Protocol of the Session on September 14, 2007

Das Bundesverfassungsgericht hat die ganze Sache gekippt, aber aus kompetenzrechtlichen Gründen. Denn wir haben uns angemaßt, etwas aus dem Gefahrenabwehrrecht zu regeln, das nicht Landessache ist. Aber dasselbe Bundesverfassungsgericht hat dann, als der Bundesgesetzgeber die Problematik durch die Neuregelung des § 66 Abs. 2 geregelt hat, die nachträgliche Sicherungsverwahrung für verfassungsrechtlich zulässig erachtet. Einen zentralen Satz dazu zitierte ich jetzt:

„Der Schutz vor Verurteilten, von denen auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen schwere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, stellt ein überragendes Gemeinwohlinteresse dar.“

Die Frage ist doch, Herr Wolpert, Frau von Angern, ob dieses überragende Gemeinwohlinteresse dann nicht gelten soll, wenn derjenige, um den es sich hier handelt, nicht 14 Jahre, sondern im ungünstigsten Fall bereits 21 Jahre alt ist. Soll in diesem Fall aufgrund der Altersgrenze diese verfassungsrechtliche Abwägung auf einmal nicht mehr gelten?

(Herr Stahlknecht, CDU: So ist es!)

Wir meinen, dass diese Abwägung in dem gleichen Maße zu treffen ist.

Frau von Angern, selbstverständlich muss es das Ziel des Jugendstrafvollzuges sein - das haben mehrere Redner betont -, durch Erziehung den Straftäter zu befähigen, dass er, wenn er das Gefängnis verlässt, nicht wieder straffällig wird. Neben diesem dem Jugendstrafrecht innewohnenden Erziehungsgedanken gibt es aber auch den anderen Aspekt, nämlich das Bedürfnis, potenzielle Opfer vor gefährlichen Gewalttätern zu schützen.

Frau von Angern, Sie haben gesagt: Jawohl, dieses Schutzbedürfnis sehen wir auch. Aber wie wollen Sie diesem Schutzbedürfnis entsprechen? Dazu haben Sie in Ihrer langen Einbringungsrede nicht ausdrücklich etwas gesagt.

(Zuruf von Frau Bull, DIE LINKE)

Dass es die Ausnahme sein wird - wir haben bisher keinen Fall und können auch nur hoffen, dass es möglichst nicht so kommen wird, was ein gutes Zeichen für unse

ren Jugendstrafvollzug wäre -, schließt nicht aus, dass es dennoch - das hat auch etwas mit der Psychologie der Täterpersönlichkeit zu tun, Herr Wolpert, das wissen Sie auch, und nicht nur mit der Erziehung, die der Vollzug bereit hält - einen Fall geben kann, für den wir eine solche Regelung brauchen. Es hat in der Bundesrepublik in den letzten Jahren - einen Fall hat die Ministerin genannt - Beispiele gegeben, bei denen deutlich wurde, dass eine solche Regelung gefehlt hat.

Frau von Angern, wir stimmen in einer Sache überein: Lassen Sie uns durch einen, wie Sie gesagt haben, progressiven Jugendstrafvollzug dafür Sorge tragen - in der rechtlichen Ausgestaltung, aber auch durch die sächliche und personelle Ausstattung -, dass eine solche Regelung, wenn sie der Bundesgesetzgeber jetzt auf den Weg bringt, hier in Sachsen-Anhalt ins Leere läuft.

Aber das Bedürfnis, potenzielle Opfer zu schützen, schließt es ein, dass wir auch den Belangen der Opfer Rechnung tragen und insoweit hier einen Schutzmechanismus haben müssen, auf den man, wenn es denn im Einzelfall als Ultima Ratio nötig wird, zurückgreifen kann. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. - Vielen Dank.

Herzlichen Dank, Herr Dr. Brachmann. - Nun erteile ich der Abgeordneten Frau von Angern von der LINKEN das Wort. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Ich sprach vorhin nicht ohne Grund über den Jugendstrafvollzug, als Herr Tullner dazwischenrief, dass ich doch beim Thema bleiben solle. Ich denke, der Jugendstrafvollzug ist für den jugendlichen Straftäter, der zu einer Jugendstrafe verurteilt worden ist, sehr wohl Dreh- und Angelpunkt, weil er sein Lebensmittelpunkt ist. Das heißt, wir müssen sehr intensiv schauen: Was passiert in unserem Jugendstrafvollzug oder was passiert eben nicht?

Ich denke, wir haben ein Bruchteil von dem, was eben nicht passiert, vorgestern in der Anhörung hören dürfen und hören müssen. Auch wissen wir, dass der aktuelle Gesetzentwurf, der zum Jugendstrafvollzug in SachsenAnhalt vorliegt, dem noch nicht gerecht wird. Ich bin darauf gespannt, welche Änderungsanträge die SPD dazu im Ausschuss vorlegen wird.

Um noch einmal deutlich zu machen, was der Unterschied ist zwischen einem 22-Jährigen, der sieben Jahre in Haft verbracht hat, und einem 22-Jährigen, der nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt wird: Es sind eben diese sieben Jahre Haft. Es sind eben diese sieben Jahre Haft beispielsweise in der Jugendanstalt Raßnitz, wo sich, wie ich es vorhin bereits sagte, 123 jugendliche Straftäter einen Psychologen teilen müssen. Das ist doch das Problem.

Um noch einmal auf das Thema Ultima Ratio zu kommen. Mir ist vorhin etwas bewusst geworden und ich habe mich gefragt: Was passiert eigentlich? Was macht die Politik? Was gibt die Politik für eine Antwort, wenn sich der Gutachter in dem von Herrn Kosmehl angesprochenen unsicheren Fall tatsächlich in dubio pro reo, sprich für den Täter, entscheidet und keine nachträgliche Si

cherungsverwahrung empfiehlt? Der Täter kommt aus der Haft und begeht eine Straftat. Was wird dann die nächste Ultima Ratio sein?

Uns muss einfach klar sein: Es gibt diese absolute Sicherheit nicht. Diesbezüglich unterstütze ich Herrn Wolpert. Wir als Demokratinnen und Demokraten müssen bestimmte Dinge in einer Demokratie aushalten. Es ist populistisch, wenn wir uns hinstellen und sagen: Es gibt diese absolute Sicherheit.

(Herr Tullner, CDU: Das sagt doch niemand! - Herr Stahlknecht, CDU: Das hat niemand ge- sagt!)

Diese gibt es nicht. Diese Feststellung ist keine Missachtung der Opfer. Mit allem Respekt vor den Opfern muss man genau dies ehrlich bekennen. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung wird uns daraus nicht heraushelfen. - Danke.

(Zustimmung bei der LINKEN und von Herrn Kosmehl, FDP)

Herzlichen Dank. - Wir sind damit am Ende der Debatte. Eine Überweisung ist nicht beantragt worden.

Ich lasse jetzt über den Antrag in der Drs. 5/854 abstimmen. Wer diesem Antrag zustimmt, den bitte ich um das Kartenzeichen. - Zustimmung bei der LINKEN und bei der FDP. Wer lehnt den Antrag ab? - Ablehnung bei der Koalition. Damit ist der Antrag abgelehnt worden und der Tagesordnungspunkt 18 ist erledigt, meine Damen und Herren.

Ich rufe als letzten Punkt den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung

Auswirkungen der beabsichtigten Gemeindegebietsreform auf vorhandene Förderprogramme des Landes Sachsen-Anhalt

Antrag der Fraktion DIE LINKE - Drs. 5/858

Änderungsantrag der Fraktionen der CDU und der SPD - Drs. 5/876

Einbringer ist der Abgeordnete Herr Grünert von der Fraktion DIE LINKE. Bitte schön, Herr Grünert, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem vorliegenden Antrag der Fraktion DIE LINKE liegen drei wesentliche Aspekte zugrunde. In meiner Einbringung werde ich zu den einzelnen Aspekten Stellung nehmen.

Die erste Prämisse sind die in der mittelfristigen Finanzplanung dargestellten Finanzentwicklungen der Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen sowie der Europäischen Union, hier besonders der Mittel des Programms des europäischen Landwirtschaftsfonds ELER. In der mittelfristigen Finanzplanung ist sichtbar, dass beide angesprochenen Finanzierungsquellen in den Folgejahren abgesenkt werden. Auch war und ist klar, dass

ab 2008 eine neue Förderphase beginnt, die aufgrund der Absenkungen auch Auswirkungen haben wird, da trotz höherer Einnahmen nicht davon auszugehen ist, dass die Absenkungen durch Landesmittel kompensiert werden können.

In diesem Zusammenhang bin ich von der „Ahnungslosigkeit“ der Landwirtschaftsministerin überrascht, wenn sie sich die Entrüstung gerade im ländlichen Raum nicht erklären kann, die letztlich Ausdruck dessen war, dass es hier eine Veränderung in den Fördermodalitäten gab. Vielleicht wäre ein Erkenntniszugewinn möglich gewesen, wenn man sich im Vorfeld mit den betroffenen kommunalen und regionalen Akteuren verständigt und sich gegebenenfalls auch mit dem Innenministerium abgestimmt hätte. Dies war und ist offensichtlich nicht geschehen. Dazu werde ich im dritten Teil zum dritten Aspekt noch Ausführungen machen.

Den schwarzen Peter nunmehr den betroffenen Kommunen zuzuschieben, lenkt aus meiner Sicht von der eigenen Verantwortung ab. Auch sind der Landesregierung mit der mittelfristigen Finanzplanung diese Entwicklungen bekannt gewesen.

Eine Erklärung dafür, warum beabsichtigte Veränderungen sowohl hinsichtlich der Höhe als auch hinsichtlich der inhaltlichen Faktoren nicht langfristig mit den betroffenen Akteuren besprochen wurden, bleibt die Landesregierung in ihren medialen Auftritten schuldig. Mal kurz das Sommerloch mit den beabsichtigten Veränderungen zu füllen, entspricht aus unserer Sicht nicht einem seriösen Vorgehen. Man hat eher den Eindruck, dass im Zusammenhang mit der weiteren Haushaltskonsolidierung Einsparpotenziale gesucht wurden und werden, die insbesondere - diese Gefahr besteht - zulasten des ländlichen Raumes gehen.

Zum zweiten Aspekt. Das Landesplanungsgesetz und die Landesverfassung sprechen sich für die Entwicklung annähernd gleichwertiger Lebensbedingungen im Land Sachsen-Anhalt aus. Dies ist auch folgerichtig, da nur 50 % der Bevölkerung unseres Landes in städtischen Bereichen wohnen. Schon jetzt lassen sich Disparitäten feststellen, die dem genannten Ziel entgegenstehen - sei es die Grundversorgung mit Waren des täglichen Bedarfs, die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, die Ausstattung mit niedergelassenen Ärzten usw. usf.

Im Zuge der beabsichtigten Novellierung des Finanzausgleichsgesetzes sollen die so genannten zentralen Orte hinsichtlich der Zuweisung investiver Mittel bevorzugt werden, was den übrigen ländlichen Raum aus unserer Sicht schwächen kann. Dem steht die Aussage der Landesregierung gegenüber, die sich für eine Stärkung der Haltefaktoren und der Bindung an den ländlichen Raum - vor allem junger Menschen und Familien - ausgesprochen hat.

Dies wird auch in den politischen Leitlinien der Allianz für den ländlichen Raum - abgekürzt: ALR - als Zielsetzung festgeschrieben. Diese Zielsetzungen liegen den Integrierten Ländlichen Entwicklungskonzepten zugrunde, die in allen neun ILE-Regionen des Landes seit 2006 vorliegen.

Eine so tiefgreifende Änderung der Förderpolitik, wie sie mit der beabsichtigten Neuordnung von Städtebauförderung und Förderung der Dorferneuerung/Dorfentwicklung einhergeht, hätte insbesondere mit den Trägern des ILE-Prozesses, den Landkreisen, langfristig vorbereitet und diskutiert werden können.

Bei einer beabsichtigten Konzentration des Einsatzes öffentlicher Mittel sind aus meiner Sicht zweierlei Prämissen abzuwägen. Das ist zum einen die Stärkung der zentralen Orte und zum anderen die politische Aufgabe, den Bürgerinnen und Bürgern, die in Gemeinden außerhalb der zentralen Orte leben, Bleibe-Perspektiven zu vermitteln. Dazu dienen in erster Linie auch die europäischen Strukturfonds bei der notwendigen Anpassung der kommunalen Infrastruktur zur Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Ohne die Förderungsmöglichkeiten des ELER-Programms werden weite Teile des ländlichen Raums den Wegzug insbesondere junger Menschen aus den Dörfern nicht aufhalten können.

Die vorgesehene Neuordnung der Förderkulisse bringt vor allem den Akteuren in Leader-Gruppen Probleme. Die Europäische Union und das Land wollen diese Bottom-up-Initiative nutzen, um integrierte Förderansätze insbesondere in den Dörfern umzusetzen.

Der Entwurf des Entwicklungsplans für den ländlichen Raum der Landesregierung sieht derzeit die Förderung der Dorfentwicklung als Schwerpunkt für die LeaderFörderung vor. Wenn nunmehr Orte im Umfeld jener Städte, die künftig allein aus der Städtebauförderung Unterstützung erhalten sollen, aus dieser Förderkategorie herausfallen, wird ein Großteil der Leader-Aktivitäten der Boden entzogen. Damit würden weite Teile der Landkreise aus der ELER-Förderung im Bereich der Dorferneuerung/Dorfentwicklung ausgeschlossen.

Besonders problematisch wird die beabsichtigte Änderung jene Orte treffen, die sich vor dem 30. Juni 2006 eingemeinden ließen. Sie fallen offensichtlich aus der Dorferneuerung, wenn die eingemeindende Stadt bereits Städtebauförderung erhält. Dies wird vor dem Hintergrund des gerade durch die Landesregierung vorgestellten Gemeindeneugliederungs-Grundsätzegesetzes zur flächendeckenden Bildung von Einheitsgemeinden besonders plastisch.

Schon jetzt trifft es unter anderem Städte wie Jessen und Sangerhausen, die über eine Vielzahl von räumlich getrennten Ortschaften verfügen und von der Neuregelung besonders betroffen werden.

Weitere mögliche zu bildende Einheitsgemeinden insbesondere im dünn besiedelten Bereich wären ebenfalls davon betroffen. Schon jetzt ist abzusehen, dass die Gemeinderäte sehr wohl abwägen werden, ob der Verlust der Förderung der Dorferneuerung/Dorfentwicklung einen Zusammenschluss zu einer Einheitsgemeinde rechtfertigen würde oder nicht.

Meine Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, dass mit dieser beabsichtigten Änderung dem Koalitionsstreit zur Gemeindegebietsreform bewusst neue Nahrung gegeben werden soll. Dies ist der weiteren Entwicklung unseres Landes und der Schaffung annähernd gleichwertiger Lebensbedingungen eher abträglich als förderlich.

(Zuruf von Minister Herrn Dr. Daehre)

- Herr Minister, Sie können nachher darstellen, dass dem nicht so ist.

Zum dritten Aspekt. Gemeint ist an dieser Stelle das partnerschaftliche Zusammenwirken der Landesregierung und der kommunalen Ebene. An dieser Stelle lasse ich den Informationsaustausch zwischen der Landesregierung und dem Parlament ausdrücklich außen vor.

Wenn also langfristig klar ist, dass sich Förderbedingungen und -fonds ändern - darauf bin ich bereits eingegangen -, dann gehört eine rechtzeitige Information und Anhörung der Betroffenen nicht nur zum guten Ton, sondern ist Grundvoraussetzung für ein Gelingen beabsichtigter Vorhaben.