Protocol of the Session on July 19, 2002

(Herr Dr. Püchel, SPD: Wunderbar! Jeder Mensch ist lernfähig!)

- Ich bin auch lernfähig. Da haben Sie Recht.

(Zurufe von der PDS)

Vielen Dank, Herr Minister Becker. - Nun spricht für die CDU-Fraktion Herr Stahlknecht. Bitte, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDSFraktion streift in der Begründung ihres Antrags die Möglichkeit, dass die Diversionsrichtlinien aufgehoben werden könnten. Um Missverständnissen von vornhinein entgegenzutreten, sage ich gleich, was wir nicht wollen. Frau Kollegin von Angern, wir wollen nicht die Abschaffung der Möglichkeit der Diversion.

(Frau von Angern, PDS: Wir auch nicht!)

Und das wissen Sie auch, sehr geehrte Damen und Herren der PDS-Fraktion, sofern Sie, was wünschenswert gewesen wäre, den Koalitionsvertrag gelesen hätten; denn

(Zuruf von Frau Bull, PDS)

- lassen Sie mich einmal ausreden - dort steht - ich darf das zitieren -:

„Die Koalitionspartner werden daher die Diversionsrichtlinien zur pädagogisch sinnvollen Reaktion auf Straftaten Jugendlicher neu fassen, dabei den Täter-Opfer-Ausgleich stärken.“

Hätten Sie das gelesen,

(Frau von Angern, PDS: Habe ich!)

dann hätten Sie auch das Interview des Ministers im Zweifelsfall besser verstanden.

(Zustimmung bei der CDU)

Wenn man sich allerdings vergegenwärtigt - das sollte man tun; diesbezüglich gibt es auch zurzeit einen interessanten Aufsatz von Herrn Professor Dr. Albrecht -, dass die Kinder- und Jugendkriminalität in den 90erJahren einen starken Anstieg erkennen lässt, insbesondere im Bereich der Raub- und Körperverletzungsdelikte, dann muss in einer sachlichen Diskussion darüber nachgedacht werden, ob die Diversionsrichtlinien in der vorliegenden Fassung reformbedürftig sind. Lassen Sie mich das sagen: reformbedürftig nicht aufgrund der Veränderungen in der Jugendkriminalität, sondern aufgrund der Anpassungsbedürftigkeit der Richtlinie an gesellschaftliche Veränderungen.

Wir befinden uns übrigens - das macht die Diskussion so vornehm - hinsichtlich der Frage einer Reform der Diversionsrichtlinien im Jugendstrafrecht in guter Gesellschaft; denn nach fast 100 Jahren - das letzte Mal war es im Jahr 1904 - wird sich der diesjährige Deutsche Juristentag ein zweites Mal mit jugendstrafrechtlichen Fragestellungen beschäftigen.

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete der PDS! Die Veranstaltung steht unter dem Titel: „Ist das Jugendstrafrecht noch zeitgemäß?“ Sie sehen, dass selbst auf sachlicher Ebene unter Kolleginnen und Kollegen genau darüber nachgedacht wird. Und das werden wir in diesem Hause tun.

(Zustimmung bei der CDU und von Frau Röder, FDP)

Da die jugendkriminalpolitischen Strömungen nahezu 30 Jahre lang - das ist ein Spätausfluss der 68er-Ge

neration; das erlaube ich mir einmal zu sagen - auf die Diversion und folgenlose Einstellung ausgerichtet waren und sind, endet heute - das sage ich Ihnen aus meiner ehemaligen beruflichen Praxis - der überwiegende Teil der jugendstrafrechtlichen Verfahren eben nicht in einer Hauptverhandlung vor dem Jugendgericht, sondern durch die Einstellung gemäß § 45 des Jugendgerichtsgesetzes.

(Frau von Angern, PDS: Ja!)

Es muss doch wohl gestattet sein, diese Praxis zu überprüfen und sie - wie der Herr Minister sagt - gegebenenfalls zu verändern, wenn es die gesellschaftlichen Erfordernisse und die jugendkriminalistische Entwicklung verlangen. Denkbar wäre beispielsweise - ich gebe nur einmal ein paar Anstöße -, die Anwendung des § 45 des Jugendgerichtsgesetzes an der Struktur der §§ 153 und 153 a der Strafprozessordnung auszurichten, sodass wie im Erwachsenenstrafrecht eine Verfahrenseinstellung nur bei geringer Schuld in Betracht kommt.

Ferner wäre es ein denkbares Ziel - das lassen Sie mich aus der Praxis sagen -, wenn eine Einstellung nur einmal, nämlich beim ersten Mal, und sich nicht ständig wiederholend erfolgte.

(Zustimmung von Herrn Brumme, CDU)

Ich kann Ihnen das aus Gerichtsverhandlungen sagen: Im Jugenderziehungsregister konnte man die Einstellungen nach § 45 JGG von oben nach unten abtrommeln. Dann stellt sich die Frage, ob der Jugendliche überhaupt noch daran glaubt, dass einmal eine Strafe folgt.

In der Diskussion ist auch, ob der Erziehungsgedanke - darüber kann man streiten - des Jugendstrafrechts aufzugeben ist und eine stärkere Betonung generalpräventiver Gesichtspunkte, also abschreckender Gesichtspunkte, erfolgen sollte. Ich könnte hier noch mehrere Gedanken äußern und Diskussionsanstöße geben, werde aber darauf verzichten, da wir über inhaltliche Änderungen zu einem späteren Zeitpunkt - ich denke, in vornehmer Sachlichkeit - streiten wollen.

Wir sind bereit, eine ergebnisoffene Diskussion über dieses Thema zu führen. Ich kann in diesem Zusammenhang aber nur davor warnen, ohne die Erfahrungen und Lehren aus der Praxis an überholten Positionen festzuhalten.

Ich komme jetzt zum Schluss. Da wir uns, wie dargelegt, zu einer möglichen Überarbeitung der Diversionsrichtlinien ein umfassendes Bild verschaffen wollen, treten wir unter Ablehnung der Änderungsanträge dem Antrag der PDS in der Fassung unseres Änderungsantrages bei, die Landesregierung zu beauftragen, im Ausschuss für Recht und Verfassung über den derzeitigen Stand der Umsetzung dieser Richtlinie zu berichten. - Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herr Stahlknecht, möchten Sie eine Frage des Abgeordneten Herrn Rothe beantworten?

Selbstverständlich.

Bitte, Herr Rothe.

Herr Kollege Stahlknecht, gemessen am Duktus Ihrer Rede bin ich geneigt, den Herrn Justizminister für einen Liberalen zu halten.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und bei der PDS)

Meine Frage ist: Sie haben zuletzt ausgeführt, Herr Stahlknecht, dass Sie sich ein umfassendes Bild verschaffen wollen mit Blick auf die in Aussicht genommene Veränderung der Diversionsrichtlinien. Wäre es nicht zweckdienlich, hierzu im Ausschuss eine Anhörung durchzuführen? Dabei hielte ich es für sinnvoll, jede Person, die Sie für geeignet halten, auf die Liste der Anzuhörenden mit aufzunehmen.

Herr Rothe, lassen Sie mich eines vorab sagen: Wenn Sie meinem Vortrag unabhängig von Duktus und Diktion zugehört haben, werden Sie festgestellt haben, dass ich gesagt habe, dass wir eine ergebnisoffene Diskussion wollen. Es ist natürlich etwas einfach, jemandem die Liberalität abzusprechen und ihn in eine bestimmte Ecke zu drängen. Ich warne davor.

(Oh! bei der SPD und bei der PDS)

Wir wollen da sachlich bleiben. Ich lasse mich von Ihnen auch nicht in irgendeine Ecke drängen. Liberalität und Einstellung von Verfahren unterstütze ich. Ich habe nur gesagt, das müsse überdacht werden. Das will ich einmal ganz klar stellen.

Zu der Frage der Anhörung. Wir werden selbstverständlich im Zuge der Änderung Anhörungen durchführen. Nur, die Verbände, die Sie genannt haben, - jetzt werfen Sie mir bitte nicht wieder mangelnde Liberalität vor - leben letztlich von der Diversion. Das wäre das Gleiche, als wenn ich bei einer Benzinpreiserhöhung den ADAC zur Anhörung einlade. Dann kenne ich das Ergebnis.

(Zustimmung bei der CDU)

Insofern sind wir der Meinung: Wir werden anhören, wir werden auch den Generalstaatsanwalt dazu hören.

Eines habe ich bei Ihren Vorschlägen zur Anhörung allerdings vermisst, nämlich die Anhörung möglicher Opferverbände. Das wäre auch einmal eine interessante Fragestellung, die dabei eine Rolle spielt.

(Zustimmung bei der CDU)

Wir machen eine Anhörung in liberaler, ergebnisoffener Diskussion. Ich freue mich auf eine gemeinsame Zusammenarbeit.

Vielen Dank, Herr Stahlknecht. - Nun nimmt für die SPDFraktion Frau Grimm-Benne das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte meinen Vorrednern ausdrücklich widersprechen. Das wird Sie sicherlich nicht erstaunen, Herr Minister Becker, obwohl wir uns persönlich bisher weder visuell noch verbal verständigt haben.

Es gibt keine wissenschaftliche Untersuchung, die Ihre These belegt, dass eine Verschärfung der Sanktionen zu einer Reduzierung jugendlicher Delinquenz führt. Dies teilte bereits 1997 - Sie wollten ja Belege haben - die CDU-geführte Bundesregierung auf eine Große Anfrage zum Thema Jugendstrafrecht und Präventionsstrategien mit. Auch der im vergangenen Jahr veröffentlichte periodische Sicherheitsbericht der Bundesregierung sagt dies aus.

Wenn Sie aber schon nicht auf mich hören wollen, so hören Sie doch auf Ihren eigenen Staatsminister Robra. Er war Ende der 80er-Jahre immerhin Vorsitzender einer Ad-hoc-Kommission auf Bundesebene, die Empfehlungen für die Diversionsrichtlinien erarbeitet hat.

(Zustimmung bei der SPD)

Vielleicht wollen Sie, Herr Minister Becker, aber auch nur Handlungsfähigkeit vortäuschen. In wenigen Wochen stehen ja Wahlen bevor. Da ist der Ruf nach der Verschärfung von Sanktionen ein sehr beliebtes Thema. Bereits im November 1997, in der zweiten Legislaturperiode, stellte die CDU einen Antrag auf Aufhebung der gerade zuvor neu erlassenen Diversionsrichtlinie - damals kurz vor einer Wahl, dieses Mal kurz nach einer Landtagswahl und kurz vor einer Bundestagswahl. Das zeugt davon, dass es sich hier wohl nicht um gut überlegte Konzepte zur Vermeidung von Jugendkriminalität handelt, sondern um Aktionismus.

Sie, Herr Minister, sprechen sich dafür aus, dass den jugendlichen Tätern Schranken gesetzt werden müssen. Dafür bin ich auch. Im Gegensatz zu Ihnen halte ich jedoch bei Jugendlichen die Möglichkeit für sinnvoll, unter bestimmten Voraussetzungen Strafverfahren ohne förmliche Sanktionen zu beenden. Dies ist Diversion. Die Richtlinien geben dazu Hinweise und Anregungen. Solche Richtlinien existieren in fast allen Bundesländern. Selbst Bayern führt ein Pilotprojekt durch, in dem sich jugendliche Straftäter vor Gleichaltrigen verantworten müssen.