Protocol of the Session on May 15, 2003

Doch zuvor habe ich die Freude, Schülerinnen und Schüler der Lessing-Sekundarschule Calbe zu begrüßen. Seien Sie herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Frau Vorsitzende! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor dem Hintergrund einer außerordentlich desolaten Versorgung von Menschen mit Behinderungen hat die Landesregierung nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit begonnen, insbesondere für diesen Personenkreis menschenwürdige Wohn- und Lebenssituationen herzustellen. Dabei spielte das Geschlecht der Betroffenen erst einmal keine Rolle. Auf dem weiten Weg insbesondere zur Herstellung von Selbständigkeit hat die Landesregierung vielfältige Maßnahmen ergriffen, um die Fähigkeiten und Fertigkeiten betroffener Menschen zu entwickeln, zu stärken und zu bewahren.

Aus dem Gesamtkomplex stelle ich einige wichtige Themen aus meinem Geschäftsbereich heraus.

Im Land Sachsen-Anhalt leben gegenwärtig ca. 170 000 Menschen mit Behinderungen, davon ca. 16 000 mit einem Grundanerkenntnis im Zuständigkeitsbereich des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe.

Aufgrund der erreichten Basisversorgung können nun spezielle Bereiche intensiver bearbeitet werden. Dazu gehört auch die Herstellung der Chancengleichheit für behinderte Mädchen und Frauen. Hierzu bedarf es weiterhin des Abbaus sowohl noch bestehender Benachteiligungen zwischen den Geschlechtern als auch zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen.

Das Land Sachsen-Anhalt hat sich dafür bereits frühzeitig und intensiv eingesetzt. Es nimmt im Vergleich mit

den anderen Bundesländern einen führenden Platz in der Behindertenpolitik ein, was ich an einigen Beispielen belegen will.

So verabschiedete Sachsen-Anhalt bereits im November 2001 als zweites Bundesland das Gesetz für Chancengleichheit und gegen Diskriminierung behinderter Menschen. Mit dem derzeit laufenden Sonderprogramm des Landes „Arbeitsplätze für ältere Schwerbehinderte ab dem 50. Lebensjahr und allein erziehende schwerbehinderte Frauen und Männer“ wurde auch der besonderen Problematik von schwerbehinderten Frauen Rechnung getragen. Im Vergleich zu den anderen neuen Bundesländern konnte so die Zahl der arbeitslosen schwerbehinderten Menschen in Sachsen-Anhalt gesenkt werden. Doch nicht nur hierbei war die Landesregierung erfolgreich.

Mit der weiteren Umsetzung und Realisierung des Rahmenvertrages nach § 93d Abs. 2 des Bundessozialhilfegesetzes soll künftig jeder behinderte Mitbürger die tatsächlich erforderliche Hilfe erhalten. Behinderte Menschen sollen zukünftig Möglichkeiten haben, selbständig zu leben. Frauen und Männer mit Behinderungen in das normale, alltägliche Leben optimal einzubinden, ist eine ständige Herausforderung an Politik und Gesellschaft, der wir uns stellen. Dazu brauchen wir unterstützend den so genannten rehabilitationspädagogischen Fachdienst, dessen Hauptaufgabe in der Klärung und Feststellung des Rehabilitationsbedarfs aller Leistungsberechtigten besteht. Dazu gehört insbesondere die landesweit einheitliche Ermittlung des abzudeckenden Hilfebedarfs sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht.

Bundesweit einmalig haben wir im vergangenen Jahr eine landesweite wissenschaftlich begleitete Fragebogenaktion durchgeführt. Mit deren Hilfe ist der Bedarf für die Menschen mit Behinderungen im Zuständigkeitsbereich des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe erfasst worden. Dazu wurden mehr als 11 000 Fragebögen ausgefüllt, was einer Rücklaufquote von fast 70 % entspricht. Die Fragebögen werden derzeit ausgewertet. Somit dürfte das Land künftig besser in der Lage sein, den tatsächlichen Hilfebedarf auch nach den Bedürfnissen von Männern und Frauen zu differenzieren und gezielte Angebote vorzuhalten.

Einhergehend mit der weiten Anwendung des neuen Systems werden sowohl die Leistungserbringer der Verbände als auch die beteiligte Verwaltung zu Dienstleistern der betroffenen Menschen mit Behinderungen. Auch hierbei zeigt sich im bundesweiten Vergleich die führende Rolle Sachsen-Anhalts bei der Umsetzung der Rahmenverträge nach § 93d des Bundessozialhilfegesetzes.

Um den heutigen Stand erreichen zu können, waren vielfältige Schritte notwendig. Wir bearbeiten die unterschiedlichen Problemfelder in der Behindertenhilfe intensiv weiter. Schnelle und einfache Lösungen werden allerdings dadurch erschwert, dass die dafür bereitstehenden Mittel von Bund und Land aufgrund der finanziellen Lage der Staatshaushalte begrenzt sind. Ich bin dennoch der Auffassung, dass wir in Sachsen-Anhalt im Hinblick auf die Vielfältigkeit der Angebote für Menschen mit Behinderungen und die differenzierte Hilfe für Mädchen und Frauen mit Behinderungen auf einem guten Weg sind. - Danke schön.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Danke, Herr Minister. - Wir treten nunmehr in die Debatte der Fraktionen ein. Als erstem Redner erteile ich Herrn Scholze für die FDP-Fraktion das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Der Minister hat bereits einiges sehr Wichtiges und Informatives noch einmal im Gesamtzusammenhang dargestellt. Aber man muss nach wie vor feststellen, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft in doppelter Weise Probleme mit der Gleichberechtigung in einer Welt haben, die im Wesentlichen durch Nichtbehinderte geprägt wird.

Ein Blick in die nähere Vergangenheit zeigt, dass sich die Entwicklung der Integration von Menschen mit Behinderungen unabhängig von ihrem Geschlecht in verschiedenen Schritten vollzogen hat. Ging es nach der Wende vor allem darum, die allgemeinen Lebensverhältnisse wie das Wohnumfeld oder die medizinische und rehabilitative Versorgung zu verbessern, emanzipieren sich inzwischen Menschen mit Behinderungen, um eben nicht nur einfach zu leben, sondern mit dem Ziel der aktiven und eigenverantwortlichen Teilhabe. Auf diesem Gebiet wurden in den letzten Jahren Erfolge erreicht, auf die man durchaus auch stolz sein kann.

Als ich begann, mich mit dieser Thematik auseinander zu setzen, bin ich auf Bereiche des Lebens von Mädchen und Frauen mit Behinderungen gestoßen, deren offene Diskussion in unserer Gesellschaft tabu ist, Lebensbereiche, in denen Mitmenschen in ihrer individuellen Freiheit nicht nur beeinträchtigt, sondern sogar in ihrer Menschenwürde verletzt werden. Ich will daher mit meinem Beitrag eher zur Nachdenklichkeit anregen.

Ein Bereich ist die Gewalt, insbesondere die sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Behinderungen. Diese Form der Gewalt darf uns nicht egal sein. Tief beeindruckt haben mich in diesem Zusammenhang Gespräche mit Lehrern an Sonderschulen bzw. Schulen für Lernbehinderte. Dort gab es junge Mädchen, die im Alter von elf oder zwölf Jahren plötzlich schwanger wurden, wobei der Verdacht bestand, der eigene Vater oder ein Angehöriger könnte der Vater des werdenden Kindes sein. Können solche Mädchen noch eine normale Entwicklung erleben? - Manchmal scheint mir unsere Gesellschaft in solcher Hinsicht eher hilflos zu sein.

Ein anderer Bereich wird durch die Fragen umschrieben: Was verstehen wir unter Gesundheit, Krankheit oder Behinderung? Kann künftig eine Frau mit Behinderung ein Kind bekommen dürfen, oder ist eine Frau, die ein krankes oder behindertes Kind zur Welt bringt, verantwortungslos gegenüber der Kosten tragenden Solidargemeinschaft?

Wenn wir uns ehrlich mit diesen Fragen befassen, wird deutlich: Es kann, darf und wird niemals perfekte Menschen geben. Vielmehr müssen wir, die wir auch die öffentliche Meinung maßgeblich mitgestalten, darauf achten, dass die Freiheit einzelner Individuen nicht gegeneinander ausgespielt wird und Werte, die unser Zusammenleben erst ermöglichen, nicht auf der Strecke bleiben. Insofern muss die Freiheit, die wir uns jetzt für Menschen mit Behinderungen wünschen und auch gestalten wollen, vor genau diesem Hintergrund stets verteidigt werden. - Danke sehr.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Danke, Herr Abgeordneter Scholze. - Für die SPD-Fraktion erteile ich der Abgeordneten Frau Ute Fischer das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete! Beim Studium der Antwort der Landesregierung weckte folgende Aussage schon in der Vorbemerkung sofort mein Interesse - ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin -:

„Aufgrund der Doppeldiskriminierung behinderter Mädchen und Frauen als Frauen in einer männlich dominierten Welt und als Behinderte in einer Welt der Nichtbehinderten haben behinderte Mädchen und Frauen insbesondere im Sinne der Gleichbehandlung mit strukturell bedingten Problemen zu kämpfen.“

Also existiert offensichtlich doch eine Diskriminierung von Frauen; aber das soll heute erst einmal nicht unser Thema sein.

Inzwischen gibt es viele Gesetzesänderungen, aber Gesetzesänderungen beziehen sich immer gleichermaßen auf beide Geschlechter und dienen weniger dem Abbau dieser Doppeldiskriminierung. Die Antworten auf die Große Anfrage zeigen: Es bleibt sowohl bei Behinderten als auch und insbesondere bei behinderten Frauen und Mädchen noch sehr viel zu tun.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich noch gut an die langwierigen, schwierigen Debatten im Ausschuss für Soziales und Gesundheit und insbesondere in den mitberatenden Ausschüssen bei der Erarbeitung unseres im November 2001 verabschiedeten Gesetzes zur Chancengleichheit und gegen Diskriminierung behinderter Menschen. Mit diesem Gesetz wurde SachsenAnhalt ein gutes Beispiel für andere Bundesländer. Aber vom gemeinsamen Willen aller Abgeordneten in diesem Hause und insbesondere der damaligen CDU-Fraktion, den Behinderten eine effektive, lebensnahe gesetzliche Grundlage zu geben und Diskriminierung zu vermeiden, war damals wenig zu spüren. Es stand immer die Kostenfrage im Mittelpunkt.

(Zustimmung bei der SPD und bei der PDS)

Offensichtlich ist im Jahr der Behinderten die Bereitschaft größer, über die Lebenssituation behinderter Männer und Frauen nachzudenken und auch die Doppeldiskriminierung behinderter Frauen und Mädchen überhaupt anzuerkennen.

Mein Dank geht an die PDS-Fraktion, die nun genau zu diesem Thema diese Große Anfrage gestellt hat.

Bei den Antworten auf die Fragen wurde an vielen Stellen deutlich, dass trotz der Veränderungen bei statistischen Erhebungen die Daten noch immer nicht durchgehend geschlechtsspezifisch erhoben werden und die polizeilichen und gerichtlichen Statistiken diesbezüglich unzureichend aussagefähig sind. Die Strategien des Gender-Mainstreamings, denen sich auch die Landesregierung in ihrem Handeln unterordnet, lassen sich aber nur erfolgreich anwenden, wenn geschlechtsspezifisch geforscht, erhoben und verglichen werden kann.

(Zustimmung bei der SPD und bei der PDS)

Erfreulich ist, dass aufgrund der Fragebogenaktion der SPD-Vorgängerregierung - die Rücklaufquote von fast

70 % hat der Minister bereits genannt - der tatsächliche Hilfebedarf nach den Bedürfnissen von Frauen und Männern differenziert ermittelt wurde und nun gezielte Angebote vorgehalten werden können. Wir sind allerdings gespannt, durch welche Maßnahmen sich die persönliche Situation von Mädchen und Frauen mit Behinderungen nachhaltig und hin zu mehr Selbständigkeit verbessern soll. Diese wurden leider nicht genannt. Auch in Ihrer Rede, Herr Minister, habe ich die Nennung solcher Maßnahmen vermisst.

(Zustimmung von Frau Mittendorf, SPD, und von Herrn Rothe, SPD)

Bei genauerem Lesen der Antworten ergeben sich für meine Fraktion unterschiedliche Erkenntnisse bzw. Hinweise darauf, in welchen Bereichen dringender Handlungsbedarf besteht, zum Beispiel bei der Frage nach den behinderten Frauen und Mädchen unter den Migrantinnen. In diesem Zusammengang wird als dritte Benachteiligung aufgeführt, dass der Aufenthaltsstatus von Migrantinnen die Gewährung medizinischer Leistungen einschränkt. Das ist, denke ich, ein Problem, dem wir uns noch einmal widmen sollten, um die Frage nach Handlungsspielräumen und Ermessenspielräumen der Ausländerbehörden auszuloten.

Ebenso interessant ist für mich die Frage, ob das Wohnprojekt bei Bernburg Krumbholzblick, von der Vorgängerregierung initiiert, erfolgreich ist und es vielleicht für andere Stadtumbau-Projekte modellhaft zu nutzen wäre.

Mich interessiert auch, wann mit der Fortschreibung des Programms zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Kinder mit dem speziellen Schwerpunkt „Strukturelle Gefährdung behinderter Frauen und Mädchen“ zu rechnen ist und wer in die Erarbeitung der Einzelmaßnahmen eingebunden wird.

In Ihrer Antwort auf Frage 6 unter Abschnitt IV - Gewalt gegen behinderte Mädchen und Frauen - verweisen Sie darauf, dass örtliche Initiativen finanziell gefördert werden und von der Landesregierung aufgefordert wurden, nunmehr spezielle Angebote auch für Frauen und Mädchen mit Behinderungen zu entwickeln und zu unterbreiten. - Davon ist mir nichts bekannt. Ich sehe diesbezüglich auch keine Finanzierungsmöglichkeiten, insbesondere in Anbetracht der Kürzungen, die Träger von Frauenhäusern zu verkraften haben und die gerade weniger umfangreiche Beratungs- und Betreuungsangebote zur Folge haben.

Auch auf eine meiner Meinung nach etwas zynische Antwort möchte ich im Zusammenhang mit dem Kinderbetreuungs- bzw. Kinderförderungsbereich hinweisen. Ich denke, die Sorgen, Verunsicherungen und Ängste von Eltern und von Trägern integrativer Einrichtungen hätten verhindert werden können und waren vermeidbar; denn ein Gerichtsurteil muss nicht derart schnell umgesetzt werden. Diese Umsetzung hätte vielmehr genauer vorbereitet und später terminiert werden können.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS - Minister Herr Kley: Die haben ein Jahr Zeit dafür!)

Noch ein kurzer Hinweis zu den Sportvereinen für Behinderte, die im Lande eine ausgezeichnete präventive Arbeit leisten. Nicht überall gibt es solche besonderen Angebote für behinderte Frauen und Mädchen. Das Beispiel Köthen könnte hier Schule machen und sollte vielleicht auch vom Ministerium besonders hervorgehoben werden.

Unter Abschnitt VI - Gesundheitliche Beratungsangebote, Vorsorge - antwortet die Landesregierung auf die Frage nach dem Stellenwert geschlechtsspezifischer Gesundheitsvorsorge wie folgt - ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin -:

„Eine geschlechtsspezifische Gesundheitsvorsorge ist gemäß dem Gender-Mainstreaming-Ansatz grundsätzlich wünschenswert. Der Frauengesundheitsbericht der Bundesregierung hat deutlich gemacht, dass eine solche Versorgung nicht in allen Fachbereichen gewährleistet ist. Die Landesregierung wird sich zu den Bereichen Gesundheitsberichterstattung, Gesundheitsplanung sowie Gesundheitsförderung verstärkt um diesen Aspekt bemühen.“

Insgesamt ist zu sagen: Bisher profitiert die Landesregierung noch immer von den Aktivitäten der Vorgängerregierung.

(Zustimmung bei der SPD)

Die vagen Andeutungen in Bezug auf neue Maßnahmen und auf ein verstärktes Kümmern oder Bemühen werden wir als Fraktion im Auge behalten. Aus den einzelnen Ministerien sind mir im Zusammenhang mit dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung zum Beispiel Aktivitäten zum Abbau der Doppeldiskriminierung von Frauen und Mädchen zumindest nicht bekannt. - Danke schön.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der PDS)

Danke, Frau Abgeordnete Fischer. - Herr Abgeordneter Schwenke erhält jetzt für die CDU-Fraktion das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Zuerst möchte ich der Landesregierung für die umfängliche Beantwortung der Großen Anfrage der PDS-Fraktion zur Lebenssituation von Frauen und Mädchen mit Behinderung danken. Auch wenn, wie die Landesregierung anführt, aufgrund des Datenschutzes bei Sozialdaten nicht zu allen Fragenkomplexen alle erfragten Statistiken in dem gewünschten Umfang bzw. der gewünschten Qualität aufgeführt werden konnten, so ist der Landesregierung dafür zu danken, dass sie das vorliegende Zahlenmaterial zusammengestellt hat. Dieses Material wird für vor uns alle eine hilfreiche Arbeitsgrundlage sein.