Protocol of the Session on November 20, 2003

und drittens die Erstausstattung mit Bekleidung bei Schwangerschaft sowie nach der Geburt. Das ist abschließend geregelt, sodass andere Ausnahmen nicht mehr möglich sind.

In allen anderen Fällen, etwa wenn bei einer Sozialhilfeempfängerin oder einem Sozialhilfeempfänger der Kühlschrank kaputt geht, wird auf eine Rücklagenbildung verwiesen. Bei einem Einkommen von etwas mehr als 300 € von Rücklagenbildung zu sprechen, ist blanker Zynismus.

(Beifall bei der PDS)

Tritt ein solcher Bedarfsfall ein, weil etwa der Kühlschrank kaputt geht oder ähnliches und keine Zeit war, Rücklagen zu bilden, weil sich die Katastrophen in der Familie von Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern häufen, gibt das Sozialamt ein Darlehen. Das heißt, man bekommt vom Sozialamt einen zinslosen Kredit, den man aber zurückzahlen muss. Damit geht der Gesetzgeber bewusst das Risiko ein, dass diese Familie über Monate hinweg mit einer untergedeckten Sozialhilfe auskommen muss.

Von Selbstbestimmung der Leistungsempfänger ist die Rede in dem Gesetzentwurf. Meine Damen und Herren! Bei 300 € ist der so genannte Dispositionsspielraum eine Farce. Das geschieht in einem Land - dies muss ich sagen, auch wenn es starker Tobak ist -, in dem auf einen Einkommensmillionär sechs Arbeitslose kommen, in dem sich die Zahl der Einkommensmillionäre seit 1994 verdoppelt hat und in dem in den letzten Jahren die Körperschaftssteuer quasi in eine Subvention umgewandelt wurde.

Schaut man sich die vorgezogene Steuerreform an, so stellt man fest, dass Spitzenverdiener häufig in den Genuss von Steuerersparnissen in Höhe von ca. 100 000 € kommen. Ein Durchschnittsverdiener bringt es auf ca. 1 000 € im Jahr. Dieser Betrag wird jedoch, wenn es so weiter geht, von den Sozialreformen beinahe wieder aufgefressen.

Die finanzpolitische Bilanz von Hartz I und II - das ist schon beschlossen und Geschichte - lag bei 5,8 Milliarden €, die des neuen SGB II ist mit 2,5 Milliarden € veranschlagt. Das sind schon einmal 8,3 Milliarden €. Die „Restsozialhilfe“ des SGB XII soll Einsparungen in Höhe von 68 Millionen € bringen. Das ist vergleichsweise wenig, könnte man an der Stelle sagen. Das heißt, es handelt sich insgesamt um 9 Milliarden €.

Meine Damen und Herren! Erzähle man uns nicht, dass es sich dabei um Einsparungen im Bereich der Verwaltung aufgrund der Einführung der pauschalierten Sozialhilfe handele. Hierbei handelt es sich vielmehr um Strafen, und zwar um Strafen für Leute, die keine Arbeit finden können oder die nicht arbeiten können.

Dies ist ein Anachronismus. Eine Erwerbsgesellschaft in der derzeitigen Verfasstheit, die seit fast zwanzig Jahren deutliche Signale dafür abgibt, dass die Arbeit in der derzeitigen Form ausgehen wird, dem Ende entgegengeht, muss sich genau genommen eine Platte darüber machen: Wie verschaffe ich den Leuten, die nicht Zugriff auf Erwerbsarbeit haben, künftig eine soziale Sicherung? Wie erschließe ich neue Arbeitsfelder? Wir haben in diesem Hause schon des Öfteren über das Konzept „Öffentlich geförderter Beschäftigungssektor“ diskutiert - scharenweise Arbeit.

Soziologen schreiben Bücher und Aufsätze darüber. Die Politik ignoriert diesen Zustand fortgesetzt. Soziale und

kulturelle Teilhabe wird immer weiter und vor allen Dingen immer restriktiver an Erwerbsarbeit geknüpft, die es auf der anderen Seite - so der Anachronismus - in immer geringem Umfang gibt und geben wird.

Das wird, meine Damen und Herren, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer enormen Polarisierung der Gesellschaft führen; es wird eine Radikalisierung der Gesellschaft geben.

Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger werden ins Überlebenstraining geschickt. Nun ist die „Bild der Frau“ nicht unbedingt eine Zeitschrift der ersten Wahl in meiner persönlichen Lektüre, sie gibt aber durchaus Hinweise, wie man mit einem solch kleinen Betrag von 100 € über die Woche kommt.

Diese Herausforderung beantworten Menschen bekanntermaßen auf zweierlei Art und Weise, nämlich auf der einen Seite mit erduldeter Armut und Randständigkeit und auf der anderen Seite mit Aggressivität und Kriminalität. Beides, meine Damen und Herren, kann wohl kaum ein Gewinn für eine Gesellschaft sein.

(Zustimmung bei der PDS)

Ich weiß, das alles ist sehr starker Tobak, aber ich persönlich sage: Die Lektüre der Gesetze Hartz II, III und IV, des Hessischen Existenzgrundlagengesetzes, des SGB XII - zumindest im Regierungsentwurf - treibt einem die Sachlichkeit restlos aus.

Der Jesuitenpater Professor Friedhelm Hengsbach, Wirtschaftsethiker - ich habe in der vorigen Woche zu meinem großen Erstaunen zur Kenntnis genommen, dass er zumindest einmal Mitglied der CDU war; ich weiß nicht, ob er es noch ist - wird am kommenden Montag im „Stern“ sagen - ich zitiere mit ihrer Genehmigung, Herr Präsident -,

Einer Genehmigung bedarf es nicht.

gut - es sei eine bittere Ironie der Geschichte, dass ein SPD-Kanzler das Lambsdorff-Tietmeyer-Papier von 1982 nicht nur umsetze, sondern auch noch verschärfe. Seine Agenda 2010 sei eine Kriegserklärung an die Opfer der Krise. So habe noch kein Kanzler die Sozialschwachen abgebürstet, so schroff habe noch keiner die Leute gepeitscht.

(Beifall bei der PDS)

Vielen Dank, Frau Bull. - Bevor die Fraktionen zu Wort kommen, spricht zunächst die Landesregierung. Es spricht Herr Minister Kley.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass die PDS, die mit nur zwei Abgeordneten im Bundestag nicht so richtig Gehör fand, auch in der Fläche ihre Auseinandersetzung mit der SPD pflegen möchte. Ich bedauere es ein wenig, dass wir alle daran teilnehmen müssen. Aber nichtsdestotrotz stellen wir uns auch der Aufgabe, diese Diskussion hier zu begleiten.

(Zuruf von Herrn Gallert, PDS)

Vorausschickend möchte ich kurz bemerken, dass ich glaube, dass die Verfassung nicht beinhaltet, dass der Landtag die Landesregierung beauftragen kann, eine bestimmte Haltung im Bundesrat einzunehmen. Dies ist hier eindeutig unterschieden. Aber nichtsdestotrotz sehen wir den Antrag als Aufforderung zur Diskussion und nicht so sehr als verfassungswidrigen Antrag.

Die Landesregierung hat allerdings entsprechend ihrer Verantwortung und Zuständigkeit im Bundesrat die vom Bundestag beschlossenen Gesetze, nämlich das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt und das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch, abgelehnt und für die Anrufung des Vermittlungsausschusses votiert. Wie Sie wissen, wird dies derzeit in diesem Ausschuss behandelt.

In dem Zusammenhang möchte ich die Gelegenheit nutzen, die Position der Landesregierung zum Sozialhilferecht darzulegen. Grundlage des Altenfürsorgerechts, des jetzigen Bundessozialhilfegesetzes und der zukünftigen Existenzgrundsicherung ist und wird das Bedarfsdeckungsprinzip sein. Bedarf kann dabei nur etwas sein, das der Hilfe Suchende zu seiner menschenwürdigen Existenz benötigt.

Dieser Bedarf wurde den Hilfebedürftigen auch in den letzten Jahres gewährt. Eine permanente Unterdeckung, wie von Ihnen unterstellt, ist in den vergangenen Jahren nicht erfolgt. Wenn Sie, liebe Frau Bull, anderer Auffassung sind, darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie, die gemeinsam mit der SPD in den vergangenen Jahren die Politik dieses Landes mitbestimmt haben, dann für eine solche permanente Unterdeckung maßgeblich verantwortlich wären.

(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU)

Die Pauschalierung von Leistungen der Sozialhilfe wurde in den vergangenen beiden Jahren in drei Kommunen dieses Landes, im Landkreis Anhalt-Zerbst, in Halberstadt sowie der Stadt Magdeburg, erprobt. Zwei Kommunen haben dies in Rahmen einer Untersuchung des Bundes getan. Das Ergebnis ist durchweg positiv.

Die Pauschalierung von Sozialhilfeleistungen hat sich nach Aussage der Vertreter der Kommunen bewährt. Verwaltungsaufwand wurde reduziert. Die Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter des Sozialamts konnten sich wieder in stärkerem Maße der individuellen Hilfe und der Beratung des einzelnen Sozialhilfeempfängers zuwenden. Die Zahl der Widerspruchsverfahren ist stark zurückgegangen, worin auch eine Akzeptanz durch die Hilfeempfänger deutlich wird. Eine Pauschalierung von Leistungen ist somit offensichtlich im Interesse aller Beteiligten.

Die Vermutung der Bedarfsdeckung hinsichtlich einer Unterhaltspflicht von in Wohngemeinschaft lebenden, nicht verwandten und verschwägerten Personen ist erforderlich. Viele Paare mit Kindern und ohne Kinder leben heute ohne Trauschein in eheähnlichen Gemeinschaften zusammen. Diese dürfen nicht besser gestellt werden als Verheiratete. Es bedarf der gesetzlichen Gleichstellung dieser Paare.

(Zustimmung bei der CDU)

Diese muss aber auch mit einer Änderung der Beweislast verbunden sein. Vielfach ist es den Sozialämtern nämlich nicht möglich nachzuweisen, dass eine eheähnliche Gemeinschaft besteht. Im Interesse der Allgemeinheit, nämlich derer, die die Sozialhilfe finanzieren, ist

daher eine Umkehrung der Beweislast erforderlich; denn vorrangig hat der eine Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft den anderen Partner mit seinem Einkommen und Vermögen zu unterstützen.

Ziel der Sozialhilfe muss ein selbstbestimmtes Leben sein. Die Aufgabe muss sein, für diese Menschen Arbeitsplätze zu schaffen, die ihnen ein eigenes Einkommen und ein Leben ohne Sozialhilfe ermöglichen. Die Erreichung dieser Ziele muss gefördert werden, aber gleichzeitig muss der Hilfeempfänger auch gefordert werden. Eine dieser Forderungen ist, dass er selbst alles ihm Zumutbare tut. Zumutbar ist dabei auch die Aufnahme einer Beschäftigung, die nicht nach Tarif bezahlt wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen gehört nach unserer Auffassung nicht in das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch. Die Landesregierung fordert ein eigenständiges Leistungsgesetz für behinderte Menschen.

An der Finanzierung muss sich auch der Bund beteiligen. Die Länder und Kommunen sind nämlich nicht mehr in der Lage, die in der Eingliederungshilfe kontinuierlich steigenden Lasten allein zu schultern. Wir wollen, dass die behinderten Menschen die ihnen angemessene Hilfe weiterhin erhalten, sehen aber auch, dass es notwendig ist, die finanzielle Basis hierfür zu schaffen.

Hierzu gehört aber auch die Umsetzung des Grundsatzes: ambulant vor stationär. Die ambulante Eingliederungshilfe umfasst schon jetzt familienentlastende und familienunterstützende Dienste der Eingliederungshilfe. Leider - so muss ich sagen - ist es in den vergangenen Jahren nicht gelungen, diese Potenziale hinreichend zu aktivieren.

Ein wesentlicher Grund hierfür ist die getrennte Kostenzuständigkeit für die ambulante und die stationäre Eingliederungshilfe. Die Landesregierung ist gerade dabei, diesen Systemfehler zu korrigieren. Die Kostenzuständigkeit soll zusammengeführt werden. Wir werden dies auch konsequent umsetzen. Anderen vorher ist dieses in acht Jahren direkter und indirekter Regierungsverantwortung leider nicht gelungen.

Bei den Entgeltverhandlungen zwischen den Leistungserbringern und den Kostenträgern ist auch die Finanzkraft des Landes zu berücksichtigen. Dies ist seit der Neuregelung der Vorschriften im Bundessozialhilfegesetz im Jahr 1996 selbstverständlich und wird von beiden Vertragspartnern akzeptiert.

Die Grenzen der beiderseitigen Belastbarkeit sind aber bald erreicht. Daher muss sich endlich auch der Bund seiner finanziellen Verantwortung für die Menschen mit Behinderungen stellen. Die Lasten müssen gerecht verteilt werden, aber nicht zulasten der behinderten Menschen.

Die Forderungen der PDS-Fraktion gehen nach unserer Auffassung zum großen Teil in die falsche Richtung. Deshalb bitte ich Sie, diesen Antrag abzulehnen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Minister Kley. - Für die CDU-Fraktion spricht Frau Liebrecht. Bitte schön, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Mit dem vorliegenden Antrag beabsichtigt die PDS-Fraktion, die Landesregierung hinsichtlich der Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch als Sozialgesetzbuch XII auf einige Grundpositionen festzulegen, die derzeit noch nicht entscheidungsreif sind. Herr Minister Kley hat darauf hingewiesen, dass der Bundesrat mit den Stimmen Sachsen-Anhalts das vom Deutschen Bundestag beschlossene Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt und das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch XII abgelehnt und für die Anrufung des Vermittlungsausschusses gestimmt hat.

Wie Sie alle wissen, hat der Vermittlungsausschuss zu den einzelnen Teilen Unterarbeitsgruppen gebildet, die derzeit die Kompromisslinien ausloten, insbesondere was die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe anbelangt.

Das vom Deutschen Bundestag verabschiedete Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch fußt natürlich auf den Rahmenbedingungen, die durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt gesetzt sind. Da jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen ist, dass das vom Deutschen Bundestag beschlossene Gesetz zur Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in unveränderter Fassung vom Vermittlungsausschuss als Kompromisslösung empfohlen werden wird, lässt sich jetzt noch nicht abschließend sagen, wie die Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch ausgestaltet sein sollte. Dieses Gesetz ist auf einen möglichen Kompromiss jedenfalls nicht vorbereitet.

Das würde bedeuten, dass es nach einer Lösung für die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe einer entsprechenden Überarbeitung des Sozialhilferechts bedarf. Ich sehe nicht, dass dies in gebührender Gründlichkeit in der Kürze des zur Verfügung stehenden Zeitrahmens gelingen wird. Ich gehe davon aus, dass es im Rahmen des Vermittlungsverfahrens nicht zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch kommen wird. Meines Erachtens sollte sich im Rahmen dieses Verfahrens die Änderung des Bundessozialhilfegesetzes auf die Anpassung an die gefundene Lösung zur Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe beschränken.

Da im Übrigen nicht auszuschließen sein wird, dass sich im Zuge der allgemeinen Hektik bei diesem Gesetzgebungsverfahren Unwuchten, was die Praktikabilität einzelner Rechtsvorschriften anbelangt, in das Gesetz einschleichen könnten, wäre es darüber hinaus sinnvoll, wenn das Bundessozialhilfegesetz in seinem bisherigen Umfang für einen Übergangszeitraum als unterstes soziales Netz weiterhin Geltung haben würde, um diese Disparitäten gegebenenfalls ausgleichen zu können. Würden nämlich beide vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Gesetze so in Kraft treten, wie es vorgesehen ist, wäre ein solcher Ausgleich nicht mehr möglich.

Die Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch sollte daher meines Erachtens zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem ein eigenständiges Leistungsgesetz für behinderte Menschen geschaffen wird, wie das nicht nur von der Landesregierung, sondern auch von anderen Ländern und der Fachöffentlichkeit seit längerer Zeit gefordert wird. Die Eingliederungshilfe

für Menschen mit Behinderungen, die derzeit im Bundessozialhilfegesetz verankert ist, gehört nach unserem Verständnis nicht mehr dorthin.