Protocol of the Session on March 18, 2010

Aktuell wird in der Öffentlichkeit die Frage der Käuflichkeit diskutiert, nicht bezogen auf Sachsen-Anhalt. Wir wissen aber, dass dies am Ende dem Ansehen der politischen Parteien insgesamt und somit auch der Parteien bei uns schadet. Unabhängig davon, ob einzelne Spenden oder gegen Geld erworbene Termine einen realen Einfluss auf politische Entscheidungen hatten, allein der Anschein schadet dem Vertrauen in die demokratischen Institutionen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir sollten aber auch gemeinsam und selbstbewusst vorschnellen Urteilen entgegentreten. Bei aller politischen Differenz, die unsere Demokratie erst lebendig macht: die allermeisten in Parteien und Fraktionen engagieren sich nicht um des persönlichen Vorteils willen, sondern weil sie aus ehrlicher Überzeugung ihren gesellschaftlichen Beitrag leisten wollen.

In den sechs Monaten ihrer Existenz beriet und verabschiedete die Volkskammer 164 Gesetze. Weiteres ist vorhin bereits erwähnt worden. Parlamentarische Arbeit heute ist damit schwer vergleichbar. Die Prioritäten haben sich ein Stück weit verlagert, neue Aufgaben sind hinzugekommen.

Eine zentrale Aufgabe ist jedoch geblieben, und diese ist von Dauer. Das ist die Kontrolle der Regierung durch das Parlament. Allein diese Kontrollfunktion nimmt uns voll in Anspruch. Mit halber Kraft oder halber Zeit ist dies nicht getan.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe eingangs auf den Idealismus des Aufbruchs 1989/90 und der Zeit der Volkskammerwahlen verwiesen. Schaut man ins Lexikon, heißt es dort: „Idealismus ist eine politisch-soziale Weltanschauung, die auf bestimmte Ideale gerichtet ist und das politische Handeln an diesen Idealen orientiert.“

Vielleicht fehlt uns als Politik heute ein Stück weit diese Eigenschaft. Wir reden sehr viel über Haushaltszahlen, über Verwaltungsmodernisierung, über Richtlinien und Verordnungen. Das alles sind notwendige Dinge - keine Frage. Politik, die glauben macht, man könnte darauf verzichten, macht sich unglaubwürdig und negiert ihre Ausgangsbasis.

Aber was Bürgerinnen und Bürger zu mobilisieren und zu motivieren vermag, sich mehr und aktiv zu beteiligen, geht darüber hinaus. Wo wollen wir eigentlich hin? Was sind unsere Maßstäbe? Wie nah sind wir als Politik noch an den realen Sorgen und Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger? - Gerade junge Leute - so ist meine Erfahrung - fragen danach, und sie tun dies sehr oft zu Recht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Abgeordneten der Volkskammer bereiteten mit ihren Entscheidungen den Weg über die Wirtschafts- und Währungsunion, den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes bis zur Gründung des Landes Sachsen-Anhalt. Insofern

sind sie auch die Mütter und Väter dieses Landtages. Es ist gut und richtig, dass wir heute an sie alle erinnern. Viele haben sich mittlerweile aus der aktiven Politik zurückgezogen, andere sind bis heute in politischer Verantwortung. Ihnen allen gelten unsere Anerkennung und unser Dank. - Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Höhn, für Ihren Debattenbeitrag. - Wir kommen dann zum Debattenbeitrag der CDU. Der Abgeordnete Herr Gürth erhält das Wort. Bitte schön, Herr Gürth.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wurde am 18. März 1990 in die Volkskammer gewählt - wider eigenes Erwarten, weil die Umfragen etwas anderes an den Horizont zu zeichnen schienen. Meine Fraktion, CDU/Demokratischer Aufbruch, hat mich dann in den Auswärtigen Ausschuss und in den Ausschuss Deutsche Einheit entsandt.

Wenn man dann erstmals in einem freien Parlament arbeitete, obwohl man eigentlich überhaupt keine Ahnung hatte, wie das so abläuft, und in der Regel auf die Vertreter der evangelischen Kirche vertraute, weil sie die einzigen waren, die während der DDR-Zeit in demokratischen Gremien mit geheimen Wahlen tätig waren und Erfahrungen hatten, dann ist das eine Erkenntnis, die man nie vergisst. Wenn man in seiner ersten Fraktionssitzung sitzt, die in einem Saal stattfindet, in dem früher das ZK der SED getagt hat, im Hintergrund ein großes Fenster ist und die Tontechniker noch dieselben sind, ein Funktelefon so groß wie ein russisches Feldtelefon und man zum abhörsicheren Telefonieren mit Bonn durch das Brandenburger Tor in den Reichstag gehen musste, dann sind das Erinnerungen, die es lohnten, dass man sie aufschreibt. Ich habe es nicht gemacht. Ich hoffe aber, einige meiner Kollegen machen das.

Aber das verleitet, zu sehr ins Detail zu verfallen. Ich möchte viel lieber zwei andere Dinge in den Mittelpunkt der heutigen Debatte rücken. Ich möchte die Besonderheit der Wahl und der Volkskammer als Parlament noch einmal betonen und ich möchte vor allen Dingen die Bedeutung von freien Wahlen für jeden Einzelnen hervorheben.

Mit der Wahl am 18. März 1990 wurde eine Forderung der friedlichen Revolution plötzlich Realität. Warum wurde plötzlich am 18. März gewählt? Es wuchs die Sorge bei all denen, die mit viel Mut die Wende herbeigeführt haben, dass mithilfe der Sowjets, die immerhin mit 400 000 bewaffneten Soldaten auf dem Boden der DDR in ihren Kasernen standen, die alten Machthaber die Lücken in der Mauer wieder schließen und das Rad zurückdrehen könnten.

Es gab einen zweiten Grund am Zentralen Runden Tisch in Berlin, der in der Fläche des Landes an vielen runden Tischen auf Kreisebene ebenso existierte, nämlich die Tatsache, dass jeden Tag hunderte Familien Richtung Westen das Land verließen. Deswegen zog der Runde Tisch die Wahlen auf den 18. März 1990 vor, und das war richtig so. 24 Parteien und Wahlbündnisse traten an. Alle waren aufgefordert, plötzlich Wahlkampf zu machen. Das war etwas, was niemand kannte.

Das Besondere im Zusammenhang mit der Wahl zur Volkskammer war, dass mit der Volkskammer, mit der freien Wahl eines richtigen Parlamentes der Runde Tisch abgelöst wurde, ein Gremium, das überhaupt keine Rechtsgrundlage besaß, etwas zu entscheiden, aber dennoch die Geschicke über einen langen Zeitraum des Übergangs für die rund 17 Millionen DDR-Bürger gefügt und geleitet hat. Das Neue nach den Demonstrationen, nach der Wende im Herbst 1989 war, dass dieser Runde Tisch, an dem die alten Parteien und neuen Gruppierungen zusammensaßen - in der Regel waren es die Superintendenten, die dann vor Ort diese runden Tische führten -, ein Konsensgremium war.

Nun kam mit der Wahl eines Parlamentes das, was systemimmanent ist, dass Mehrheiten über Minderheiten entscheiden. Ich sage Ihnen, das war für alle Abgeordneten eine ganz neue Erfahrung und auch für viele in der Bevölkerung, die das erstmals auf dem Boden der DDR beobachten konnten.

Einzigartig war auch die Zusammensetzung des Parlamentes. Als ich mir das erste Handbuch des Deutschen Bundestages anschaute, habe ich dieses wie einen Krimi gelesen, so spannend fand ich das. Ich musste feststellen, dass dort drei Berufsgruppen dominierend sind. Es waren die Lehrer, die Juristen und die Gewerkschaftsfunktionäre. Sie waren die Mehrheit neben anderen Berufsgruppen. In der Volkskammer hatte man einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung durch diese Umbruchsituation, sodass Arbeiter, Angestellte, Ingenieure und Techniker, die uns in den Parlamenten mit ihrem Sachverstand fehlen, aber auch viele Pfarrer im Parlament saßen.

Einzigartig in der Geschichte war auch, dass ein Parlament mit dem Auftrag gewählt wurde, sich selbst und den Staat, dessen Bevölkerung es repräsentativ vertreten sollte, aufzulösen. Noch bemerkenswerter und ebenfalls einzigartig war, dass dieses Ziel vorfristig erreicht wurde.

Sie werden in ein Parlament mit dem Ziel gewählt, sich selbst überflüssig zu machen. Ich sage Ihnen: Wir in der CDU-Fraktion haben damals diskutiert und gesagt: Wir müssen das nicht in vier Jahren, sondern wir müssen das in zwei Jahren schaffen.

Wenn man überlegt, dass in weniger als sechs Monaten ein Volk mit rund 17 Millionen Einwohnern mit einem eigenen Rechtssystem, mit eigenem Renten- und Sozialversicherungssystem auf einer völlig anderen Basis in ein komplett neues System überführt werden musste, wenn man sich gleichzeitig überlegt, dass man eigentlich ein Habenichts ist, der auf der Verhandlungsseite nichts einzubringen hat außer die Drohung: Dann kommen eben alle rüber!, dann ist es erstaunlich, dass in so kurzer Zeit so Großes geleistet wurde bei so wenigen Fehlern.

Ich kann mich an so manche Verhandlungsrunde erinnern. Der Ausschuss Deutsche Einheit tagte jeweils einmal in Berlin und einmal in Bonn - wir flogen immer hin und her -, und immer, wenn es nicht weiterging, kam unterschwellig die Drohung oder der Hinweis, dass auch in Niedersachsen die Turnhallen in den Schulen schon mit DDR-Bürgern überfüllt seien. Das führte meistens zu noch mehr Bewegung.

Wenn man sich den Einigungsvertrag anschaut, muss man sagen: Es ist eine grandiose Leistung, und es ist auch eine große Solidarität der Bundesrepublik Deutsch

land für den Einigungsprozess und vor allen Dingen für die DDR-Bürger gewesen, die eines großen Teils ihrer Lebensleistung durch das alte System beraubt wurden.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Ich möchte den Abgeordneten aller Fraktionen der Volkskammer danken, weil nahezu alle - bis auf wenige Ausnahmen - mit unglaublichem Engagement und einer Leidenschaft herangingen, um die Probleme zu lösen. Die leidenschaftlichen Debatten um die Lösung der Probleme bei den unterschiedlichsten Vorstellungen wünscht man sich heute vielleicht auch in anderen Parlamenten.

Rückblickend auf die Volkskammerwahlen müssen wir aber auch auf etwas anderes schauen und es uns immer wieder in Erinnerung rufen: Freie Wahlen sind nicht selbstverständlich. Das bedeutet, mit Rückblick auf den 18. März 1990 müssen wir den Männern und Frauen danken, die freie Wahlen erst möglich gemacht haben. Sie wurden erstritten, und das nicht erst im Jahr 1989.

Ich erinnere an die ersten Organisationen gerade in den Berliner Kirchengemeinden - zwei sind besonders hervorzuheben -, die die Kommunalwahlen in den Wahllokalen durch konkrete Auszählungen nicht nur beobachteten, sondern deren Ergebnisse auch öffentlich machten, obwohl sie mit Drangsalierungen und Bestrafungen zu rechnen hatten. Das alles hat eine viel längere Geschichte: Es war die Sehnsucht nach freien Wahlen und danach, diese in die Realität umzusetzen.

Es ging nicht, weil die DDR ein Unrechtsstaat war. Die DDR war von der ersten Sekunde an ein Unrechtsstaat, der seinen Bürgern von der ersten Sekunde an freie Wahlen untersagte und selbst die Scheinwahlen noch fälschte.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Am 18. März 1990 waren es die ersten Wahlen nach 58 Jahren auf diesem Teil deutschen Bodens. Seit Juli 1934, als die NSDAP die einzige zugelassene Partei im so genannten Dritten Reich war, gab es keine freie Wahl mehr in diesem Teil Deutschlands.

Die Erwartung, dass bald nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur rechtsstaatliche Verhältnisse mit demokratischen Wahlen einkehren würden, erfüllte sich in der sowjetischen Besatzungszone nicht. Im Herbst 1946 fanden Wahlen zu den Kommunalvertretungen und zum Landtag statt. Diese wurden noch nach demokratischen Formalien abgehalten, doch griff die sowjetische Besatzungsmacht in die Wahlvorbereitungen massiv zugunsten der SED ein.

Die bürgerlichen Parteien CDU und LDP waren massiven Behinderungen durch die sowjetische Besatzungsmacht ausgesetzt. Die Palette erstreckte sich auf Dinge, über die man heute lächeln könnte, die in der Nachkriegszeit allerdings von Bedeutung waren. So kam es zur Benachteiligung bei der Papierzuteilung für Wahlplakate bis hin zur Verhaftung von Kandidaten. Als abzusehen war, dass die SED bei künftigen freien Wahlen nicht die Mehrheit gewinnen würde, verbot die sowjetische Militäradministration kurzerhand die im Herbst 1948 fälligen Kommunalwahlen.

Angesichts der Welle von Verhaftungen und Terrorprozessen in den Monaten nach der Gründung der DDR, die auch in unserem Land viele Opfer forderte, musste die SED zudem befürchten, bei freien Wahlen zu unter

liegen. Dieser Niederlage sollte eine Einheitsliste vorbeugen, bei der die Wähler nicht mehr zwischen verschiedenen Kandidaten auswählen konnten. Erste Erfahrungen mit dieser Methode hatte man bereits bei den Wahlen zum Dritten Deutschen Volkskongress in der sowjetischen Besatzungszone am 15. und 16. Mai 1949 gesammelt. Auch bei dieser Wahl gab es keine einzelnen Kandidaten, sondern nur noch Listen.

Das Wahlergebnis wurde außerdem demagogisch gesteuert, indem die Wahl unmittelbar mit der Frage verknüpft wurde, ob der Wähler die Einheit Deutschlands und einen gerechten Frieden wolle. Darüber hinaus waren die Wahlen schon damals mit massiver Einschüchterung politischer Gegner und mit Manipulationen der Wahlergebnisse verbunden. So wurden Stimmenthaltungen als Jastimmen gedeutet.

Auf diese ersten Wahlmanipulationen folgten schlimme Zeiten für all diejenigen, die noch glaubten, es sei nur eine kurze Episode und man könne in diesem Teil Deutschlands auch ein Stück weit einen alternativen Weg zum Westen des deutschen Vaterlandes gehen und dennoch in freien Wahlen eine gute Zukunft organisieren.

An vielen Wänden gab es damals die Aufschrift „F“; die Chiffre „F“ stand für freie Wahlen. Das hatte aber zur Folge, dass schon damals mithilfe der Sowjets und der Staatssicherheit Verhaftungen und Hunderte von Schauprozessen mit harten Urteilen stattfanden, darunter zweimal lebenslängliches Zuchthaus, 115 Zuchthausstrafen von insgesamt 594 Jahren, zweimal Gefängnis auf unbestimmte Zeit und 63 Gefängnisstrafen von insgesamt 115 Jahren und drei Monaten. Das schuf ein Klima der Einschüchterung und brach den Widerstand.

Ich möchte daran erinnern, um noch einmal deutlich zu machen, dass freie Wahlen nichts Selbstverständliches sind.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustim- mung bei der SPD)

Ich sage dies an die Adresse der Jugend, an die jungen Leute in unserem Land.

Meine Damen und Herren! Wir sind es den Männern und Frauen, die sich für freie Wahlen eingesetzt haben, schuldig, dass wir uns einsetzen für die Bewahrung des Grundrechtes auf freie Wahlen, aus der Mitte des Volkes Menschen auszusuchen, die befristet Macht und Entscheidungsbefugnis über die Geschicke unseres Landes haben. Wir sind es denen schuldig, die zum Teil ihr Leben riskiert haben.

In Anbetracht der Wahlen zur Volkskammer möchte ich anfügen, welche Schlussfolgerungen wir außerdem daraus ziehen können. Wer sich nicht für Wahlen interessiert oder nicht zur Wahl geht mit der Begründung „Ich gehe nicht zur Wahl, weil ich sowieso nichts ändern und beeinflussen kann“, der hat Unrecht. Das zeigt das Beispiel aus dem Herbst 1989 und das der ersten freien Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Nutzen Sie diese Beispiele jüngerer Geschichte. Engagieren Sie sich. Es gibt viele Parteien; man kann auch neue gründen. Es gibt viele Angebote und es gibt bereits jetzt viele Kandidaten. Machen Sie aktiv und passiv mit. Interessieren Sie sich für das, was man gestalten kann, und für die Angebote, die vorhanden sind. Bringen Sie

sich selbst ein. Engagieren Sie sich. Sie können so viel gestalten; Sie müssen es nur wollen. Vier Jahrzehnte lang war es nicht möglich. Nutzen Sie diese Chance und bringen Sie sich in die Demokratie ein.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustim- mung bei der SPD)

Vielen Dank für Ihren Diskussionsbeitrag, Herr Gürth. - Wir kommen zum Beitrag der FDP-Fraktion. Der Abgeordnete Herr Gerry Kley hat das Wort. Bitte schön.