Protocol of the Session on October 11, 2007

Wenn die günstige wirtschaftliche Entwicklung noch deutlicher den Arbeitsmarkt entlastet, wird sie auch deutlicher in der Bevölkerung erlebbar sein. Deshalb werden wir in diesem Bereich auch weiterhin unsere Prioritäten setzen. Erfolg schafft Selbstvertrauen und Selbstbestärkung. Damit dürfte auch das Vertrauen in jene Strukturen wachsen, die diesen Erfolg mit aufgebaut haben.

Die schon mehrfach genannte Umfrage hat aber auch gezeigt, wie viel unsere Bürger von uns erwarten und wie viele von uns enttäuscht sind. Das heißt, meine Damen und Herren, wir haben die Chance, gemeinsam besser zu werden. Dabei werden wir aber noch viel Verständnis füreinander brauchen. - Ich danke Ihnen.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Herr Ministerpräsident, ich danke Ihnen für die Abgabe der Regierungserklärung. - Wir kommen jetzt zur

Aussprache zur Regierungserklärung

Bevor ich dem ersten Debattenredner das Wort erteile, begrüße ich Gäste, nämlich zum einen Schülerinnen und Schüler des Dr.-Hermann-Gymnasiums in Schönebeck

(Beifall im ganzen Hause)

und zum anderen Damen und Herren des Seniorenverbandes der Beamten, Rentner und Hinterbliebenen, Ortsgruppe Wernigerode. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Ich bitte nun um die Aussprache zur Regierungserklärung und gebe für die Fraktion DIE LINKE Herrn Gallert das Wort. Bitte schön, Herr Gallert.

Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werter Herr Ministerpräsident, bevor ich zu der Regierungserklärung und zur Aussprache über die Dinge, die damit verbunden sind, komme, möchte ich Ihnen im Namen meiner Fraktion einen herzlichen Glückwunsch übermitteln. Wir haben gestern erfahren, dass Ihnen das Bundesverdienstkreuz verliehen wird.

(Ministerpräsident Herr Prof. Dr. Böhmer: Mor- gen!)

- Wir haben gestern erfahren, dass es Ihnen verliehen wird. Insofern schon heute unseren herzlichen Glückwunsch dazu. Sie können glauben, der ist aufrichtig.

(Beifall im ganzen Hause)

Auch das zeichnet vielleicht eine offene Gesellschaft aus.

Die Ankündigung der Regierungserklärung mit dem spannenden Thema „Sachsen-Anhalt auf dem Weg in eine offene Gesellschaft“ lässt einen erheblichen Interpretationsspielraum zu. Es besteht zweifellos die Gefahr, dass hier jeder das sagt, was er schon immer einmal sagen wollte. Einen Ordnungsruf wird er schlecht riskieren können; denn was gehört nicht zur offenen Gesellschaft?

Dieser Gefahr können wir jedoch entgehen, wenn wir uns konkret auf das vorliegende Papier, nämlich den Sachsen-Anhalt-Monitor beziehen. Das will ich hier ausdrücklich tun. Er ist eine sehr wertvolle Grundlage für die Rückkopplung von Politik und Gesellschaft in SachsenAnhalt. Das belegt schon seit längerer Zeit der Thüringen-Monitor, der seit einigen Jahren erhoben wird. Ich glaube, hier hat man an einer Stelle wirklich Wichtiges und Gutes gelernt. Sowohl Umfang als auch Fragestellungen des Sachsen-Anhalt-Monitors sind durchaus geeignet dafür, den Autoren Dank auszusprechen. Dies war gut angelegtes Geld.

Bei der Bewertung der einzelnen Umfrageergebnisse müssen wir jedoch mit ein bisschen Vorsicht herangehen. Eine der Zahlen, die in der Auswertung dieser Umfrage in den Medien sofort eine Rolle gespielt haben, war folgende: 72 % der Menschen in Sachsen-Anhalt sind mit ihrer Lebenssituation zufrieden.

Man muss den Autoren gerecht werden, die selbst darauf hinweisen, dass diese Zahl natürlich nicht stimmt. Die Autoren weisen darauf hin, dass etwa 1 800 Menschen kontaktiert worden sind, von denen 1 000 geantwortet haben, und dass die Reflexion der individuellen Lage und des politischen Systems unter den 800, die abgelehnt haben, sich befragen zu lassen, deutlich

schlechter ist als die Stimmung unter den 1 000, die sich haben befragen lassen. Das besagen langfristige Erfahrungen im wissenschaftlichen Analysebereich. Selbst die Autoren gehen also davon aus, dass die 72 %, die mit ihrer aktuellen Lebenssituation zufrieden sind, der Höchstwert sind. Der möglicherweise niedrigste Wert beträgt 40 %. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte.

Es gibt eine andere Zahl, an der dies sehr deutlich wird. Wir haben bei den Landtagswahlen im Jahr 2006 einen Anteil an Nichtwählern von 56 % gehabt. Dazu bekennen sich in den Umfragen 28 %. Dies ist ein nachweisbarer Unterschied.

Nun eine kurze mathematische Aufgabe: Unter den 800, die eine Befragung abgelehnt haben, hätten 790 Nichtwähler sein müssen, damit die 28 % von den 1 000 Befragten stimmen. - So weit zu den Umfragergebnissen und so weit zu der Bewertung der darin enthaltenen Aussagen. Deswegen mahnen wir an dieser Stelle zur Vorsicht.

Trotzdem, die Dinge sind wichtig und wir können und müssen sie analysieren. Für die politische Bühne ist zuallererst die Frage interessant, wie das politische System und seine Vertreter eingeschätzt werden. An dieser Stelle - das sollten wir uns alle auch nicht schönreden - bekommen wir insgesamt ein nahezu verheerendes Urteil. Dass die Politiker sich um die Probleme der einfachen Leute kümmern, ist eine Aussage, die in Sachsen-Anhalt nur von einem Viertel der Befragten bejaht wird; bei den 1 800 würde es wahrscheinlich deutlich dramatischer aussehen. Der Aussage, dass wir den Kontakt zum Volk verlieren, stimmt eine Mehrheit der Befragten voll und ganz zu.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Einschätzung betrifft uns alle über die Parteigrenzen hinweg und sie trifft uns in ihrer Tendenz auf allen Ebenen. Wenn wir ehrlich sind, dürfte uns eine solche Einschätzung auch nicht überraschen. Die Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl im Jahr 2006, die die historisch niedrigste bei einer Landtagswahl in der Geschichte der Bundesrepublik war, hat uns diese Hinweise genauso gegeben wie die Art und Weise der Diätendiskussion hier im Land. All das sind seit Langem Indizien für eine strukturelle Vertrauenskrise.

Ich will mich ausdrücklich nicht mit einer solchen Schlussfolgerung zufrieden geben, die da sagt: „Wir müssen den Menschen unser Tun nur besser erklären.“ Ich befürchte eher umgekehrt, dass die Menschen uns an verschiedenen Stellen besser verstanden haben, als es uns lieb sein dürfte.

(Beifall bei der LINKEN)

Interessant dabei sind natürlich auch die Abstufungen zwischen den verschiedenen Ebenen. Je höher die Ebene, desto schlechter die Bewertung der Institutionen, was einem allgemeinen Gefühl der Entfremdung des Einzelnen vom politischen System durchaus entspricht. Seien wir einmal ehrlich: Selbst uns als Landespolitikern erscheint die politische Entscheidungsfindung auf Bundes- und EU-Ebene manchmal eher etwas mit dem Weltraum als mit dem normalen Leben zu tun zu haben.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Trotzdem ist die Wahlbeteiligung der Bürger genau umgekehrt verteilt. Mit Ausnahme der europäischen Ebene steigt die Zahl der Wahlbeteiligten mit der Höhe der poli

tischen Ebene bzw. sinkt sie, je näher die politische Vertretung an den Menschen selbst dran ist. Es mag schon fast paradox erscheinen, dass wir es gerade bei denjenigen, die das größte Vertrauen genießen, nämlich den Landräten und Oberbürgermeistern, in der Vergangenheit auch in Sachsen-Anhalt mit der mit Abstand niedrigsten Wahlbeteiligung zu tun hatten. Viele von den Landräten sind mit knapp über 20 % gewählt worden.

Dieses Phänomen weist auf einen Umstand hin, welcher aus unserer Sicht der bedenklichste Punkt innerhalb der Befragung ist, nämlich die überwiegende Ablehnung von Pluralität als Wesensmerkmal der Demokratie. Die Autoren der Studie schreiben dazu, dass diejenigen Institutionen, in denen politischer Streit ausgetragen wird, also Pluralismus geübt wird, diejenigen sind, die die niedrigste Akzeptanz besitzen, während man eher bereit ist, jemandem Vertrauen zu schenken, der alle repräsentieren soll.

Am deutlichsten wird dies in der Beantwortung der Frage, ob es Aufgabe der politischen Opposition ist, die Regierung zu unterstützen und deren Entscheidungen mitzutragen. Dem stimmen zwei Drittel der Bevölkerung unvoreingenommen zu. Nun könnten die Kollegen aus den anderen Fraktionen sagen: Seht ihr, ihr Linken, das ist eure Last, die habt ihr zu tragen.

(Herr Gürth, CDU: Weil ihr immer rummeckert!)

Eure politische Verantwortung für die DDR trifft euch jetzt. In der Opposition habt ihr die Entscheidungen der Regierung mitzutragen.

Ich sage, diese Schadenfreude müssen wir aushalten. Aber sie beantwortet eine Frage nicht. Es gibt zwei Altersgruppen, die bei dieser Erhebung befragt worden sind, die ihre politische Sozialisation ausschließlich oder überwiegend nach der Wende erhalten haben und nicht in der DDR. Mit Ausnahme der Gruppe der Rentner ist deren Zustimmung zu der These, die Opposition habe gefälligst die Regierung zu unterstützen, am größten.

Das heißt, nicht diejenigen, die in der DDR sozialisiert worden sind, sagen, politische Auseinandersetzung und Meinungsstreit sind die Dinge, die wir gefälligst nicht hören wollen, sondern diejenigen, die in der Bundesrepublik Deutschland sozialisiert worden sind, vertreten diese These am entschiedensten. An dieser Stelle sage ich, diese Schuld können Sie uns zumindest nicht in vollem Umfang in die Schuhe schieben.

(Herr Gürth, CDU: Das liegt an der Qualität der Regierung!)

Politische Auseinandersetzungen werden fast immer als Ausdruck von Defiziten bewertet und nicht als der schwierige, aber bestmögliche Weg hin zu einer besseren Entscheidungsfindung. Dann ist es auch logisch, dass Parteien, die in Konkurrenz zueinander stehen, letztlich als überflüssig betrachtet werden können und vielleicht besser abgeschafft werden sollten.

Wie ernst dieses Problem wirklich ist, belegt unter anderem eine der Aussagen in Ihrer Rede, Herr Böhmer. Wenn Sie es mit Ihrer Aussage ernst meinen, dass wir den Vorwurf nicht bestätigen wollen, dass die Länder ihre föderalen Kompetenzen als, so Herr Böhmer, politische Spielwiese für Parteien missbrauchen wollen, dann stoßen Sie genau in diese Kerbe hinein.

Mich wundert dieser Satz zum einen vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung in der Koalition über die

Gemeindegebietsreform; aber das, Herr Böhmer, ist Ihr Problem. Viel gravierender ist das Problem, dass mit einer solchen Position, die Sie hier vorgetragen haben, der Eindruck erweckt wird, wichtige politische Entscheidungen sollten besser nicht von politischen Parteien getroffen werden; denn sie befinden sich auf irgendeiner Spielweise, sind also nicht ernst zu nehmen.

Herr Böhmer, wer soll die politischen Entscheidungen dann treffen? - Nun gut, per Volksentscheid. Aber davon habe ich in Ihrer Rede nichts gehört. Dann sage ich: Sie bestätigen durch Ihre Rede eines der großen Defizite in dieser Umfrage.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Nahezu paradox erscheint auch hier wieder, dass diese Haltung in einem Land so stark ausgeprägt ist, das im Gegensatz zu anderen ostdeutschen Bundesländern die Regierungsmehrheit schon mehrfach abgewählt hat.

Einer der Punkte, bei denen uns diese Haltung auf die Füße fällt, ist häufig die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus. Die Argumentation: „Entweder sie sind verboten oder sie sind eine normale politische Strömung wie alle anderen auch“, ist Ausdruck dieses Problems. Der Unterschied zwischen Legalität und Legitimität ist vielen leider immer noch fremd. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus wird in ihrem Wert nicht erkannt und durch administrative Maßnahmen und Verbotsforderungen, die im Einzelfall durchaus legitim sein können, ersetzt; aber diese werden das Problem nicht lösen.

Bei der Bewertung des politischen Systems und vor allem der eigenen Stellung und Bedeutung darin, schiebt sich darüber hinaus ein weiteres ebenso wichtiges Problem in den Vordergrund, und zwar die verfestigte Abkehr vom politischen System bei denjenigen, die mit ihrer sozialen Situation substanziell unzufrieden sind. Das betrifft vor allem diejenigen, die langzeitarbeitslos sind, und diejenigen, die einen geringeren Bildungsabschluss haben.

Es betrifft allerdings auch die Altersgruppe der über 45-Jährigen, die aber wiederum von sich sagen, dass sie sich am intensivsten mit politischen Problemen auseinandersetzen. Vor allem in der Altersgruppe der 44- bis 59-Jährigen hat hier ganz offensichtlich die Angst um den eigenen Arbeitsplatz und die soziale Perspektive einen dominanten Einfluss auf die Bewertung des politischen Systems.

Dies ist erst einmal nicht verwunderlich. Problematisch ist aber die Lernfähigkeit des politischen Systems, die deutlich geringer ausgeprägt ist, und das aus folgendem Grund: Wenn wir zu konstatieren haben, dass sich Menschen, die sich in sozialen Problemlagen befinden, die mit dem politischen System unzufrieden sind, die mit ihrer eigenen Situation unzufrieden sind, sich politisch überhaupt nicht mehr äußern - denn sie gehen nicht mehr wählen, sie kontaktieren keine Politiker mehr -, dann verliert dieses politische System seine Lernfähigkeit, dann verliert dieses politische System die Fähigkeit, auf die Bedürfnisse derjenigen einzugehen, die sich schon selbst weitgehend vom politischen System abgekoppelt haben.

Auch dies bestätigt der Sachsen-Anhalt-Monitor: Diese Gruppe wächst, sie wächst in einem erheblichen Maße. Eine der Kernfragen des politischen Systems wird sein, ob diese Gruppe überhaupt wieder in Kommunikation

zum politischen System tritt, ob sie zur Wahl geht, ob sie ihre Bedürfnisse und ihre Ansichten überhaupt noch artikuliert. Sie scheint es in einem wachsenden Maße nicht mehr zu tun. Das ist eines der Kernprobleme des politischen Systems auch hier in Sachsen-Anhalt.

(Beifall bei der LINKEN)