Protocol of the Session on March 18, 2010

Westdeutschland, weil sich die Landräte langsam bei ihren Landesregierungen beschwerten: Wir können die Leute nicht mehr unterbringen. Außerdem gab es einen Druck vonseiten der DDR: Wir können uns die Leute nicht auf Dauer davonlaufen lassen. Das hat dazu geführt, dass die Politiker Getriebene waren und sich selbst treiben mussten, um in einem hohen Arbeitspensum die Strukturen zu schaffen.

Parallel zu dem, was innerdeutsch lief und dann zur Ausarbeitung des Einigungsvertrages geführt hat, der in der Rechtsgeschichte Deutschlands wahrscheinlich eine Einmaligkeit ist und - so hoffen wir - bleiben wird, mussten die Verhandlungen mit den Alliierten geführt werden. Plötzlich meldeten sich, soweit ich es gehört habe, zwischen 60 und 70 Staaten, die ehemals mit Deutschland im Krieg standen und die in die Friedensverhandlungen einbezogen werden wollten.

Soweit ich es von Herrn Genscher gehört habe, war es der amerikanische Präsident Bush, der das abgelehnt hat und gesagt hat: Nur die vier Alliierten, die die Alliierten in Berlin waren und gemeinsam versucht haben, das besetzte Deutschland zu verwalten, werden die Verhandlungen mit Vertretern der beiden deutschen Staaten führen.

Das hat dazu geführt: Als sie zu einem Ergebnis gekommen sind, wurde es in Moskau ratifiziert, wobei wir erst gestern Nachmittag wieder bei einer anderen Veranstaltung gehört haben, dass dieser Vertrag eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR war, was vonseiten der Bundesrepublik immer abgelehnt worden ist. Aber es war die letzte und damit nicht mehr entscheidende.

(Herr Tullner, CDU: Das war verschmerzbar!)

Erst dann kam der Versuch, die anderen Staaten, die mit Deutschland ehemals im Krieg standen, irgendwie zu informieren. Dafür ist der Weg über eine Sitzung der OSZE, ich glaube, in Oslo oder Helsinki - das weiß ich im Moment nicht -, genutzt worden, zu der alle diese Staaten zusammenkamen. Es wurde gesagt: Wir müssen wenigstens die Information aller ehemaligen Kriegsgegner Deutschlands abwarten und ihnen die Möglichkeit zur Stellungnahme geben, bevor wir rechtlich die Wiedervereinigung Deutschlands vollziehen können.

Das war einer der Hintergründe, weshalb dann der 3. Oktober ausgewählt wurde. Manche wollten es schon deutlich eher. Diejenigen, die einen späteren Termin aus Sicherheitsgründen vorgeschlagen haben, haben dann die Frage zur Diskussion gestellt: Was machen wir dann mit dem 41. Geburtstag der DDR? Dieser sollte auch nicht mehr erlebt werden.

Das alles waren spannende Diskussionen, die damals nicht alle öffentlich geworden sind, die man aber heute - wenigstens diejenigen, die sich dafür interessieren - nachlesen kann.

Sie haben wahrscheinlich gehört, dass das gesamte Material der letzten und ersten frei gewählten Volkskammer der DDR digitalisiert worden ist und ab heute Mittag im Internet freigeschaltet wird. Es sind etwa 200 Stunden Filmmaterial, 447 Dokumente auf mehr als 6 300 DINA4-Seiten, die eingestellt werden.

Ich habe mit Interesse gelesen, dass die Digitalisierung länger gedauert hat, als die Volkskammer selbst existiert hat.

(Zuruf von Herrn Felke, SPD)

Auch das ist nicht uninteressant.

Ein letzter Punkt, weil gelegentlich auch wir Probleme haben, die Sie mit Ihren Beispielen, Herr Dr. Fikentscher, vorgetragen haben und die natürlich auch Zeichen eines noch nicht entwickelten Demokratieverständnisses sind. Wer in einer Demokratie Verantwortung übernimmt, muss damit leben, dass von ihm mehr verlangt wird, als er Kompetenz hat. Das wird auch uns immer wieder so gehen.

In diesem Zusammenhang will ich an ein Zitat erinnern, das ich vor wenigen Tagen, als wir zu einer Kabinettssitzung in Köthen waren, dort im altehrwürdigen Rathaussaal gelesen habe. Dort steht, in Holz geschnitzt, ungefähr seit dem 19. Jahrhundert ein Satz, den ich noch nicht kannte. Er lautet wie folgt:

„Wer dem Publikum dient, ist ein armes Tier. Er quält sich ab, niemand bedankt sich dafür.“

(Heiterkeit bei der CDU und bei der SPD)

Dieser Satz stammt aus den Maximen und Reflexionen von Goethe, ungefähr aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Es scheint also eine damals schon nicht uninteressante Lebensweisheit gewesen zu sein.

Ich will noch eines sagen: Wenigstens diese letzte Volkskammer der DDR und deren Arbeit verdienen es, nicht vergessen, sondern immer wieder gewürdigt zu werden. Sie hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das überhaupt möglich geworden ist.

Dabei meine ich nicht nur die Wiedervereinigung Deutschlands, die nicht nur Deutschland, sondern auch Europa verändert hat. Sie hat vielmehr die Rechtsgrundlagen dafür geschaffen, dass wir alle heute hier sitzen und in freiheitlich-demokratischen Verhältnissen unsere Arbeit leisten können. Dafür hat sie einen historisch begründeten Dank verdient.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD, bei der FDP und von der Regierungsbank - Zustimmung bei der LINKEN)

Herzlichen Dank, Herr Ministerpräsident Professor Dr. Böhmer. - Wir kommen dann zu den Beiträgen der Fraktionen. Für die Fraktion DIE LINKE hat der Abgeordnete Herr Höhn das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Jahre 2009 und 2010 gaben und geben uns gleich an mehreren Tagen Anlass, nach 20 Jahren auf die Ereignisse zwischen der friedlichen Revolution im Herbst 1989 und der Wiedervereinigung und unmittelbar damit verbunden der Gründung des Landes SachsenAnhalt knapp ein Jahr danach zurückzublicken. Es ist die Zeit, an die Akteurinnen und Akteure von damals zu erinnern, an ihren Mut und auch an ihren Idealismus. Ebenso gilt es, Bilanz zu ziehen über das, was erhofft wurde, und über das, was erreicht wurde.

In diesem historischen Kontext ist ein weiterer Jahrestag erwähnenswert. In wenigen Wochen wird sich zum 65. Mal der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus wiederholen. Dass uns heute in Deutschland wie auch in unseren europäischen Nachbarländern überhaupt die Chance gegeben ist, in Frieden und demokratischem

Miteinander unsere gemeinsame Zukunft zu gestalten, wäre ohne den 8. Mai 1945 nicht denkbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Gerade auch dieses Datum erinnert uns daran, dass nichts selbstverständlich ist, schon gar nicht Freiheit und Selbstbestimmung.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute, am 18. März 2010, jährt sich zum 20. Mal die erste und einzige freie Volkskammerwahl in der DDR. Der Oktober 2009 war uns gemeinsam Anlass, an die friedliche Revolution in der DDR und die Motive der damaligen Demokratiebewegung zu erinnern.

Wenngleich wenige Monate nach den ersten großen Demonstrationen im Wahlkampf 1990 eine hauptsächliche Auseinandersetzungslinie am Ob und Wie einer deutschen Wiedervereinigung verlief, war doch mit dem Fakt an sich, in freier, gleicher und geheimer Wahl über die Geschicke unseres Landes entscheiden zu können, eine der zentralen Erwartungen des Herbstes 1989 erfüllt.

Mit dieser Wahl wurden wahrlich nicht alle Ziele erreicht. Sie war aber ohne Zweifel ein Schlüsselmoment. In gewisser Weise war sie aber auch ein Wendepunkt. In vielen Diskussionen und an den runden Tischen wurde in den Monaten zuvor sehr kontrovers über das Ziel einer demokratischen DDR gerungen. Wichtigster Markstein jener Debatten war ohne Frage der vom Runden Tisch erarbeitete Entwurf für eine neue Verfassung.

Mit der Wahlentscheidung vom 18. März 1990 und vor allem mit den dahinter liegenden Motiven schien diese Entwicklung abgebrochen. Fortan ging es nicht mehr primär darum. Das zentrale Ziel der klaren politischen Mehrheit jener Zeit war vielmehr die möglichst schnelle Beendigung des Kapitels DDR.

Wenngleich unser Grundgesetz das beste verfassungsrechtliche Fundament in der deutschen Geschichte darstellt

(Zustimmung von Herrn Tullner, CDU)

und es Vorbild für viele junge Demokratien war und ist,

(Herr Tullner, CDU: Gut, das von Ihnen zu hö- ren!)

glaube ich, dass die Frage legitim ist, ob wir 1990 und danach eine deutsch-deutsche Chance verpasst haben, den Artikel 146 mit Leben zu erfüllen und dem wiedervereinigten Deutschland in einem demokratischen Prozess eine neue Verfassung zu geben.

(Beifall bei der LINKEN - Herr Tullner, CDU: Da sind Sie dann wieder!)

Die Zeit ist längst darüber hinweggegangen. Vielleicht lohnt es aber, zumindest an die Inhalte dieser lebhaften Verfassungsdiskussion in den Jahren 1989 und 1990 zu erinnern. Sie können auch heute noch fruchtbringend sein für unser Verständnis demokratischer Kultur und Emanzipation.

Das Wahlergebnis des 18. März 1990 selbst - Herr Fikentscher hat bereits darauf verwiesen - war für manche durchaus eine Überraschung, für viele auch eine Ernüchterung. Aber auch das gehört zur Demokratie.

Am augenfälligsten waren mindestens zwei Umstände. Dies war zum einen der fulminante Sieg der ehemaligen Blockpartei CDU. Das war zum anderen das deutlich schlechtere Abschneiden jener Gruppierungen und Parteien, die maßgebliche Triebfedern des Herbstes 1989 gewesen waren. Jens Reich, eine der wichtigen Figuren jener Zeit, formulierte rückblickend in einem Interview:

„Das Bonner Nilpferd ist in einer Massivität gekommen, dass man einfach hilflos war. Im Wahlkampf ist einfach der gesamte Apparatismus des Westens in den Osten gebracht worden. Dem hatten wir nichts entgegenzusetzen. Das waren in die DDR exportierte Westwahlen.“

Allerdings - und das gehört dazu - äußerte er im selben Interview Verständnis für die damalige Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger der DDR.

Für meine Partei war diese Wahl der formale Endpunkt der unmittelbaren Regierungsverantwortung in der DDR.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schaut man heute zurück, so lohnt es sich, über einen weiteren Punkt nachzudenken. An diesen ersten freien Wahlen beteiligten sich über 93 % der Wahlberechtigten. Auch in den damaligen Bezirken Halle und Magdeburg war die Wahlbeteiligung so groß. Ohne Zweifel ist diese enorme Mobilisierung maßgeblich gespeist aus dem ersten realen Erleben eines zuvor erkämpften Bürgerrechts. Insofern sind Vergleiche mit heutigen Wahlen natürlich auch vor diesem Hintergrund zu ziehen.

Dennoch: Seit jenem 18. März 1990 haben wir nie wieder in Sachsen-Anhalt oder in Ostdeutland insgesamt annähernd eine solche Wahlbeteiligung erreicht. Bereits wenige Monate später bei den ersten Wahlen zum Landtag von Sachsen-Anhalt beteiligten sich nur noch 65,1 % der Wählerinnen und Wähler. Abgesehen von einem zwischenzeitlichen Hoch im Jahr 1998 blieb die Wahlbeteiligung seitdem auf niedrigem Niveau. Bei der Landtagswahl im Jahr 2006 betrug die Wahlbeteiligung schließlich nur noch 44,4 %.

Gerade heute, wenn wir uns daran erinnern, wie nach Jahrzehnten endlich wieder die Möglichkeit gegeben war, sich in freien Wahlen an einem demokratischen Miteinander zu beteiligen, muss uns diese Entwicklung nachdenklich stimmen, aber noch mehr als das. Alle demokratischen Parteien stehen in der Pflicht, dies nicht einfach hinzunehmen.

Natürlich beinhaltet das Recht auf Wahl auch das Recht auf Nichtwahl. Jedoch lebt unsere repräsentative Demokratie davon, dass sich Bürgerinnen und Bürger aktiv beteiligen. Als Abgeordnete kann und darf es uns nicht in Ruhe lassen, dass unser Mandat und die Zusammensetzung dieses Hohen Hauses auf dem Votum nicht einmal der Hälfte aller Wahlberechtigten beruhen. Deswegen ist unser Auftrag nicht weniger legitim oder Entscheidungen sind nicht weniger verbindlich für das Land. Zufriedengeben können wir uns damit aber nicht.

Versucht man, mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch darüber zu kommen, werden viele Beweggründe und Ursachen offenbar. Es zeigt sich Enttäuschung über nicht erfüllte Hoffnungen und Erwartungen an die Politik. Es zeigt sich das verbreitete Gefühl, durch Wahlentscheidungen ändere sich ohnehin nichts. Es zeigt sich ein Misstrauen gegenüber der Politik im Allgemeinen.

Leider stößt man auch immer wieder auf eine Geringschätzung der Demokratie insgesamt.

Manches davon mag uns als Parlamentarierinnen und Parlamentarier ungerechtfertigt erscheinen, anderes muss uns alarmieren. Wo leisten wir als Politik möglicherweise selbst solchen Einschätzungen Vorschub?

Aktuell wird in der Öffentlichkeit die Frage der Käuflichkeit diskutiert, nicht bezogen auf Sachsen-Anhalt. Wir wissen aber, dass dies am Ende dem Ansehen der politischen Parteien insgesamt und somit auch der Parteien bei uns schadet. Unabhängig davon, ob einzelne Spenden oder gegen Geld erworbene Termine einen realen Einfluss auf politische Entscheidungen hatten, allein der Anschein schadet dem Vertrauen in die demokratischen Institutionen.