Protocol of the Session on June 8, 2006

Um die Vision von einer solidarischen Leistungsgesellschaft umsetzen zu können, müssen wir drei zentrale Punkte erreichen.

Erstens ist es notwendig, die Handlungsfähigkeit der Politik im Land auf allen Ebenen zurückzugewinnen. Dazu müssen wir den Landeshaushalt sanieren und eine effiziente, moderne Verwaltung aufbauen, die sowohl den Anforderungen der Bürgerinnen und Bürger als auch den Erfordernissen des demografischen Wandels entspricht. Nur so werden wir die Investitionen tätigen und die Rahmenbedingungen schaffen können, die für eine positive Entwicklung des Landes unabdingbar sind.

In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass das Haushaltsrecht die Wurzel der modernen parlamentarischen Demokratie bildet. Es liegt also in unserer ureigenen Verantwortung als Parlament, mit der Zukunft des Landes sorgsam umzugehen und seine Finanzen in der Gegenwart in Ordnung zu bringen.

Darauf aufbauend wollen wir zweitens die Potenziale Sachsen-Anhalts für mehr Wachstum konsequent nutzen. Wir verfolgen eine Politik, die zukunftsfähige Arbeits- und Ausbildungsplätze schafft, die den Abstand zu anderen Regionen in der Bundesrepublik verringert und die Sachsen-Anhalt als eine starke und zukunftsfähige Region in Europa etabliert.

Wir wollen unser Land für Wirtschaftsansiedlungen noch attraktiver gestalten und die Belebung des Arbeitsmarktes mit allen Kräften sinnvoll fördern. Dabei setzen wir auch auf die Chancen unseres Landes als moderner Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort und vertrauen auf den Leistungswillen der Menschen in unserem Land.

Drittens müssen wir die Investitionen vornehmen, die das Profil des Landes als Standort schärfen und die unsere Zukunft sichern. Dabei räumen wir den Investitionen in Bildung und Forschung sowie einer gezielten Politik für Familien und für Kinder eine sehr hohe Priorität ein.

Meine Damen und Herren! Haushaltskonsolidierung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die alle betrifft und nicht zulasten der Schwachen in unserer Gesellschaft gehen darf. Leistungsorientierung ist dann gut, wenn die Solidarität nicht abhanden kommt. Dazu ist ein enger Schulterschluss mit den Kräften in der Gesellschaft notwendig, die gestalten wollen: mit den Gewerkschaften, mit den Vereinen und Verbänden, mit den Kammern und mit den Kirchen.

Der Umbau in eine wirklich solidarische Leistungsgesellschaft gelingt nicht von oben herab, sondern er gelingt nur aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Sicherlich wird niemand etwas gegen eine solidarische Leistungsgesellschaft haben. Aber das, was wir so einfach und leicht aussprechen, ist sehr schwer umzusetzen. Dazu gehören zwingend das Thema „leistungsgerechte Bezahlung“, das Thema „Mindestlohn“ und der Grundsatz „Von Arbeit muss man leben können“. Ich kann Ihnen dazu zwar keine abschließende Antwort geben, aber fest steht: Wir müssen in dieser Legislaturperiode der Bundesregierung zu einem Ergebnis kommen und wir müssen uns auch in Sachsen-Anhalt dazu positionieren - das ist richtig.

In der „Zeit“ gab es kürzlich dazu einen Artikel, der die Überschrift trug: „Lohnt sich das? - Habe Arbeit, brauche Geld.“ Als Beispiele werden aufgeführt: eine Küchenhilfe, die 42 Stunden in der Woche an sechs Tagen arbeitet und der 14 € am Tag zum Leben bleiben, ein gelernter Kfz-Mechaniker, der bei einem Zulieferer des Leipziger BMW-Werkes arbeitet, der in Naumburg lebt und der

noch 655 € zum Leben hat - davon müsste er normalerweise noch Miete zahlen, wenn er nicht bei seinen Eltern leben würde -, ein Briefträger, nicht bei der Post, sondern bei einem freien Unternehmen, der zusammen mit seinem Sohn 655 € zur Verfügung hat, und ein Lehrer, der bei einem freien Bildungsträger für ein Nettogehalt von 800 € arbeitet.

Das ist noch nicht einmal das Ende der Spirale nach unten. Nur 15,2 % aller Geringverdiener haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Die einfache Antwort, die nicht oder schlecht Ausgebildeten seinen die Verlierer am Arbeitsmarkt, stimmt also nicht mehr.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Immer breitere Schichten der ausgebildeten Bevölkerung teilen das Schicksal, aus dem Geringverdienerbereich nicht mehr herauszukommen. Mindestlohn oder Kombilohn oder möglicherweise auch beide Modelle - wir müssen eine Antwort finden. Wir setzen darauf, dass gemeinsam mit den Ländern und mit dem Bund möglichst noch in diesem Jahr eine abschließende Diskussion geführt wird.

Auch die Wirtschaftspolitik der nächsten Jahre wird dazu ihren Beitrag leisten müssen. Wir werden uns bei der Förderung konzentrieren müssen. Ein Schwerpunkt muss die Vertiefung der Wertschöpfungsketten sein, ein weiterer die Förderung der Produktion technologieintensiver Güter. Im Koalitionsvertrag haben wir die Erstellung einer Clusterpotenzial-Studie festgeschrieben. Ich baue fest darauf, dass über diese neuen wirtschaftspolitischen Strategien dann auch erst in den Ausschüssen diskutiert wird und dass sich das Parlament dazu eine Meinung bilden kann.

Der Bereich der Forschung und Entwicklung ist wichtig. Aber das, was die PDS in ihrem Programm formuliert hat, dass es ausschließlich um diesen Bereich gehe, halte ich persönlich - das habe ich oft genug gesagt - für den falschen wirtschaftspolitischen Ansatz. Forschung und Entwicklung müssen einen breiten Raum einnehmen; es muss aber auch noch andere Dinge im Bereich der Wirtschaftspolitik geben.

Frau Abgeordnete Budde, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Herrn Gallert?

Am Ende meiner Rede sehr gern.

Herr Ministerpräsident, ich gebe Ihnen Recht, wenn Sie sagen: Die bisher vorrangig auf den Nachteilsausgleich orientierte Förderpolitik für strukturschwache Räume muss in diesem Zusammenhang zu einer regionalen Wachstums- und Innovationspolitik umfunktioniert werden. Eine zukunftsorientierte Wirtschaft braucht kluge Köpfe. Wissen ist heute in jeder Branche das entscheidende Zukunftspotenzial.

Unsere Aufgabe als Parlament ist es, die dafür notwendigen Voraussetzungen im Bildungs-, Hochschul- und Forschungsbereich zu schaffen. Nach dem Ende der Föderalismusdebatte werden wir als Land wohl eher noch größere Aufgaben zu bewältigen haben. Deshalb einige Anmerkungen zur Bildungspolitik.

Seit 1990 hat es in Sachsen-Anhalt unzählige Veränderungen in der Bildungspolitik gegeben. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln - ein Wechsel von

Schwarz-Gelb zu Rot und dann wieder zurück zu Schwarz-Gelb. Das ist so. Das Schulsystem ist jedes Mal, wenn sich das Farbenspiel änderte, auch wieder geändert worden.

Deshalb, Herr Gallert, haben wir schweren Herzens davon Abstand genommen, in den Koalitionsgesprächen über eine erneute Änderung des Schulsystems in dieser Legislaturperiode zu verhandeln, obwohl wir der festen, unverrückbaren Meinung sind, dass ein längeres gemeinsames Lernen dringend Not tut und bessere Ergebnisse bringen würde. Wir werden in dieser Auffassung - Gott sei Dank - auch von einer breiten Masse an Experten unterstützt.

(Beifall bei der SPD)

Den Hauptschulabschluss halte ich im Übrigen für absoluten Unsinn. Heute finden selbst diejenigen, die die 10. Klasse mit mittelmäßigen Leistungen abgeschlossen haben, kaum eine Lehrstelle. Eine Anerkennung im Ausnahmefall würde reichen. Aber all dies wird in einem Bildungskonvent zu diskutieren sein.

Diese Themen müssen unter Einbeziehung breiter gesellschaftlicher Schichten erörtert werden, eben damit sie hinterher auch von der breiten Masse der Bevölkerung akzeptiert werden. Wir setzen darauf, dass die Ergebnisse dieses Konvents dann im Land umgesetzt und akzeptiert werden, unabhängig davon, welches Farbenspiel eine Regierung aufweist.

Deshalb halte ich es für richtig, dass eine längere Debatte darüber stattfindet. Die aus meiner Sicht immer noch gute Förderstufe hat in vielen Bereichen der Bevölkerung keine Akzeptanz gefunden. Es war einer der großen Fehler, dass sie dort nicht verankert war. Deshalb setzen wir tatsächlich auf diesen Bildungskonvent.

Das Ziel ist ein dauerhaft tragfähiges, international ausgerichtetes leistungsgerechtes Bildungssystem. Aber auch soziale Kompetenzen zu vermitteln sowie Demokratie verstehen und leben zu lehren sind Aufgaben, denen sich unser Bildungssystem stellen muss. Aus unserer Sicht leistet die Schulsozialarbeit einen wirksamen Beitrag zur Gewaltprävention und zur Konfliktbewältigung an den Schulen. Das ist neben der politischen Bildung in allen Schichten der Bevölkerung eine Aufgabe, die auch aus Mitteln der Europäischen Union zu leisten ist.

Lernen soll Spaß machen, zumindest meistens. - Das ist nicht immer so; das weiß ich von meinen Kindern. Aber wir brauchen Schulen, in denen das Lernen Spaß macht und in denen sich der Leistungswille und die Leistungsbereitschaft entwickeln können. Ein Baustein dazu ist mit Sicherheit die Sanierung unserer Schulen, insbesondere im Sekundarschulbereich; denn ein gutes Umfeld fördert gutes Lernen.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Wir haben ein Problem in der Schulentwicklungsplanung, weil uns die nachwachsenden Generationen, die Kinder, fehlen. Auch in diesem Zusammenhang wird darüber nachgedacht, neue politische Konzepte umzusetzen. Die einen sagen, dass das Elterngeld kein Anreiz für mehr Kinder ist; die anderen sagen ja. Die einen sagen, die Betreuung ist nicht zu finanzieren; die anderen sagen, es ist gesellschaftlich ungerecht, wenn man vom Ehegattensplitting zur Familienbesteuerung umsteuert. Andere europäische Länder, wie skandinavische Länder oder auch Frankreich, machen es uns vor. Gestatten Sie

mir, dass ich aus der Maiausgabe einer sehr renommierten Zeitung zitiere:

„Das hat es zum letzten Mal am Ende des Dreißigjährigen Krieges gegeben: mehr Franzosen als Deutsche. Wenn die Geburtenfreudigkeit in Frankreich anhält, könnte das Land bis zum Jahr 2050 wieder mehr Bewohner zählen als sein bislang größter Nachbar. Der aktuelle französische Europarekord an Fruchtbarkeit mit 1,95 Kindern pro Französin kommt nicht von ungefähr. Jahrzehntelang wurden die Familienhilfe und die Kinderbetreuung ausgebaut, und zwar in einem Ausmaß, das weit über die üblichen Finanztransfers hinausgeht. Das Land hat vor allem in drei Bereichen die Voraussetzungen geschaffen, dass die Bevölkerung wieder wächst: bei der Betreuung der Kinder, beim pädagogischen Personal und bei der Berufstätigkeit der Frauen.

Das Besondere an der französischen Familienpolitik ist nicht der dreiprozentige Anteil der Finanztransfers am Bruttosozialprodukt. Entscheidend ist, dass Familie und Kinder nicht als Privatangelegenheit, sondern als öffentliche Aufgabe gelten. Deshalb wird das Geld nicht nur in die einzelnen Familien, sondern vor allem in die Struktur des öffentlichen Bildungswesens, in Schulen und in die Kinderbetreuung investiert. So macht es der Staat den Müttern leicht, ihrem Beruf weiter nachzugehen. Fast 80 % der Frauen mit zwei Kindern stehen im Erwerbsleben. Und vor allem fällt auf, dass der Kinderwunsch mit zunehmender Bildung und gehobener Berufsposition nicht wie üblich sinkt, sondern steigt.“

Sie sehen, es gibt funktionierende Modelle. Es gibt viele unterschiedliche Modelle, die alle unter die Überschrift „Solidarische Leistungsgesellschaft“ passen. In SachsenAnhalt werden wir unseren eigenen Beitrag im Rahmen der inhaltlichen und organisatorischen Betreuung in Kitas und Schulen zu leisten haben. Auf der Bundesebene werden wir meinungsbildend sein müssen, wenn es um das Thema „Ehegattensplitting kontra Familienbesteuerung“ geht. Die Förderung des Wiedereinstiegs nach der Babypause gehört genauso dazu wie ein gemeinsam mit der Wirtschaft zu erarbeitendes Konzept zur Nutzung des Potenzials gut ausgebildeter Frauen durch praktikable Arbeitszeitmodelle.

Auch das Thema der alternden Gesellschaft wird uns beschäftigen. Wir sollten es nicht als Last sehen, sondern wir sollten es als Chance sehen. Damit sind wir bei dem Thema Demografie. Dies ist ein Thema, das die Landesentwicklung ganz unmittelbar beeinflusst: Stadtumbau mit dem Programm „Soziale Stadt“, Verkehrsentwicklung, Bestellung öffentlicher Verkehre, Schulentwicklungsplanung, ärztliche Versorgung im ländlichen Raum, Aufbau kleinteiliger Produktions- und Vermarktungsstrukturen in ländlichen Räumen, verlässliche Standards der Grundversorgung in zentralen Orten - kurzum: Eigentlich alle Aspekte der Daseinsversorgung stehen bei diesem Thema auf der Agenda. Gut, dass Teile der Landesentwicklung in dieser Legislaturperiode wieder im Parlament beraten und entschieden werden. Denn Landesentwicklung ist eine Aufgabe, die nicht nur exekutiv umzusetzen ist; sie muss parlamentarisch diskutiert und mitentschieden werden.

Ein ganz spezielles Thema ist die Kommunal- und Funktionalreform. Funktionierende und handlungsfähige Kommunen sind der Kern eines intakten Gemeinwesens.

Somit ist das Gelingen der Kommunal- und Funktionalreform für uns eine der wichtigsten Herausforderungen der fünften Legislaturperiode. Daher ist im Koalitionsvertrag die Aufgabenübertragung sowohl vom Landesverwaltungsamt auf die Landkreise als auch von den Landkreisen auf die Gemeinden festgeschrieben. Dabei ist immer auf die Einhaltung des Konnexitätsprinzips zu achten. Das heißt, bei der Übertragung von Aufgaben müssen auch die Kosten gedeckt werden. Ich hoffe, dass uns das gelingt.

Der wichtigste Bestandteil dieser Reform ist jedoch die flächendeckende Einführung von Einheitsgemeinden bis zum 1. Juli 2011. Wir halten die Einheitsgemeinde für das effektivere Modell gegenüber der Verwaltungsgemeinschaft, da sie die Leistungsfähigkeit der Gemeindeebene zum Wohle ihrer Einwohner verbessert, mit der Zusammenfassung von Haushaltsplänen und Satzungen finanziell effektiver arbeitet und durch die klare Zuordnung der Zuständigkeiten für die Bürgerinnen und Bürger transparenter wird. Damit bildet sie die Grundlage für die Novellierung der Finanzbeziehungen zwischen Land und Kommunen.

Diese unsere Auffassung ist nicht neu, und ich glaube auch nicht, dass sie heute in diesem Rahmen groß zu diskutieren ist, aber der Vertrag gilt für uns so, wie wir uns dazu geäußert haben.

Es ist uns natürlich bewusst, dass dies in einzelnen Gemeinden im Land für Aufregung sorgt. Es geht uns auch keineswegs darum, regionale Identitäten abzuschaffen. Deshalb haben wir auch gemeinsam vor die Einführung der gesetzlichen Regelung eine freiwillige Phase gesetzt. Wir werden gemeinsam in den nächsten Monaten noch einige Überzeugungsarbeit im Land zu leisten haben. Das Leitbild sollte bis zum Ende des Jahres 2006 feststehen.

Zudem wird mit der Koalitionsvereinbarung nach jahrelangem Ringen Bewegung in die Lösung der Stadt-Umland-Problematik kommen. Der Koalitionsvertrag sieht dazu vor, die Bildung der Zweckverbände zu unterstützen und positiv zu begeleiten. Darüber hinaus sollen die Umlandgemeinden der Städte Magdeburg und Halle an den finanziellen Lasten der Städte beteiligt werden. Wir werden entsprechende Regelungen in das FAG aufnehmen müssen.

(Zuruf von Herrn Daldrup, CDU)

Die notwendigen gesetzlichen Eingemeindungen sollen bis zum 1. Juli 2007 entschieden sein; so steht es im Koalitionsvertrag.

Im Grundsatz ist eine Konsolidierung sowohl der Landes- als auch der Kommunalfinanzen geboten. Daher ist es notwendig, eine Konsolidierungspartnerschaft zwischen Land und Kommunen zu bilden. Bei der Regelung der Kommunalfinanzen besteht ein enger Zusammenhang zu der Funktional- und Gebietsreform. Denn größere kommunale Strukturen ermöglichen Einsparungen beim Verwaltungsaufwand; eine Aufgabenwahrnehmung muss dagegen belohnt werden.

Auch das Land muss in seinen Strukturen noch effektiver werden. Das gilt nicht nur für die originäre Landesverwaltung mit den Ministerien und Ämtern, sondern auch für die landeseigenen Gesellschaften, für die Gesellschaften mit Landesbeteiligung und für die Investitionsbank. Insbesondere Letztere soll weiterentwickelt werden, sodass eine Förderung aus einer Hand möglich wird; die Gesellschaften sollen evaluiert werden.

Meine Damen und Herren! Das größte Problem in unserem Land ist die hohe Arbeitslosigkeit. Auch wenn es in Einzelbereichen positive Tendenzen gibt, die ich gar nicht kaputtreden will, ist das grundlegende und grundsätzliche Problem nicht gelöst. Sie, Herr Ministerpräsident, haben heute wieder gesagt, dass das Wirtschaftswachstum allein das Problem der hohen Arbeitslosigkeit nicht lösen wird. Sie haben ergänzt, dass aus demografischen Gründen die Zahlen in zehn Jahren andere sein werden, aber das Grundproblem bleibe bestehen.

Ich gebe Ihnen zu 100 % darin Recht, dass wir den Arbeitsmarkt auch zukünftig dreiteilig organisieren müssen. Es wird einen geschützten, über Sozialtransfers finanzierten und einen freien, tariffinanzierten Arbeitsmarkt geben müssen. So haben Sie es auch deutlich gesagt. Außerdem wird es eine Zwischenform geben müssen. Diese Zwischenform ist das, worüber wir reden, wenn es um die Frage Mindestlohn oder Kombilohn geht.

Meine Damen und Herren! Mit der Arbeitslosigkeit wächst auch die Abstiegsangst. Mit der Abstiegsangst wächst oft die Fremdenfeindlichkeit. Wir dürfen uns nicht scheuen, über das ganze Ausmaß der sozialen Probleme, die wir insbesondere in Ostdeutschland haben, zu reden und sie zur Kenntnis zu nehmen. Dabei geht es nicht um Schlechtreden, dabei geht es nicht um Diffamieren und nicht darum, positive Ansätze von wirtschaftlicher Entwicklung zu ignorieren. Es geht darum, dass dort, wo durch soziale Ausgrenzung, durch Utopieverlust und enttäuschte Wendehoffnungen, vielleicht auch durch ungestilltes Autoritätsbedürfnis Zonen der Verunsicherung entstanden sind, in denen eine Jugend heranwächst, die zum Teil ein gefundenes Publikum für Demagogen ist. Dort, so schreibt die „Zeit“, steigt der Einfluss der rechten Kameradschaften mit der gleichen Kontinuität, mit der die Zukunftschancen sinken.

Nicht ohne Grund konzentriert sich die NPD in ihrer Basisarbeit seit Mitte der 90er-Jahre auf den Osten, wo westdeutsche Ideologen eine massive Zustimmung erfahren, die ihnen zu Hause verwehrt bleibt. Aber ich sage deutlich: bis jetzt. Denn die Aussichten auf gesicherten Wohlstand sinken auch im Westen. Dort breitet sich ebenfalls die Gewissheit aus, dass die berühmte Mitte der Gesellschaft nicht genug Platz für alle bietet. Sie ist nämlich inzwischen ein sozialer Ort mit gewissen Zugangsbeschränkungen.

Im Westen jedenfalls steigt proportional zur Abstiegsangst auch die Fremdenfeindlichkeit, und die Neigung, Schwächere abzuwerten, hat sich verstärkt, desgleichen die resignative Haltung gegenüber politischen Prozessen. Vor allem aber finden immer mehr Deutsche, sowohl im Westen als auch im Osten, dass diejenigen, die schon immer in Deutschland leben, mehr Rechte haben sollen als später Zugezogene.

Wir tun uns schwer, darüber zu reden, ob es in Ostdeutschland ein spezifisches Problem in Sachen Rechtsextremismus gibt. Historisch wurden wir doppelt bestraft und sollen jetzt auch noch moralisch ausgegrenzt werden? - Das ist die Frage, die oft gestellt wird.