkeiten, Eltern mit besonderen Problemen hinsichtlich der materiellen Ressourcen sein.

Da Angebote staatlicher Hilfe von manchen dieser Familien als Einmischung empfunden werden, ist eine Hebamme, so glaube ich, besonders geeignet, um eine unkomplizierte Beratungs- und Unterstützungsleistung zu gewähren. Vom Bund Deutscher Hebammen wurde dazu eine Fortbildungs- und Zusatzqualifikation zertifiziert. In Sachsen-Anhalt läuft die erste Fortbildungsreihe noch bis zum Dezember 2006. Inhaltlich reicht sie vom Adoptionsrecht bis zur Zahngesundheit. Die zehn Hebammen, die in dem Projekt tätig sind, gehen bereits seit Juli 2006 in Familien hinein. Ich will das Projekt mit dem Landesverband der Hebammen zusammen ausbauen.

Bereits zu Beginn des Jahres 2007 soll eine zweite Fortbildungswelle starten. Die Zahl der Familienhebammen können wir hoffentlich im kommenden Jahr verdoppeln. Ich hoffe, dass genügend Interesse vonseiten der Hebammen zu verzeichnen sein wird.

Ich stelle mir vor, dass wir perspektivisch pro zukünftigem Landkreis und pro kreisfreier Stadt mindestens zwei Familienhebammen einsetzen werden. Dann werden wir also über mindestens 28 Hebammen im Land verfügen.

Dieses Familienhebammenprojekt in Sachsen-Anhalt stellt aber nur einen Baustein in einem Frühwarnsystem dar. Ich erwähne nur kurz das von dem Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes in Kooperation mit dem Landesverband der Kinder- und Jugenderholungszentren Sachsen-Anhalt erarbeitete Familienprojekt „Elan“. Ich erwähne die Aktivitäten der sozialen Beratungsstellen. Ich erwähne die Initiativen der Familienverbände und auch die vom Land in den Jahren 1999 und 2002 mit initiierten Leitfäden zur Identifizierung von Gewalt an Kindern für die Ärzteschaft, für Erzieherinnen und Erzieher sowie für die Lehrerschaft.

Für mich reicht das Frühwarnsystem vor allem auch in unsere Kindertagesstätten hinein. Ich appelliere an alle Erzieherinnen und Erzieher und an die Eltern noch genauer hinzuschauen und hinzuhören - auch was nebenan geschieht. Manche Tragödie könnte dadurch vielleicht frühzeitig entdeckt und sogar verhindert werden.

(Zustimmung bei der SPD, von Herrn Steinecke, CDU, und von Herrn Kurze, CDU)

Gerade in den Kindertagesstätten können aber auch Weichen gestellt werden. Wir haben dort die Chance, den Teufelskreis von Benachteiligung zu durchbrechen und Kinder stark zu machen. Deshalb lege ich so großen Wert auf die Verbesserung der frühkindlichen Bildung in unseren Tageseinrichtungen. Das ist eine geeignete

Strategie, um auch Kindern aus schwierigen sozialen Verhältnissen gleichwertige Startbedingungen für den späteren Schulbesuch und für eine erfolgreiche Berufsbildung zu geben und eine selbständige, später von staatlichen Sozialleistungen möglichst unabhängige Lebensführung zu ermöglichen.

Herr Gallert hat vorhin nach der Halbtags- und Ganztagsbetreuung in Kitas gefragt. Auch wenn er jetzt nicht anwesend ist, möchte ich der Linkspartei.PDS den Hinweis geben: Auch wenn Eltern nicht erwerbstätig sind oder sich nicht in einer Aus- und Weiterbildung befinden, das Wohl und die Entwicklung eines Kindes jedoch eine Ganztagsbetreuung erfordern, ermöglicht § 3a des Kinderförderungsgesetzes, dass sich die Landkreise für eine ganztägige Betreuung in den Kitas als sozialpädagogische Familienhilfe entscheiden können.

(Herr Kurze, CDU: Richtig!)

Nur etwa die Hälfte der Landkreise nimmt diese Möglichkeit des Kinderförderungsgesetzes auch wahr. Der Landkreis Bernburg geht zum Beispiel - das ist bisher der mir bekannte höchste Anteil - für 26 Kinder diesen Weg.

Zu einem Frühwarnsystem gehört für mich aber auch, die Vorsorgeuntersuchungen im Kindesalter neu zu ordnen und verbindlich zu machen. Der Bundesrat hat die Bundesregierung beauftragt, die rechtlichen Grundlagen dafür zu prüfen. Ich hoffe, dass wir bald auch in diesem Feld erfolgreich sein werden.

(Zustimmung bei der SPD, von Herrn Steinecke, CDU, und von Herrn Kurze, CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen an der Fülle der aufgezeigten Maßnahmen - Herr Kurze hat noch einige mehr genannt -, dass bereits von vielen in unserem Land viel getan wird. Das entbindet uns aber nicht von weiterem engagierten Handeln und auch nicht von der Verantwortung, engagiert weiter voranzugehen und insbesondere auch bei der Umsetzung der begonnenen Projekte konsequent zu sein. Wir dürfen an dieser Stelle nicht stehen bleiben, sondern wir müssen darauf achten, dass die begonnenen Projekte in der nötigen Qualität umgesetzt werden. Wir müssen auf die Vernetzung der Akteurinnen und Akteure achten. Wir müssen neue Initiativen entwickeln.

Wir können ein Zeichen setzen und die Rechte der Kinder in der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt stärker als bisher verankern. Ich unterstütze die Bundesministerin Frau von der Leyen ausdrücklich dabei, auch das Grundgesetz noch stärker um die Rechte der Kinder anzureichern. Damit wird eine gesellschaftliche Norm gesetzt.

(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU und von der Regierungsbank)

Wir müssen prüfen, welche weiteren Bundes- und Landesgesetze geändert werden müssen, um das Kindeswohl besser zu berücksichtigen. Wir können zum Beispiel mit den freiwilligen Diensten in unserem Land oder auch mit dem Kinderschutzbund ein Projekt „Familienpatinnen und -paten“ organisieren, um das bürgerschaftliche Engagement auch in diesem Bereich zu stärken. Wir können die lokalen Bündnisse für Familien in einem noch breiteren Umfang als örtliche Netzwerke zum Wohle der Kinder nutzen.

Das ist beileibe keine abschließende Liste, aber sie zeigt ganz gewiss einen Teil der vorhandenen Handlungs

bedarfe und der Handlungsoptionen auf und beschreibt einen Teil unserer zukünftigen Aktivitäten. Dabei bitte ich um Ihre Unterstützung. - Danke.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Danke sehr, Frau Ministerin. Frau von Angern wollte eine Nachfrage stellen.

Ja, bitte sehr.

Frau Dr. Kuppe, Sie erwähnten die Möglichkeit laut Kinderförderungsgesetz, dass Landkreise für Halbtagskinder, bei denen ein entsprechender Bedarf aufgrund des Wohl und Wehes des Kindes besteht, Stunden hinzukaufen können. Das ist richtig. Ich muss sagen, das ist auch aus meiner Sicht ein Schritt in die richtige Richtung.

Meine Frage ist: Ist Ihnen bekannt, dass die Anträge, die diesbezüglich gestellt werden, häufig abschlägig beschieden werden, mit der Begründung, dass das Geld dafür nicht ausreichend sei?

Ich kenne diese Diskussion in etlichen Landkreisen. Ich halte sie aber für falsch, weil ansonsten möglicherweise noch ganz andere Maßnahmen ergriffen werden müssen oder Kinder untergehen. Das können wir uns als Gesellschaft wirklich nicht leisten.

Es gibt diese Möglichkeit. Ich werbe bei den Gebietskörperschaften dafür, dass sie diese Möglichkeit in Anspruch nehmen. Das ist die einfachste, aber eine ganz wirksame Möglichkeit und Maßnahme, um Kinder zu unterstützen und damit eine wirksame Familienhilfe zu gewährleisen. Wir können dieses System bei Weitem noch ausbauen.

(Zustimmung bei der SPD und von Herrn Kurze, CDU)

Danke sehr, Frau Ministerin. - Für die FDP-Fraktion wird Frau Dr. Hüskens sprechen. Doch zuvor haben wir die Freude, Damen und Herren des Heimat- und Schützenvereins Salsitz bei Zeitz begrüßen zu können. Seien Sie herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Bitte sehr, Frau Dr. Hüskens.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fälle von Kindstötung und Kindsmisshandlung erschrecken uns in Deutschland alle paar Wochen wieder. Es gibt immer wieder tot aufgefundene Kinder, ausgesetzte Säuglinge, Misshandlung von Kindern und eine kontinuierliche Vernachlässigung.

Wir reagieren darauf mit Betroffenheit und versuchen, den Ursachen beizukommen, die zum jeweils letzten Fall

geführt haben. In Bremen führt das jetzt dazu, dass die Arbeit der Behörden besser koordiniert werden soll, die sich um Kinder in problematischen Situationen kümmern. Ein entsprechendes Frühwarnsystem solle noch in diesem Jahr starten, kündigte Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen an. Justizministerin Brigitte Zypries sagt, dass die Anfang des Jahres eingesetzte Arbeitsgruppe „Kindeswohl“ bald Vorschläge vorlegen werde. Von der Leyen erklärt, die Abstimmung zwischen den zuständigen Behörden solle so verbessert werden, dass ein Kind nicht in einem Vakuum aus Verantwortlichkeiten verloren gehe. Das Programm solle im November zunächst in fünf Städten in Norddeutschland starten. Für das Projekt sind 10 Millionen € eingestellt.

Ich glaube, dies zeigt sehr gut, wie wir reagieren. Auf diese Weise haben wir in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Instrumenten entwickelt, die mehr oder weniger geeignet sind, Fälle von Misshandlungen oder Tötungen zu vermeiden.

Frau Ministerin Kuppe und Herr Kurze haben bereits sehr umfangreich aufgezeigt, welche Instrumente wir in unserem Bundesland gefunden haben, die wir in den letzten Jahren entwickelt haben. Frau Kuppe hat dargestellt, was wir zukünftig an weiteren Instrumenten einführen wollen.

Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir alle wissen aber, dass wir damit zwar Vernachlässigung und Misshandlungen beenden können, aber dass wir sie nicht im Vorfeld vermeiden können. Wir wissen, dass wir diesem Phänomen damit nicht wirklich begegnen können.

Aus diesen Gründen kommt Hebammen, Kinderärzten, Lehrern, Erziehern, aber auch Freunden, Verwandten und Nachbarn eine enorme Bedeutung zu. Nur sie können oft den Behörden den Hinweis geben, der es ermöglicht, tätig zu werden. Deshalb sollten wir ihnen als Politiker den nötigen gesellschaftlichen Rückhalt geben, auch wenn sie Eltern einmal zu Unrecht verdächtigen. In diesem Dilemma steckt bei uns doch jeder Bürger: Ist eine Anzeige bei der Behörde fragwürdiges Denunziantentum oder ist es engagierter Bürgersinn?

Umso erfreulicher ist es, dass etwa in Berlin immer mehr misshandelte und vernachlässigte Kinder durch Hinweise von aufmerksamen Nachbarn entdeckt werden und Behörden wie Wissenschaftler davon ausgehen, dass das kein Indiz dafür ist, dass die Zahl der Fälle steigt, sondern dass tatsächlich das Dunkelfeld aufgehellt wird. Noch viel zu oft sehen Menschen weg, die in der Lage wären zu helfen, und sagen sich: Es geht mich nichts an, sollen sich doch andere darum kümmern und vor allem soll dies der Staat tun.

Die gleichen Probleme wie die Nachbarn hat auch die Verwaltung, die tätig werden muss. Auch sie befindet sich jedes Mal im Zweispalt zwischen den Rechten der Eltern und der Sorge um das Wohl des Kindes. Ich fürchte, dass auch eine Änderung der Verfassung in diesem Bereich keine Klarheit geben wird.

Man muss sich immer die Fragen stellen: Sind die Vorwürfe begründet oder nicht? Welche Hilfe, aber auch welche rechtlichen Maßnahmen können und müssen angeboten und angeordnet werden?

Auch hier gilt: Die rechtlichen Grundlagen sind hinreichend, aber wir müssen die Anwendung verbessern. Ich glaube, wir müssen den hier tätigen Behörden sehr häufig aus dem politischen Umfeld den Rücken stärken. Im

mer dann, wenn Behörden zu Unrecht gehandelt haben, machen auch wir uns relativ schnell ins Gebüsch und drücken uns vor der Verantwortung.

Meine Damen und Herren! Wir werden in unserer heutigen Debatte auch dieses Problem nicht lösen. Sicher ist, Eltern sorgen sich um ihre Kinder und geben ihnen die bestmöglichen Bedingungen. Aber es gibt Ausnahmen. Den wenigen, aber dramatischen Fällen werden wir mit weiteren Gesetzen nicht Einhalt gebieten können. Aber wir können die Bürger weiterhin sensibilisieren, die Elternkompetenz stärken und den Behörden die notwendige Unterstützung geben. Das sollten wir auch tun. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP - Zustimmung bei der CDU)