Protocol of the Session on March 18, 2010

Vier Tage später einigten sich die Allianz für Deutschland, SPD und Liberale - sie brachten 5,3 % mit - über die Bildung der Regierung einer großen Koalition. In der SPD war diese Entscheidung lange umstritten. Doch dann überzeugte uns der Wunsch nach einer Zweidrittelmehrheit. Außerdem hatten wir das seltene Glück, mit Richard Schröder einen Philosophen mit bewundernswerter praktischer Intelligenz als Fraktionsvorsitzenden zu haben, dem wir auch in schwierigen Situationen ganz vertrauen und von dem wir vieles lernen konnten.

Am 12. April 1990 wurde der CDU-Vorsitzende Lothar de Maizière zum DDR-Ministerpräsidenten gewählt. Er gab eine Woche später seine Regierungserklärung ab. Seine Pressesprecherin war die junge Physikerin Angela Merkel.

Die Arbeit hatte begonnen. Alle Aufgaben wurden von Beginn an im demokratischen Prozess, also im Widerstreit der unterschiedlichen Interessen und Überzeugungen erledigt. Zunächst wurde die vorhandene Verfassung durch wenige Änderungen für ein demokratisch legitimiertes Parlament anwendbar gemacht.

Das Parlament war fleißig. Die Zahlenbilanz von sechs Monaten lautet: 38 Plenarsitzungen, 164 Gesetze, 93 Beschlüsse und zahlreiche Stellungnahmen. Dazu kam die parlamentarische Begleitung der wichtigsten Regierungsgeschäfte, wie die Zwei-plus-vier-Verhandlungen, der Vertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und schließlich der Einigungsvertrag.

Nachdem alles geregelt war, endete die Koalition zwischen CDU und SPD. Sie zerbrach unter wenig erfreulichen Umständen, als die Entscheidungsspielräume immer enger und die Sozialdemokraten nicht mehr zwingend gebraucht wurden, während zugleich der Wahlkampf seine Schatten vorauswarf.

Meine Damen und Herren! Belastend für uns alle war in diesen Monaten die ständige Sorge um die Aufrechterhaltung eines möglichst normalen Lebens in der DDR und die unverminderte Abwanderung. Außerdem standen wir immer wieder einzelnen Wünschen der Bevölkerung im Grunde hilflos gegenüber. Wohl auch deswegen sank unser Ansehen mehr und mehr. Dazu fünf Beispiele:

Erstens. Mein leider schon verstorbener Freund Hermann Quien stand wöchentlich zu Hause in Weißenfels Rede und Antwort. Einmal herrschte man ihn an: „Nun aber mal konkret! Wie viele Arbeitsplätze hast du in dieser Woche geschaffen?“ - Er war im Kulturausschuss.

(Heiterkeit)

Zweitens. In meinem Bekanntenkreis bat eine junge Frau um ein Papier, in dem steht, was nun alles erlaubt sei und was man künftig tun müsse. - Wir haben bis heute keins.

Drittens. Am Berliner Dom gegenüber der Volkskammer richteten Studenten eine Mahnwache für mehr Stipendien ein. In einem Gespräch mit dem zuständigen Minister Meyer, an dem ich teilnahm, begründeten sie die Forderung damit, dass sie im Sommer die neue Reisefreiheit nutzen wollten und dafür mehr Geld brauchten. - Wer brauchte das nicht?

(Heiterkeit)

Viertens. Als der vorübergehende Zusammenbruch der Landwirtschaft begann, wurden uns landwirtschaftliche Produkte in großer Menge vor das Tagungsgebäude gekippt.

(Heiterkeit)

Fünftens schütteten uns Lastwagen aus Weißenfels Schuhe vor die Tür, die nun niemand mehr haben wollte. Wir auch nicht. Aber, meine Damen und Herren, wie sollte das Parlament die Menschen im In- und Ausland bewegen, solche Waren zu kaufen?

Es wäre zynisch und unangemessen gewesen, auf die bekannten Sätze aus den 80er-Jahren zurückzugreifen, die damals lauteten: Ja, ja, die Leute möchten Sozialismus und Westgeld. Oder: Sie wollen wie im Osten arbeiten, aber wie im Westen leben.

Denn hinter diesen teilweise verzweifelten Wünschen und Taten standen reale, kurzfristig unlösbare Probleme und tiefe Sorgen, geradezu existenzielle Ängste vieler Menschen. Sie haben ihren Zorn auf uns übertragen. Aus Volksvertretern wurden „die da oben“, von denen man viel verlangte, aber bald nichts mehr hielt. Dennoch sind alle solchen und andere Fragen, einschließlich der vielen zur deutschen Einigung, von den Abgeordneten ausführlich und öffentlich zur Sprache gebracht worden.

Meine Damen und Herren! Die Volkskammer war das unverzichtbare Verbindungsstück zwischen Revolution und Einheit. Sie war zugleich, was viele nicht wissen, eine Schule der Demokratie. Denn keiner der 409 Abgeordneten saß je zuvor in einer demokratisch legitimierten Volksvertretung.

Doch die so genannten Laienspieler leisteten Erstaunliches. Die Mehrzahl brachte danach ihre Erfahrungen in andere Parlamente ein. In den neuen Landtagen waren es etwa 100, bei uns 18.

Viele übernahmen später hohe Funktionen. Wolfgang Thierse wurde Bundestagspräsident. Fünf Abgeordnete, darunter Gerd Gies und Reinhard Höppner, wurden Ministerpräsidenten. Zehn Abgeordnete waren Bundes- und wenigstens 27 Landesminister, vier davon in Sachsen-Anhalt, und zwar die Herren Braun, Sobetzko und Kley sowie über viele Jahre Frau Dr. Kuppe. Dazu kamen hohe Ämter in Parteien und Fraktionen.

In unseren Landtag wechselten 16 Volkskammerabgeordnete, in der zweiten Wahlperiode schieden drei aus, zwei kamen hinzu. Später waren es nur elf, heute sind es fünf. Zwei von ihnen, die Herren Geisthardt und Kley, legten allerdings eine Pause ein, sodass mit dem heutigen Tage nur Herr Gürth, Frau Dr. Kuppe und ich auf eine 20-jährige kontinuierliche Abgeordnetentätigkeit zurückblicken können.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU - Zustim- mung bei der FDP)

Immerhin zeigt sich, dass die Volkskammer nicht nur durch ihre weitreichenden Beschlüsse wie das Ländereinführungsgesetz, sondern auch personell bis heute bei uns nachwirkt.

Meine Damen und Herren! Dieses Parlament hat in nur sechs Monaten unter Berücksichtigung fast aller inneren und äußeren Bedingungen die demokratisierte DDR einigermaßen geordnet in die deutsche Einheit geführt. Viele Personen und Kräfte des In- und Auslandes haben maßgeblich daran mitgewirkt. Sie erwarben sich dadurch unseren uneingeschränkten Dank.

Doch den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beschließen, das konnte allein die letzte, die frei gewählte Volkskammer, an die wir uns heute gemeinsam erinnern, und einige von uns können sagen: Wir sind dabei gewesen. - Danke schön.

(Lebhafter Beifall im ganzen Hause)

Herzlichen Dank, Herr Dr. Fikentscher, für die Einführung in die Debatte.

Meine Damen und Herren! Ich darf auf der Tribüne Gäste der Landeszentrale für politische Bildung und Schülerinnen und Schüler der Gemm-Sekundarschule Halberstadt begrüßen. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren! Nunmehr erteile ich für die Landesregierung Herrn Ministerpräsident Professor Dr. Böhmer das Wort. Bitte schön, Herr Ministerpräsident.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident, jedem Satz, den Sie zur Bewertung des Ereignisses gesprochen haben, und jedem Satz, den Sie, Herr Kollege Fikentscher, bei der Aufzählung der chronologischen Fakten vorgetragen haben, können wir wahrscheinlich alle zustimmen.

Das war der Grund, weshalb ich mir überlegt habe, ob es sachlich angemessen wäre, am heutigen Tag dazu eine Regierungserklärung abzugeben oder es nicht zu tun. Es waren zwei Gründe, weshalb ich es am Ende nicht getan habe: erstens weil die zentrale Gedenkveranstaltung heute zeitgleich im Deutschen Bundestag in

Berlin stattfindet und Lothar de Maizière dort die Festrede halten wird, die ich mir eigentlich nicht entgehen lassen wollte, und zweitens weil ein Gesetz, das diese letzte Volkskammer beschlossen hat, nämlich das Ländereinführungsgesetz, für uns in den neuen Bundesländern mindestens eine gleich hohe Bedeutung hat.

Bei der Abwägung habe ich mich dann dafür entschieden, den Termin kurz vor der Sommerpause für eine entsprechende Regierungserklärung zu nutzen, und zwar - damit die Zwischenrufe aufhören und Sie sich beruhigen können - nicht als Teilzeitredner. Auch das muss klar sein.

Ich kann jedem zustimmen, der sagt, dass dies eine Lehrstunde der Demokratie war, und ich will gern sagen: Dies könnte es auch heute noch für uns sein.

(Beifall bei der CDU)

Nicht nur, dass wir Grund haben, auf eine Wahlbeteiligung von 93,3 % neidisch zurückzublicken - auch das könnte ein Thema sein, über das man sich unterhalten kann -, sondern weil es diese Volkskammer war, die die ehemalige DDR nach 40 Jahren Entwicklung mit dem Ziel, den Sozialismus aufzubauen, überhaupt erst wiedervereinigungsfähig gemacht hat, das heißt, jene Grundstrukturen geschaffen hat, die die beiden Teile Deutschlands, die sich erheblich auseinanderentwickelt hatten, wieder kompatibel gemacht haben, um sie zusammenführen zu können. Das, was dazu notwendig gewesen ist, und das, was dazu geschehen musste, ist auch im Rückblick noch geeignet, Demokratie zu erklären und erlernen zu können.

Schon die Verhältnisse damals - das hat Herr Dr. Fikentscher nicht so ausgeführt - waren ja spannend. Wir hatten eine Volkskammer - wie diese zustande gekommen und gewählt worden war, wissen wir alle -, deren Legislaturperiode 1991 auslief. Aber irgendwie mussten die Abgeordneten der Volkskammer selbst den Eindruck gehabt haben, dass sie beim besten Willen nicht mehr die Repräsentanten der Menschen der DDR waren. Sie haben dann im Januar 1990 beschlossen, die Legislaturperiode vorzeitig zu beenden und am 6. Mai eine neue Volkskammer zu wählen.

Die einzige, politisch zwar nicht autorisierte, aber gestaltende Kraft der damaligen Zeit, der Zentrale Runde Tisch, der sich in Berlin gebildet hatte, hatte beschlossen: Dies werden wir nicht mitmachen. So lange wollen wir nicht warten. Wir brauchen eher geordnete Strukturen. Wir brauchen eher Repräsentanten des Willens der Menschen der DDR.

Es war der Runde Tisch, der Ende Januar beschlossen hat: Wir wollen eine Volkskammerwahl am 18. März und den Mai-Termin für die Kommunalwahl. Wie das damals so war, hat die Volkskammer innerhalb von drei Wochen ihren früher gefassten Beschluss aufgehoben und neu beschlossen: neue Volkskammerwahlen am 18. März. Dann ist alles dies organisiert worden, was Herr Dr. Fikentscher jetzt vorgetragen hat.

Ich will noch einmal auf den Fleiß hinweisen. Die Volkskammer hat in einem halben Jahr in 38 Sitzungen 164 Beschlüsse und 93 mindestens genauso schwierige grundsätzliche Reformbeschlüsse gefasst.

Sie kennen wahrscheinlich die Zahlen aus der ersten Legislaturperiode unseres Landtages. Damals waren wir nicht ganz, aber fast genauso fleißig.

Die weitere Entwicklung kann man vielleicht nur mit Vergleichszahlen darstellen. Die Volkskammer hat in der achten Periode im halben Jahr etwa einmal getagt und hat wesentlich weniger Entscheidungen getroffen und Gesetze beschlossen.

Was diese Volkskammer geleistet hat, ist auch heute noch atemberaubend. 93 % des gesamten Aufkommens an Finanzmitteln der ehemaligen DDR waren Abführungen der sozialistischen Betriebe, nur insgesamt etwa 7 % Steuereinnahmen über die entsprechenden Abteilungen der Räte der Kreise.

Da man eine Marktwirtschaft aufbauen wollte, musste das gesamte Finanzsystem neu strukturiert werden. Die ersten grundsätzlichen Entscheidungen betrafen die Vorbereitungen eines Staatsvertrages mit der Bundesrepublik Deutschland über die Einführung der Grundlagen einer sozialen Marktwirtschaft in der DDR. Im Prinzip ist schon Anfang Februar politisch vereinbart worden, dass die Volkskammer dies politisch leisten soll.

Sie musste dann in vielen, vielen einzelnen Gesetzen die Grundlagen dafür schaffen, dass dies überhaupt möglich wurde. Es gab keine freien Berufe; es gab kein Kammergesetz. Alles dies musste von der Volkskammer gemacht werden. Dazu gehörte auch im Sommer das Ländereinführungsgesetz, um die alten Strukturen wiederherzustellen.

Diejenigen, die dabei waren, wissen besser als ich, zu welchen Diskussionen dies schon damals geführt hat. Es gab auch kluge Vorschläge aus anderen Regionen Deutschlands über zwei Länder innerhalb der DDR oder mehr oder weniger usw. Am Ende hat man sich dann im Wesentlichen - nicht genau - auf jene Strukturen geeinigt, die von den Besatzungsmächten in den ersten Nachkriegsjahren geschaffen worden sind.

Auch alle anderen Gesetze, die überhaupt erst das Zusammenfügen möglich machten, mussten von der Volkskammer geschaffen werden, um die alten, sozialistisch genannten Strukturen der DDR zurückzuführen auf Rechtsangleichungen mit verfassungsändernden Gesetzen, auf die Anpassung der institutionellen Systeme, auch der Verwaltungen, und die Rechtsangleichung auch im Zivilrecht. Das war eine unendlich mühselige Arbeit, die geschehen ist vor dem Hintergrund der Hoffnung, die deutsche Wiedervereinigung erreichen zu können, die damals zu einer großen Ungeduld geführt hat.

Wenn wir heute im Rückblick auf die Ereignisse im Herbst 1989 und im Jahr 1990 schauen, dann muss man auch ganz ehrlich zugeben - das haben wir auch damals hier schon besprochen -, dass die revolutionären Impulse Impulse zu mehr Freiheit waren. Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, Wahlfreiheit - das waren die ersten Impulse.

Erst als wir die Reisefreiheit hatten und die Menschen der DDR zum ersten Mal selbst sehen konnten, was ihnen 40 Jahre lang zu sehen versperrt und verwehrt worden ist, kamen die Forderungen nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit. Erst dann kamen die großen Plakate mit der Aufschrift: Kommt die D-Mark, bleiben wir! Kommt sie nicht, gehen wir zu ihr!

Das hat zu einem erheblichen Druck geführt, Druck durch immer noch bestehende Wanderungsbewegungen. Auch bis zum 18. März 1990 sind jeden Monat 2 000 bis 3 000 Menschen aus der ehemaligen DDR nach Westdeutschland gezogen. Aufgrund dessen gab es einen Druck in

Westdeutschland, weil sich die Landräte langsam bei ihren Landesregierungen beschwerten: Wir können die Leute nicht mehr unterbringen. Außerdem gab es einen Druck vonseiten der DDR: Wir können uns die Leute nicht auf Dauer davonlaufen lassen. Das hat dazu geführt, dass die Politiker Getriebene waren und sich selbst treiben mussten, um in einem hohen Arbeitspensum die Strukturen zu schaffen.