Protocol of the Session on July 7, 2006

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Erste Beratung

Jugendstrafvollzug

Antrag der Fraktion der FDP - Drs. 5/120

Ich bitte zunächst Herrn Wolpert, das Wort zu nehmen und den Antrag einzubringen.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Am 31. Mai 2006 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die normierten Grundlagen zum Jugendstrafvollzug den rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügen und damit verfassungswidrig sind. Jede vollzogene Jugendstrafe, also jede freiheitsentziehende Maßnahme bei jugendlichen Straftätern innerhalb des Jugendstrafvollzugs entbehrt damit einer verfassungsgemäßen Grundlage.

Dem zu entscheidenden Fall lag der Sachverhalt zugrunde, dass sich ein jugendlicher Strafgefangener gegen eine disziplinarische Maßnahme innerhalb des Vollzuges gegen seine Person zur Wehr gesetzt hatte. In letzter Instanz hat das Bundesverfassungsgericht dem Strafgefangenen dem Grunde nach Recht gegeben. Gleichzeitig hat das Bundesverfassungsgericht aber den Gesetzgeber aufgefordert, den verfassungswidrigen Zustand bis spätestens Ende 2007 zu beseitigen.

Allein an diesem Punkt stellt sich für den Kritiker dieses Antrages die Frage, warum der Antrag schon jetzt von der FDP-Fraktion in das Parlament getragen wird, obwohl noch so viel Zeit ist. Die FDP-Fraktion ist allerdings der Auffassung, dass bei einem verfassungswidrigen Zustand, bezogen auf Freiheitsrechte, nicht so viel Zeit erforderlich ist, selbst wenn die Frist länger gesetzt ist.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund. Die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug und damit auch für den Jugendstrafvollzug lag zum Zeitpunkt des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes noch in den Händen des Bundes. Mit dem heutigen Beschluss zur Föderalismusreform ist der Strafvollzug entgegen mahnender Stimmen ab dem 1. Januar 2007 in die Gesetzgebungskompetenz der Länder verlegt worden.

Nun ist also das Land Sachsen-Anhalt in der Pflicht, wie alle übrigen 15 Bundesländer auch, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. Völlig unerwartet kam der Urteilspruch des Bundesverfassungsgerichts wohl nicht, da sowohl Bayern als auch Baden-Württemberg bereits fertige Gesetzentwürfe aus der Schublade gezogen haben. Aber auch die Bundesjustizministerin hat sich der Mühe unterzogen, einen Gesetzentwurf zu unterbreiten.

Bereits an diesen drei vorliegenden Entwürfen lassen sich die Unterschiede erkennen. Während sich der Gesetzentwurf der Bundesjustizministerin im Wesentlichen an dem Wünschenswerten innerhalb eines Jugendstrafvollzuges orientiert, gibt sich der bayerische Gesetzentwurf wesentlich sparsamer und lehnt sich mehr an den bestehenden Erwachsenenstrafvollzug an. In vermittelnder Weise steht dazwischen der Gesetzentwurf des Landes Baden-Württemberg.

Die Zersplitterung des Strafvollzugs nimmt also bereits ihren Anfang und wird wohl im Laufe der Gesetzgebungsverfahren, die nun in allen Ländern aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts notwendig werden, ihren Lauf nehmen.

Meine Damen und Herren! Schon in den Zielen des Strafvollzugs ergeben sich erste Unterschiede. Während die Bundesjustizministerin lediglich eine „Lebensführung ohne Straftaten“ in den Zielen erkennen will, sind die Länder Bayern und Baden-Württemberg der Auffassung, dass die Gefangenen noch darüber hinaus zu sozialer Verantwortung erzogen werden sollten. In der Folge werden sowohl von Baden-Württemberg, aber auch vom Bund Leitlinien für die Erziehung definiert, während das Land Bayern darauf verzichtet.

Ein weiterer Unterschied zwischen den Zielen des Bundes und des Landes Baden-Württemberg ergibt sich daraus, dass die Bundesministerin offensichtlich den Sport als Leitlinie der Erziehung nicht verankert sehen will, das Land Baden-Württemberg aber doch. Das Land Baden-Württemberg erachtet es als notwendig, von Anfang an einen Erziehungsplan aufzustellen, bei der Bundesjustizministerin heißt dieser „Förderplan“. Aus der Sicht des Bundes werden die Wünsche der Gefangenen berücksichtigt. Im Land Baden-Württemberg ist das nicht der Fall. Im Land Bayern gibt es überhaupt keinen Erziehungsplan. Dort soll nur kurz vor der Entlassung darüber gesprochen werden, was passiert.

Baden-Württemberg schreibt offene Abteilungen vor, die innerhalb des geschlossenen Vollzuges vorhanden sein müssen, während Bayern die Möglichkeit offen lässt. Es gibt unterschiedliche Regelungen zum Urlaub.

Die Bundesjustizministerin schreibt vor, dass es Wohngruppen mit höchstens acht Personen für unter 16-Jährige geben soll. Es gibt eine zwingende Einzelunterbringung. Die Vollzugsanstalten sollen Abteilungen haben, die nicht mehr als 60 Personen umfassen. Insgesamt soll eine Justizvollzugsanstalt nicht mehr als 240 Haftplätze haben.

Außerdem sollen zwei Drittel aller Haftplätze für die allgemeine berufliche und schulische Bildung und für arbeitstherapeutische Maßnahmen und Weiteres zur Verfügung stehen. Fernen sollen die Bediensteten einer Justizvollzugsanstalt einer sechsmonatigen pädagogischen Qualifikation unterzogen werden.

Bei der ersten Betrachtung gewinnt man den Eindruck, dass das Land Bayern mehr Wert auf eine Verwahranstalt als auf Erziehung legt, während die Bundesjustizministerin offensichtlich in Kenntnis der Tatsache, dass sie zukünftig für die Maßnahmen finanziell nicht mehr verantwortlich sein wird, die höchsten Standards festschreiben will.

Meine Damen und Herren! Ich will versuchen, Ihnen anhand eines Beispiels zu erläutern, warum es wünschenswert ist und bleibt, dass es einen einheitlichen Strafvollzugsstandard gibt.

Das Strafgesetzbuch, das übrigens immer noch in der Gesetzgebungskompetenz des Bundes verbleibt, schreibt in mehreren Strafzumessungsregeln vor, dass die Standards des Vollzuges mit in die Strafzumessung einfließen; so heißt es unter anderem in § 46 Abs. 1 StGB. Es ist zwar jetzt ein wenig theoretisch, aber ich will versuchen, es einmal darzulegen.

Dort steht, dass bei der Strafzumessung die Wirkung, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten ist, zu berücksichtigen ist. Das beinhaltet auch die Möglichkeit, die Dauer einer Strafe zu verlängern, um eine therapeutische Behandlung des Gefangenen zu ermöglichen, damit die Therapie abgeschlossen werden kann und dann die Resozialisierung bei der Entlassung perfekt ist.

Das heißt im Umkehrschluss: Dort, wo die Therapiemöglichkeit nicht gegeben ist, muss die Strafe kürzer sein, weil nicht zu erwarten ist, dass von einer langen Strafe mehr erhofft werden kann als dort, wo eine Therapiemöglichkeit vorhanden ist. Das heißt dann - übrigens für die Hardliner unter den Juristen ein ziemlich merkwürdiges Ergebnis -, dass diejenigen, die eine harte Strafe erhalten, ohne so genannte Kuschelpädagogik, für kürzere Zeit im Gefängnis sind bzw. kürzere Strafen bekommen als diejenigen, die therapiert werden können.

Es ist aber noch ein anderer Unterschied möglich, nämlich der zwischen Arm und Reich. Das Land, das sich eine Therapie leisten kann, hat dann zwar längere Strafen, aber auch einen Resozialisierungserfolg. Das andere Land, das sich keine Therapie leisten kann, hat das eben nicht.

Es kommt noch ein weiterer Punkt hinzu. Der Ort der Verurteilung und der Ort des Vollzuges fallen oft auseinander. Ein Richter in Baden-Württemberg müsste also wissen, wie sich der Strafvollzug im Land SachsenAnhalt gestaltet, um die Strafe ordnungsgemäß bemessen zu können.

Sie können sich das bei 16 Bundesländern sicherlich vorstellen. Aber stellen Sie sich einmal vor, Sie wollen Strafgefangene austauschen. Es kann durchaus möglich

sein, dass es, um eine Resozialisierung erfolgreich zu gestalten, notwendig ist, den Gefangenen aus einer Anstalt herauszunehmen, von dem Umfeld wegzubringen, das für ihn dort schädlich ist, und ihn woanders hinzubringen. Auch in Gefängnissen gibt es Cliquenbildung.

Damit sind wir im Land Sachsen-Anhalt mit der Anstalt in Raßnitz gar nicht auf einer Insel der Seeligen. Erstens hat die Anstalt in Raßnitz 400 Haftplätze, was der Bundesjustizministerin schon viel zu groß ist, und zweitens ist es die einzige Anstalt im Land Sachsen-Anhalt, die halbwegs den Ansprüchen entsprechen würde. Es gibt zwar noch eine Anstalt in Halle mit 40 Haftplätzen, aber man kann es angesichts dieser Diskussion vergessen.

Wenn Sie dort jemanden einmal woanders hinbringen müssen, müssen Sie im Rahmen der mitteldeutschen Initiative mit Leipzig sprechen. Aber wenn die andere Standards haben, haben Sie schon ein Problem.

Es wird noch besser, wenn Sie sich den § 66b StGB anschauen. Wenn Sie zu der Auffassung kämen, dass auch für jugendliche Straftäter die Sicherungsverwahrung im Nachhinein möglich sein sollte, dann gibt es die Möglichkeit zu prüfen, ob er therapiert worden ist und ob die Therapie erfolgreich war - die Möglichkeit, das als neue Tatsache zu prüfen.

Wenn nun die Therapie nicht stattgefunden hat - nicht etwa, weil der Gefangene sie verweigert hat, sondern weil es überhaupt keine Möglichkeit gegeben hat -, dann ist er zu entlassen. - Das ist ein Ergebnis. Ich denke, dass die CDU dabei richtig begeistert sein wird.

Sie sehen allerdings schon: Wenn Sie die Standards haben wollen, werden Sie Geld anfassen müssen. Deswegen halte ich es für sehr wichtig. Bei der aufgesplitterten Gesetzgebungskompetenz heißt das, wir müssen in die Justizministerkonferenz gehen und versuchen, dort die Einheit zu fassen. Das Problem wird sein, dass wir keine Meinungsführerschaft haben, wenn wir unseren eigenen Standpunkt nicht festgehalten haben. Bayern und Baden-Württemberg haben das schon vorgegeben.

Wir werden unter Umständen in der Diskussion dominiert von den Ländern, die die Spezifika Sachsen-Anhalts nicht erkennen oder vielleicht gar nicht erkennen wollen. Es gibt ja auch eine deutliche Diskussion hinsichtlich der Verwendung der Mittel aus dem Solidarpakt, in der die Besonderheiten in Sachsen-Anhalt nicht gesehen werden.

Insofern halte ich es schon für wichtig, dass wir jetzt darüber sprechen. Wir müssen nämlich Folgendes klären: Erstens. Was wollen wir im Land? Zweitens. Wie bekommen wir einheitlich etwas - - Ich weiß, dass es Ihnen zu lang ist, aber Sie müssen an die Leute denken, die von den Gefangenen gefährdet werden. Das hat doch die CDU immer ganz groß drauf. Das Ziel soll sein, dass die von jugendlichen Straftätern in Ruhe gelassen werden.

(Herr Gürth, CDU: Die Frage ist, wie lange man das erklärt hat!)

- Es steht Ihnen ja auch frei, draußen zu warten.

(Herr Gürth, CDU: Nein, ich höre das!)

- Es zwingt Sie ja keiner, hier zu sein, Herr Gürth.

Also, um es zu Ende zu bringen: Wir brauchen einheitliche Standards. Die müssen wir rechtzeitig festschreiben. Die müssen wir als Meinungsführer in die Diskus

sion einbringen. Wenn Sie dann betrachten, dass wir versuchen, das bis zum Ende des Jahres 2007 alles in Sack und Tüten zu haben, dann ist nach der Sommerpause nur noch ein und ein Vierteljahr Zeit. So viel ist das gar nicht mehr. Von daher halte ich es nicht für verfrüht, diesen Antrag jetzt einzubringen. - Nutzen wir die Zeit und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP - Zustimmung von Frau Tied- ge, Linkspartei.PDS, und von Frau Bull, Linkspar- tei.PDS)

Herr Wolpert, möchten Sie eine Frage von Herrn Brachmann beantworten?

Bitte, Herr Brachmann, fragen Sie.

Herr Wolpert, Sie haben jetzt die einzelnen Entwürfe, die es dazu gibt, in kurzer Form referiert. Welchen würden Sie denn als FDP favorisieren?

Wir haben alle den Wunsch, dass der Erziehungsgedanke im Mittelpunkt steht. Das heißt, wir wollen die Eckpunkte bei der Unterbringung und auch bei der Betreuung und den Ausbildungsmöglichkeiten darstellen. Was wir uns aber vielleicht nicht leisten können, obwohl es wünschenswert ist, ist, dass wir - wir haben im Moment 409 Gefangene - 400 Einzelunterbringungen haben. Die sollen bei Baden-Württemberg festgeschrieben sein, auch bei der Bundesministerin.

Was Baden-Württemberg macht, dass es nämlich versucht, das Entlassungsloch zu überbrücken, und hintendran noch ein Programm vorschreibt, das im Strafvollzugsgesetz verankert worden ist, wäre wünschenswert. Die Frage ist nur: Haben wir das Geld dafür, jeden Strafvollzugsbeamten sechs Monate lang pädagogisch zu schulen? Das ist die Frage; darüber müssen wir diskutieren.

Ich denke, wir müssen nicht alle Standards erfüllen, die wünschenswert sind, weil wir uns das nicht leisten können. Aber die wichtigsten Erziehungsgedanken müssten wir schon formulieren. Die sind auch bei uns abzusichern.

Es ist ja nicht so, dass wir im völlig luftleeren Raum operieren. Wir haben auch schon etwas, das sich sehen lassen kann. Nur werden wir aufpassen müssen, dass wir uns nicht in Wünsche versteigen, so wie es die Frau Zypries gemacht hat, ohne dass man das vollziehen kann, was man aufgeschrieben hat. Daran, denke ich, wird man maßvoll herangehen müssen.

Deswegen, sage ich, können wir uns von Baden-Württemberg und auch von Bayern nicht vorschreiben lassen, wie der Mindeststandard auszusehen hat. Den müssen wir selbst formulieren. Wenn wir es nicht tun, wird es von anderen ausgeführt werden. Das ist das Anliegen.

Vielen Dank, Herr Wolpert. - Nun hören wir den Beitrag der Landesregierung. Es spricht Frau Ministerin Kuppe in Vertretung der Justizministerin. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren und Damen Abgeordneten! Ich habe jetzt tatsächlich die Möglichkeit, die Justizministerin zu vertreten, obwohl ich weder einfache noch Volljuristin bin. Das freut mich.