Protocol of the Session on October 11, 2007

Ich war vor etwa einem Jahr - das will ich beispielhaft gern einfügen - zu einem zehnjährigen Betriebsjubiläum nach erfolgreicher Zweitprivatisierung in ein Motorenwerk eingeladen. Gleichzeitig feierte der Betrieb sein 60-jähriges Bestehen. Der Investor hatte einen zweistelligen Millionenbetrag investiert und war stolz auf die steigende Umsatzentwicklung und auch auf seine guten

Mitarbeiter. Es wurden auch wieder neue Arbeitsplätze geschaffen.

Der Sprecher der Mitarbeiter kritisierte massiv die Treuhand, die diesen Betrieb über viele Jahre nicht losgeworden war. Lobend erwähnte er, dass der Betrieb schon zu DDR-Zeiten viel in das NSW-Gebiet exportiert habe. Für diejenigen, die nicht hier geboren sind:

(Heiterkeit bei der CDU)

das ist das nichtsozialistische Währungsgebiet

(Zuruf von der LINKEN: Wirtschaftsgebiet!)

- Wirtschaftsgebiet. Sie hätten viel in dieses Gebiet exportiert und hätten zweimal sogar Messe-Gold gewonnen. Häufig hätten sie ihre Normen nicht nur erfüllt, sondern sogar übererfüllt. Einen solchen Betrieb nicht für wettbewerbsfähig zu halten, wäre schlicht eine Demütigung.

Was der Sprecher aber offenbar nicht wusste oder wenigstens nicht gesagt hat, war, dass seine Motoren im NSW-Ausland nur unter den Herstellungskosten verkaufbar waren und dass die Deckung des Defizits über den Staatshaushalt durch Kaufkraftabschöpfung an anderer Stelle erfolgte. Damit konnte kein Investor mehr rechnen. Erst nach erheblichen Modernisierungsinvestitionen, nach der Bereinigung der Strukturen und nach der Entlassung vieler damaliger Mitarbeiter wurden Stückkosten erreicht, die in einem offenen Markt wettbewerbsfähig waren.

Wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, uns solche Zusammenhänge immer wieder zu erklären, dann bleibt viel unnötige Bitterkeit übrig und ein verklärter Rückblick auf eine vergangene Zeit.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustim- mung bei der SPD und von der Regierungsbank - Herr Prof. Dr. Paqué, FDP: Richtig!)

Ich will auch dies noch sagen: Die Treuhand hatte sechs Jahre lang das jährliche Defizit dieses Betriebes in Millionenhöhe ausgeglichen, weil sie ihn unbedingt erhalten wollte und für prinzipiell privatisierungsfähig hielt. Das hätte man in einem solchen Zusammenhang auch sagen können.

Die gegenwärtigen sozialen Leistungen werden wenigstens von vielen unserer Mitbürger gelegentlich mit einem verklärenden Blick auf die Sozialpolitik der DDR gemessen. Das ist menschlich verständlich, aber sachlich falsch. Zur Wahrheit gehört auch, dass diese Sozialleistungen unter Verzicht auf Modernisierungsinvestitionen in den Betrieben und durch Verschuldung finanziert wurden.

(Herr Prof. Dr. Paqué, FDP: So ist es!)

Hätte die DDR weiter existieren müssen, hätten die Sozialleistungen und der gesamte Lebensstandard um mindestens ein Drittel reduziert werden müssen. Nach der nachlesbaren eigenen Einschätzung wäre die DDR dadurch unregierbar geworden. Aber da dieser Staat nicht weiter existieren musste und die Verbindlichkeiten von der Bundesregierung übernommen wurden, war für viele nicht einmal erkennbar, in welches Desaster wir uns hineingewirtschaftet hatten.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustim- mung bei der SPD)

Deshalb ist der DDR-Rückblick auch als Maßstab zur Beurteilung unserer gegenwärtigen Probleme und der künftig notwendigen Entscheidungen falsch.

Aber wenn - und darüber müssen wir reden - beispielsweise 59 % der Befragten in unserem Land das Angebot der Gesundheitsversorgung während der DDR-Zeit als besser als heute beurteilen, dann ist das auch eine einseitige Sicht.

(Herr Prof. Dr. Paqué, FDP: So ist es!)

Damals gab es keine Zuzahlungspflicht, grundsätzlich kostenlose Leistungen und eine nutzerfreundliche Organisation in den Behandlungszentren. Das ist unbestritten. Wahr ist aber auch, dass im Jahr 1975 fast 80 % aller Krankenhäuser der DDR älter als das Jahrhundert und dringend sanierungsbedürftig waren.

Seit dem Jahr 1991 haben allein wir in Sachsen-Anhalt ca. 3,2 Milliarden € in die Krankenhäuser unseres Landes investiert. Die enorme Erweiterung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten hat dazu geführt, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung unserer Männer und Frauen in nur 17 Jahren um vier bis fünf Jahre verlängert hat.

Zusätzlich zu allen staatlichen Finanztransfers sind im Regelkreis der GKV, also der gesetzlichen Krankenversicherung, jährlich insgesamt 3,5 Milliarden € und im Regelkreis der gesetzlichen Rentenversicherung jährlich ca. 13,5 Milliarden € von West nach Ost geflossen.

(Zustimmung von Frau Weiß, CDU)

Dass eine wesentlich verbesserte Betreuung auch mehr Geld kostet, kann man überzeugend erklären. Der Einwand, dass die anderen das bezahlen sollen, ist dagegen nicht so überzeugend. Ich vermute, dass auch die 59 % nicht auf die teuren Möglichkeiten des modernen Gesundheitswesens verzichten wollten.

(Zustimmung bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Ich will auch das noch sagen, weil ich gestern in der Altmark war und mir wieder einige Zahlen anhören musste, auch über die Probleme, die es gibt, und weil ich nun zufällig in diesem Bereich ein bisschen Bescheid weiß: Zu DDR-Zeiten kamen im Jahr 1985 bei uns auf einen Arzt 439 Bürger. Im Jahr 2006 kommen in Sachsen-Anhalt auf einen Arzt 310 Bürger.

(Zustimmung von Frau Weiß, CDU)

Das heißt, die Versorgungsdichte ist größer geworden, nur die Steuerungsmöglichkeiten sind wesentlich schlechter geworden. Deswegen haben wir zurzeit punktuelle Probleme. Darüber muss man dann aber auch reden können.

(Herr Daldrup, CDU: Richtig! - Zustimmung von Frau Feußner, CDU)

Dass Sozialpolitik in einer geschlossenen Gesellschaft auch ganz andere Funktionen hat, hat zum Beispiel Friedrich Hayek schon im Jahr 1944 in seinem berühmten Buch „Der Weg in die Knechtschaft“ beschrieben. Es ist zwar im Jahr 1990 und im Jahr 2003 noch einmal aufgelegt worden; aber ich frage Sie, wer das in unserem Land schon gelesen haben wird.

Über die Strukturen und Konsequenzen einer offenen Gesellschaft hat Karl Popper schon im Jahr 1957 ge

schrieben. Mehrere Generationen im westlichen Teil Deutschlands kennen dies. Das Buch ist im Jahr 2003 in achter Auflage wieder erschienen. Ich konnte nicht erfahren, ob es irgendwo in Sachsen-Anhalt in unseren Schulen im Sozialkundeunterricht überhaupt erwähnt wird.

Die in allen Befragungen deutlichen Bewertungsunterschiede bei gesellschaftlichen Kommunikationsbegriffen zwischen Ost- und Westdeutschland sind nicht nur die Folge unterschiedlicher sozialkundlicher Ausbildung; aber es muss auch gesagt werden, dass etwa 57 % unserer Sozialkundelehrer noch keinen Qualifizierungsnachweis für dieses Fach haben. Ich halte das für nicht hinnehmbar.

Zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung werden wir in einer Bildungsoffensive diese demokratietheoretischen Grundlagen und Sachzusammenhänge besser vermitteln müssen.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Die Fortführung der universitären Nachqualifizierung und die Lehrerfort- und -weiterbildung im Fach Sozialkunde sind eine für mich zwingende Konsequenz aus den Befragungsergebnissen.

Auch der Umgang mit der von uns allen gewollten Freiheit ist nicht im Selbstlauf erlernbar. Er ist sogar schwieriger als vermutet. Wer Freiheit will, muss auch lernen, mit Unterschieden und mit der Qual eigener Entscheidungen zu leben.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Der Kultusminister hat mir erlaubt, zur Erläuterung aus seinen Erfahrungen zu berichten: Noch nie hatten die Hochschulen unseres Landes so viel innere Autonomie wie jetzt. Früher bekam der Minister häufig Beschwerdebriefe wegen seiner Entscheidungen in die angemahnte innere Hochschulautonomie hinein. Jetzt wird mit den Rahmenzielvereinbarungen den Hochschulen ein noch größerer eigener Entscheidungsbereich zugestanden. Seitdem bekommt der Minister Briefe mit der Aufforderung, Dinge anzuordnen, über die man sich untereinander nicht einigen kann.

(Herr Gürth, CDU: Das ist typisch!)

Und das nicht nur einmal, sondern öfter. Aber auch die Kommunalaufsicht kennt solche Anliegen.

Deshalb habe ich persönlich Verständnis dafür, wenn sich nicht wenige unserer Bürger allein gelassen fühlen, weil sie jetzt Dinge entscheiden sollen, die früher der Staat für sie entschieden hat. Nicht wenige sagen dann - und das ist unser Problem -, der Staat oder die Abgeordneten kümmerten sich nur noch um sich selbst und nicht mehr um die Bürger im Land.

An dieser Stelle würde ein formal aufklärendes Gespräch vermutlich mehr schaden als helfen. Dass Freiheit in einer offenen Gesellschaft mehr ist als Reisefreiheit, ist unbestritten. Aber eine unvorbereitete Entlassung aus einem vormundschaftlichen Staat in die eigene Mündigkeit ist ohne solche Anpassungsprobleme sicherlich auch nicht denkbar.

(Zustimmung von Frau Take, CDU)

Nur, meine Damen und Herren, wenn wir uns auf viele solcher Gespräche einlassen, werden wir davon über

zeugen können, dass auch gewählte Abgeordnete nicht für alles zuständig sein können oder sein dürfen.

Damit kommen wir zu Problemen, die weit über unsere eigene Region und unsere Gesellschaft hier hinausgehen. Eine offene Gesellschaft wäre eine sinnentleerte Gesellschaft, wenn sie ohne innere Bindungswerte bliebe. Sie ist anfällig für ideologische Versprechungen und eigentlich nur gewachsenen und gefestigten Demokratien zumutbar. Gesellschaften werden zusammengehalten durch einen Grundbestand verbindlicher Werte und durch eine motivierende Idee. Bisher waren das immer Hoffnungen, die über das eigene Leben hinausreichten.

Der kürzlich verstorbene Historiker Joachim Fest nannte die Idee des Sozialismus eine letzte große Gesellschaftsutopie, die ein pseudoreligiöses Welterklärungssystem mit der Verheißung auf wachsenden Wohlstand bot. Für diese Idee sind Hunderte Menschen gestorben, aber im Namen dieser Idee sind viele Tausende verbannt oder hingerichtet worden.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustim- mung bei der SPD)

Er sagte weiter, nach dem Scheitern der Utopien entstehe überall Orientierungsnot und Unsicherheit. Das individuelle Streben nach Wohlstand in einer Wettbewerbsgesellschaft sei sicherlich keine Idee, die die Menschen zusammenhalte. Insofern bestehe eine große Verführbarkeit durch neue Heilslehren und Kameradschaftsangebote.

Vieles spricht dafür, dass wir das gegenwärtig auch in unserem eigenen Lande erleben. Offene Gesellschaften sind besonders dann verführbar, wenn soziale Probleme Zweifel am Funktionieren der Demokratie aufkommen lassen. Diese Zweifel sind uns durch Umfragen bestätigt worden. Deshalb haben wir mehrere Programme aufgelegt, die die schulische Ausbildung verbessern und die berufliche Eingliederung auch der Problemjugendlichen erleichtern sollen. Deshalb ist es aber auch notwendig, ein gemeinsames Verfassungs- und Demokratieverständnis aufzubauen und ein auf Toleranz und Respekt vor der Würde des anderen beruhendes verbindliches Wertegerüst zu vereinbaren. Das kann dann auch eine offene Gesellschaft zusammenhalten.

Wenn die günstige wirtschaftliche Entwicklung noch deutlicher den Arbeitsmarkt entlastet, wird sie auch deutlicher in der Bevölkerung erlebbar sein. Deshalb werden wir in diesem Bereich auch weiterhin unsere Prioritäten setzen. Erfolg schafft Selbstvertrauen und Selbstbestärkung. Damit dürfte auch das Vertrauen in jene Strukturen wachsen, die diesen Erfolg mit aufgebaut haben.