Protocol of the Session on May 15, 2003

Antrag der Fraktion der PDS - Drs. 4/738

Ich bitte zunächst Herrn Bischoff, für die SPD-Fraktion die Einbringung des SPD-Antrages vorzunehmen. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt hat es mich also doch erwischt. Ich bin einer der Abgeordneten, die ihre Redemanuskripte immer in der Nacht vor der Sitzung schreiben. Ich wollte auch nicht derjenige sein, der hier die Bremse ist. Ich habe also in der Kürze noch ein paar Stichpunktzettelchen vorbereitet.

Vielleicht reicht es auch; denn ich möchte Sie mit meiner Einbringung mehr neugierig machen auf den Bericht „Reichtum und Armut in Sachsen-Anhalt“, weil das ein Bericht ist, von dem ich der Überzeugung bin - er stammt von einem Wirtschaftsforschungsunternehmen in Berlin mit den Namen Empirica -, dass er eigentlich in die Tasche eines jeden und einer jeden Abgeordneten gehören müsste; denn hier wird ein ganzheitliches Bild der Menschen hierzulande aufgestellt. Es ist also kein Bericht lediglich über sozial Schwache, sondern auch über Einkommensstarke und Vermögende.

In dem Bericht werden Fakten, Analysen und auch Vergleiche gebracht, Ursachen untersucht und Bedingun

gen dargelegt. Es wird auch das Thema „Gewinner und Verlierer der Deutschen Einheit“ angesprochen. Beim Lesen bestimmter Themen ist mir aufgefallen, dass das, was wir hier oft miteinander bereden und was Sie vielleicht auch hier und dort mit Ihren Bekannten, Verwandten oder Parteifreunden bereden auf der Grundlage einer Vermutung, das könnte so oder so sein, in dem Bericht mit Fakten und mit Tatsachen belegt wird, die man vorher so nicht kannte. Daher kann ich Ihnen nur empfehlen, diesen Bericht wirklich einmal zu lesen. Er ist übrigens auf der Internetseite des Sozialministeriums abzurufen. Dort ist eine Kurzfassung oder eine längere Fassung mit 388 Seiten - ich glaube, die längere Fassung - veröffentlicht worden.

Ich möchte mich bei der Vorgängerregierung dafür bedanken - ich sage das wirklich sehr offen -, dass sie diesen Bericht in Auftrag gegeben hat; denn man kann ja nicht wissen, was dabei am Ende herauskommt. Dieser Bericht ist kritisch. Er zeigt die Situation ungeschönt, wie sie in Sachsen-Anhalt ist. Auch Dank an die jetzige Landesregierung dafür, dass sie diesen Bericht veröffentlicht. Wir haben zwar ein wenig länger darauf gewartet, aber sie hat es gemacht. Vielleicht folgen auch noch die Empfehlungen, die dazu erarbeitet worden sind. Vielen Dank auch an den Beirat, der des Öfteren zusammengetreten ist, wie ich mir sagen ließ, und der hierbei auch ein wenig Druck gemacht hat.

Es ist eine ehrliche Bestandsaufnahme, ungeschminkt. Meines Erachtens sollte sie fortgeschrieben werden, auch ohne Ängste, dass man sagt, dass die jeweilige Landesregierung dabei möglicherweise in Zugzwang käme oder Rechenschaft dazu ablegen müsste. Das muss jede Landesregierung. Aber wie es den Menschen hierzulande geht, wie sie sich fühlen, wie die Bedingungen sind, das ist, glaube ich, wichtig. Deshalb nenne ich ein paar Beispiele.

Sie erfahren in diesem Bericht zum Beispiel, dass das Durchschnittseinkommen der Haushalte in Sachsen-Anhalt 1 900 € beträgt, mehr als die Hälfte der Haushalte aber nur 1 700 € hat und das Gesamteinkommen bei einem Viertel aller Haushalte sogar unter 1 200 € liegt. Die reichsten Haushalte - das erfahren Sie auch - liegen bei 2 400 € und bei 10 % der Haushalte - das sind diejenigen Haushalte, die sozusagen an der oberen Schwelle sind - beträgt das Gesamteinkommen 3 300 €. Der Durchschnitt aller Haushalte liegt um ein Drittel niedriger als im Westen.

Sie erfahren in diesem Bericht - was auch interessant ist - etwas über die Einkommensmillionäre, die wir haben. Die soll es ja auch geben. Von diesen gibt es in ganz Deutschland 36 000, in Ostdeutschland aber nur 281 und in Sachsen-Anhalt 45. Die Zahlen sind aber nicht ganz neu und noch in D-Mark angegeben. Vielleicht sind es in Euro nur die Hälfte.

Einkommensarm sind wiederum 18 % der Haushalte - das sind 219 000 -, weil sie über weniger als 60 % des Gesamtdurchschnittseinkommens verfügen. Die Armutsgrenze zu definieren ist relativ schwierig. Dieses Forschungsunternehmen hat es versucht mit verschiedenen Parametern und hat eine Marge festgelegt, die zu erläutern jetzt aber etwas schwierig ist. Jedenfalls hat sie die Armutsgrenze mit verschiedenen weiteren Parametern bei weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens festgelegt.

Sie erfahren in diesem Bericht zum Beispiel auch, dass sechs von zehn Haushalten in Sachsen-Anhalt keine Im

mobilien besitzen und - verständlicherweise - eine Angleichung an den Weststandard wahrscheinlich erst in Jahrzehnten erreicht sein wird, wobei die Älteren vermutlich in dieser Hinsicht kaum eine Chance haben.

Der Anteil der Sozialhilfeempfänger - das hätten wir, wenn wir die Landtagswahlen gewonnen hätten, auch ungeschminkt zur Kenntnis nehmen müssen - ist seit dem Jahr 1994 kontinuierlich gestiegen. Er liegt jetzt - im Jahr 2001 - um 60 % höher als im Jahr 1994 und umfasst vor allem Kinder und Jugendliche.

Alleinerziehende liegen im Osten doppelt so häufig unter der Armutsgrenze wie im Westen. Dagegen sind kinderlose Paare, die es zunehmend gibt, kaum einkommens- oder vermögensarm. Kinder, so stellt dieser Bericht fest, stellen ein erhöhtes Armutsrisiko dar.

Einkommensarmut steht in engem Zusammenhang mit Bildungsarmut - auch das zeigt der Bericht deutlich und das ist ziemlich klar. Wenn die Eltern Schichten mit niedrigerem Bildungsniveau und geringerem Einkommen angehören, haben natürlich auch Kinder und Jugendliche, die dort groß werden, weniger Chancen.

Der Bericht sagt aus - weil er auch sehr viel mit Wirtschaft zu tun hat -, dass das Qualifikationsniveau sinkt und deutlich hinter den Anforderungen des Arbeitsmarktes zurückbleibt. Auch das zeigt dieser Bericht für Sachsen-Anhalt. Das ist das Risiko, auf das wir hinsteuern.

Dass die Arbeitslosigkeit hierzulande überdurchschnittlich hoch ist, beschreibt der Bericht ebenfalls. Das hat - das wissen wir alle - aber auch mit dem Zusammenbruch des Schwermaschinenbaus und der Chemie zu tun, für die Sachsen-Anhalt das Zentrum war.

Im Jahr 2001 waren von den 2,6 Millionen Sachsen-Anhaltern - jetzt haben wir nur noch 2,54 Millionen - 1,8 Millionen im erwerbsfähigen Alter, aber nur 1,06 Millionen hatten einen Arbeitsplatz, 288 000 suchten einen Arbeitsplatz.

Sie können in dem Bericht auch etwas Positives nachlesen. Zum Beispiel beträgt die Lebenserwartung der zwischen dem Jahr 1991 und dem Jahr 1995 Geborenen bei den Frauen 79,4 Jahre und bei den Männern 72,5 Jahre. Das wird begründet mit der Gesundheitsstruktur und dem Gesundheitsstand in Sachsen-Anhalt.

Der Bericht sagt aber auch ungeschönt etwas zur Abwanderung: Zwei Drittel des Einwohnerschwundes sind zurückzuführen auf den Geburtenrückgang, ein Drittel macht der Wegzug aus. Auch gibt es differenzierte Zahlen darüber, wohin gezogen wurde und welche Altersgruppen das vornehmlich waren.

Es geht in dem Bericht auch um das Wohnmilieu, wo die Menschen wohnen. So wohnen in den Plattenbausiedlungen - das wusste man schon ungefähr - 20 % Haushalte, die erwerbslos sind, also bei denen beide Partner arbeitslos sind.

Es geht in diesem Bericht auch um Gewinner und Verlierer der Einheit - obwohl ich diese Begriffe nicht so gern benutze.

Gewinner - das wird deutlich gesagt - sind die unter 40Jährigen. Es wird nach unten nicht weiter differenziert. Ich nehme an, damit sind die 28- bis 40-Jährigen gemeint, weil man darunter noch im Jugendalter ist. Im Vergleich zu dem Bericht der Bundesregierung über Reichtum und Armut in Deutschland, der seit zwei Jah

ren vorliegt, wird gesagt, für die unter 40-Jährigen im Osten sei die Angleichung an die Gleichaltrigen im Westen, sowohl dem Einkommen als auch dem Vermögen nach, eigentlich schon gelungen. - Darüber habe ich mich gewundert.

Zu den Gewinnern der Einheit zählen auch die über 60Jährigen, also die jetzige Rentnergeneration, hauptsächlich durch die hohe Erwerbsquote der Frauen in der DDR begründet.

Verlierer, so steht es in dem Bericht, sind diejenigen, die zu Beginn der 90er-Jahre 45 bis 55 Jahre alt waren. Das ist klar. Deren Erwerbseinkommen ist durch Arbeitslosigkeit, ABM und wieder Arbeitslosigkeit geprägt, fällt also geringer aus. Dadurch werden diese auch geringere Rentenbezüge als die heutige Rentnergeneration erhalten.

Die Einkommensquellen im Alter sind in Ost und West auch unterschiedlich. In Sachsen-Anhalt leben Rentner fast ausschließlich von der staatlichen Rente, nämlich zu 98 %, im Westen wesentlich weniger. Dort lebt man sehr stark von privaten Rentenversicherungen, Betriebsrenten und auch von höheren Vermögenseinnahmen.

Summa summarum kann ich diesen Bericht zur Lektüre empfehlen, weil er viele Fassetten umfasst - deshalb gehört er tatsächlich nicht nur in den Sozialausschuss -, wie Menschen in Sachsen-Anhalt leben und auch wie sie sich fühlen, worauf ich jetzt nicht näher eingegangen bin. So wird zum Beispiel auch gefragt, wie zufrieden die Menschen sind. Dazu gibt es sehr große Differenzen und auch manche Widersprüchlichkeiten, auf die ich hier nicht konkret eingehen will. Es werden die wirtschaftlichen Aspekte beleuchtet, die Chancen, die Wohnqualität, die Vermögensentwicklung.

Eines zeigt sich deutlich - das will ich zum Schluss sagen -: Mit der Vermehrung des Reichtums auf der einen Seite geht immer eine Vergrößerung der Armut auf der anderen Seite einher. Deshalb brauchen wir Strategien und Konzepte, sowohl vom Bund als auch vom Land, wie wir damit umgehen, damit die Schere nicht noch weiter auseinander geht. Ich will nur Herrn Minister Kley aus dem Presseartikel vom 16. April 2002 zitieren:

„Darüber hinaus müssen wir aber noch differenzierter hinterfragen, an welchen Stellen Politik steuernd wirken kann.“

Ich denke besonders an Kinder, allein erziehende Frauen und allein lebende ältere Frauen, für die der Bericht ein höheres Armutsrisiko feststellt. Wir sind also gefordert. In diesem Sinne kann ich Sie nur bitten, diesen Bericht intensiv zu lesen und in den Ausschussberatungen aktiv mitzumachen. Sie werden viele Erkenntnisse auch für Ihre eigene Diskussion im politischen Raum erhalten. - Danke schön.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Bischoff. - Der PDS-Antrag wird eingebracht von Frau Bull. Sie haben das Wort.

Meine Damen und Herren! Ich stelle die vage Vermutung auf, dass die allerwenigsten von uns Armut aus eigenem Erleben kennen. Ebenso ist es vermutlich an dem, dass sich auch in Ihrem Bekanntenkreis Armut sehr in Grenzen hält.

Einkommensarmut ist nur eine Dimension von Armut. Ich will gleich zu Anfang sagen: Ich halte es nicht für das Schlimmste im Leben, über einen bestimmten Zeitraum mit weniger Geld auskommen zu müssen. Das bringt unter anderem auch die eine oder andere soziale Erfahrung mit sich. Trotzdem bedarf es in einer geldgeprägten Gesellschaft enormer sozialer Kompetenzen und enormer Lebenskunst, um Armut nicht zur Lebensmatrix der Betroffenen werden zu lassen.

Über Bildungsarmut ist bereits von Herrn Bischoff gesprochen worden. Weitere Dimensionen sind Gesundheitsarmut und Asozialität; damit meine ich nicht die Perspektive des Stammtisches, sondern Asozialität im Sinne dessen, sich in der Gesellschaft nicht zurechtzufinden.

Ich will zugeben, dass mein letztes Erlebnis von Armut auch nur ein mittelbares war. Ich habe mich am vergangenen Sonntag mit einer Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe in Magdeburg unterhalten, und ich muss zugeben, dass es mir bei ihren Schilderungen über ihre Klientel, über das Milieu, das sie betreut, ein Stück weit die Sprache verschlagen hat.

Das sind Leute, die mit einer Klientel, mit einem Milieu zu tun haben, mit Mädchen und Jungen, die sich zunehmend dem sozialen Zugriff der Gesellschaft, dem gesellschaftlichen Blick entziehen. Nach Kindern und Erwachsenen, die auf der Straße leben, auf der Straße leben müssen, fragt keiner mehr, sie interessieren keinen mehr. Ich hatte einmal mehr den Eindruck, dass ich persönlich eigentlich keine Ahnung davon habe, was Armut heißt, wohin Einkommensarmut führen kann und wohin Armut führt.

Genau das ist das Problem von Politik, meine Damen und Herren: Es fehlt uns allen an Betroffenheit. Ohne Betroffenheit lässt sich nun einmal schwer Politik machen. Freilich lässt es sich mit dem Gehalt eines bayerischen Ministerpräsidenten trefflich vorschlagen, die Sozialhilfe um 30 % zu kürzen, oder mit dem Gehalt eines Bundeskanzlers vorschlagen, die Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau herunterzukürzen.

(Zuruf von Herrn Schomburg, CDU)

- Es ist so. Ganz genau so ist es. - Uns fehlt an dieser Stelle die Betroffenheit und ich erspare mir an dieser Stelle weitere Aufzählungen. Armut wird quasi zur Matrix, die sich über das Leben der Betroffenen legt

(Zuruf von Frau Feußner, CDU)

und die - das kommt hinzu - in wachsendem Maße von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das ist die Hauptaussage des so genannten Armutsberichts des Empirica-Instituts Berlin.

Ich will auch sagen, dass Einkommensarmut „nur“ ein Einfallstor ist. Sie ist ein Einfallstor für Bildungsarmut, für die Armut an gesundheitsfördernden Bedingungen, für die Gettobildung auf dem Wohnungsmarkt und vieles andere mehr.

Das zu verhindern, meine Damen und Herren, ist nun einmal die Aufgabe der Politik. Umso wichtiger und auch anerkennenswert ist es, Armuts- und Reichtumsforschung in Auftrag zu geben und sie zu nutzen. Ich möchte mich diesbezüglich gern dem Lob meines Vorredners anschließen.

Dass die Sichten auf Armut und Reichtum allerdings sehr weit auseinander gehen - das will ich nicht verheh

len -, haben die Auseinandersetzungen in dem eben erwähnten Beirat zum Armutsbericht gezeigt, und zwar die Auseinandersetzungen um den ersten Entwurf des Berichts im April 2002.

Ich will an dieser Stelle nicht verhehlen zu sagen: Es spricht nicht unbedingt für die Seriosität empirischer Sozialwissenschaftler, mit Kampfbegriffen wie „üppige Sozialsätze“ zu hantieren. Das verbietet sich für seriöse Wissenschaftler. Es ist mir persönlich auch schleierhaft, wie ein Institut, das auf diesem Gebiet forscht, bei der Frage „Was ist Armut?“ mit dem absoluten Armutsbegriff umgeht, also damit, was es für erforderlich hält, dass die Leute nicht verhungern und nicht verdursten müssen. Es gab heftige Auseinandersetzungen. Erst im Ergebnis dessen - das muss an dieser Stelle einmal gesagt werden -, also nach langen Auseinandersetzungen im Beirat, hat sich das Empirica-Institut entschlossen, überhaupt mit dem relativen Armutsbegriff zu arbeiten.

Der vorliegende Armutsbericht - das will ich jetzt nicht weiter ausführen; das hat Herr Bischoff schon gesagt - hantiert mit dem so genannten Äquivalenzeinkommen. Schlichtweg ist das Haushaltsnettoeinkommen in Sachsen-Anhalt für bestimmte Haushaltstypen ausgerechnet und typisiert worden. Die Zahlen sind auch genannt worden. Danach leben 18 % der im Land Sachsen-Anhalt vorhandenen Haushalte in Armut. Das ist jeder fünfte Haushalt.

Ich will dazu sagen, dass das über vier Jahre her ist. Klammerbemerkung: Die aufmerksame Beobachterin bzw. Leserin wundert sich über solche hornalten Zahlen. Trotzdem ist es vier Jahre her. Der Anteil der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger ist gestiegen. Der Anteil der Arbeitslosenhilfeempfängerinnen und -empfänger ist gestiegen. Wir können sehr wohl davon ausgehen - wir haben das Jahr 2003 -, dass wir demnächst die 20%-Marke erreicht haben werden.