Protocol of the Session on December 14, 2001

Damit der Ideen aber noch nicht genug. Auch das Schulsystem galt es in diesem Land einmal so richtig von Grund auf zu reformieren. Herausgekommen ist dabei die neue Sekundarschule, wie wir alle wissen. Man war sich hierbei einig, dass nur die Einführung eines integrativen Schultyps die Bildungswende zum Besseren bewirken könnte.

Auf diesem Standpunkt beharren die PDS-Initiatoren noch heute, obwohl längst offenbar ist, dass künftig nur noch etwa ein Drittel der Schüler einer Jahrgangsstufe an den Sekundarschulen des Landes die Fachoberschulreife erreichen wird. Aber das alles macht nichts; denn Klappern gehört schließlich zum Handwerk, und Innovationsgetöse gehört zum Handwerk gewisser Politiker und Parteien, denen sonst nichts Besseres einfällt.

Demnach erscheint - wie eingangs erwähnt - die Schuldzuweisung an die Adresse der Schüler bezüglich ihres schlechten Abschneidens beim Pisa-Test wirklich als die praktikabelste Lösung für alle so genannten Verantwortlichen. Folgerichtig zeichnen die Schüler im Greencardzeitalter der computerversierten Hightech-Leute aus Übersee letztlich wohl auch dafür verantwortlich, dass nach der OECD-Studie der Anteil der Studenten und Akademiker pro Altersjahrgang in anderen Nationen gegenüber Deutschland weitaus höher liegt.

Dabei sind doch die Rahmenbedingungen in Deutschland mit einer Schulzeit von 13 Jahren allein zum Erwerb des Abiturs exorbitant gut. Auch tragen die hierzulande für ein Universitätsstudium obligaten dreieinhalb bis fünf Jahre Mindeststudiendauer absolut zum Erhalt weltweit vergleichbarer Rahmenbedingungen bei.

Nur die partout Bildungswilligen Deutschlands verstehen nicht, warum hier größtenteils eine dreijährige Ausbil

dung zum Erwerb eines Berufsabschlusses sowie eine zusätzliche dreijährige Ausbildung zum Erwerb der Befähigung als Handwerksmeister vonnöten sind. Da zwingt sich einem doch die Frage auf, wie bei so viel vorgeblich geballter Bildung letzten Endes nur so wenig gute Testergebnisse erzielt werden konnten.

Leeres Politikergefasel und bloße Absichtsbekundungen, nunmehr ein Zehn-Punkte-Programm vom Stapel lassen zu wollen, das Bildungsqualität sichern helfen soll, können hierzulande von Eltern wie auch von Schülern nicht mehr ernst genommen werden. Bildungspolitische Kontinuität und Verlässlichkeit werden erwartet, durchgeführt von fähigen Köpfen, nicht aber weitere Experimente und Spielchen auf dem Rücken von Schülern und Lehrern.

Die Bereitstellung von bedarfsdeckenden finanziellen Mitteln für den sächlichen Bereich des unmittelbaren Aufgabengebietes Bildung wird gefordert, nicht aber eine weitere Verschleuderung von Steuergeldern für irgendwelche Wald-und-Wiesen-Projekte. Hier gilt es, insbesondere die Lehrpläne dahin gehend umzustellen, dass der Hauptschwerpunkt des Unterrichts von den musischen Fächern sowie den Fremdsprachen wieder auf die Fächer Deutsch, Mathematik und die Naturwissenschaften zurückverlagert wird.

Außerdem ist zu fordern, die Klassenstärken drastisch zu reduzieren, sodass eine vernünftige und fruchtbringende Lern- und Lehrbasis für Schüler und Lehrer gleichermaßen hergestellt wird. Ausländische Schüler sollten sich einer Ausbildung in der deutschen Sprache unterziehen müssen, bevor der Versuch unternommen wird, sie in eine deutsche Klasse zu integrieren. Lehrbücher und Arbeitshefte müssten allen Schülern generell kostenlos zur Verfügung gestellt werden, wenn deren Verwendung in der Schule erforderlich ist.

Leistungsfähige und qualitativ gute staatliche Schulen mit fähigen, fundiert ausgebildeten Lehrkräften braucht unser Land, nicht aber das realitätsferne Bildungsgeschwätz von Politikern und Etablierten, deren eigene Kinder jedoch Privatschulen besuchen.

(Zuruf von Frau Lindemann, SPD)

Der Öffentlichkeit sollte auch nicht ständig suggeriert werden, in anderen Nationen der Welt, beispielsweise in den USA, stünde in bildungspolitischer Hinsicht alles zum Besten und sei daher für Deutschland nachahmenswürdig. In den USA besteht zum Beispiel kein öffentliches Bildungssystem wie in Deutschland.

Daher bleibt abschließend als Standpunkt meiner Fraktion zur Thematik der Pisa-Studie festzuhalten, dass ein grundlegender bildungspolitischer Wandel hierzulande umgehend erforderlich ist. Es hätte meines Erachtens der Pisa-Studie gar nicht bedurft, um darauf hinzuweisen, wenn die Regierung den Nöten der Schüler, Lehrer und Eltern rechtzeitig Gehör geschenkt und entsprechend reagiert hätte. Aber anscheinend bedürfen die Bildungspolitiker Deutschlands immer erst eines Anstoßes von außen, bevor sie sich auf ihre Verantwortung besinnen. - Danke.

(Beifall bei der DVU)

Danke sehr. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Abgeordnete Frau Kauerauf.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein ganzes Land befindet sich scheinbar in einem Schockzustand. Die weltweit bisher umfangreichste und differenzierteste Vergleichsuntersuchung zum Leistungsstand von Schülern bescheinigt ausgerechnet den deutschen 15-Jährigen unterdurchschnittliche Ergebnisse.

Nicht unerwartet rief die Veröffentlichung dieser Ergebnisse vehemente Reaktionen hervor. Politiker, Fachwissenschaftler, Gewerkschafter und nicht zuletzt die Medien übertreffen sich seitdem bei der Analyse und Darstellung von Lösungsstrategien. Für die einen sind die Lehrer schuld, für die anderen die Eltern; wieder andere sehen die Politiker in der Pflicht, fordern mehr Geld oder machen das Schulsystem für die Misere verantwortlich.

Bürgerinnen und Bürger aller Altersgruppen melden sich zu Wort und äußern das, was sie schon immer mal zum Thema Bildung sagen wollten, ob es nun etwas mit den Ergebnissen der Pisa-Studie zu tun hat oder nicht.

Von dem französischen Dramatiker Jean Anouilh stammt die in diesem Zusammenhang zu beachtende These: Ehe man kritisiert, sollte man seine Kritik kritisieren.

Was wir jetzt nicht brauchen, sind Pauschalkritik, Patentrezepte und ein hektischer Aktionismus.

Hartmut von Hentig sagte in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 5. Dezember 2001:

„Eine schnelle Maßnahmenpolitik führt nur dazu, dass man wieder Maßnahmen erfinden muss, um Maßnahmen zu stützen.“

Nicht unwesentlich ist dabei sicherlich die Tatsache, dass Deutschland im Gegensatz zu anderen Staaten keine Erfahrungen im Umgang mit groß angelegten Vergleichsuntersuchungen zu Schulleistungen vor TIMSS aufweisen kann. Notwendig ist daher eine detaillierte Analyse der Ergebnisse der Studie, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht in vollständiger Form vorliegen. Auf dieser Grundlage sollten dann gezielte und effektive Maßnahmen eingeleitet werden.

Was kann und sollte nun die heutige Debatte vor dem beschriebenen Hintergrund leisten? An dieser Stelle muss klar gesagt werden, dass die vorliegenden Untersuchungsergebnisse zunächst eine Auswertung der Gesamtstichprobe der Bundesrepublik darstellen. Die Auswertung für die einzelnen Bundesländer schließt sich erst im nächsten Jahr an. Die heutige Debatte kann somit nur global geführt werden.

Meine Damen und Herren! Ich möchte Ihnen zunächst sagen, was unsere Fraktion nicht tun wird. Wir werden an dieser Stelle keine Strukturdebatte über Schulformen führen. Einige Bemerkungen dazu erachte ich jedoch als notwendig.

Die Ergebnisse zeigen, dass das gegliederte Schulsystem in Deutschland kein Garant für eine hohe Qualität der Schule ist. Ein Großteil der Länder, die in der Studie vordere Plätze belegen, verfügt über ein integratives Gesamtschulsystem, indem entweder Niveaugruppen innerhalb der Jahrgangsklassen oder flexible Kurssysteme gebildet werden. Dieser Umstand verdient eine besondere Beachtung.

In anderen Ländern erfolgt eine Schulformzuweisung entsprechend den unterschiedlichen Anspruchsniveaus in der Regel erst ab der 7., 8. oder 9. Klasse. Über eine

noch frühere Trennung der Bildungsgänge verfügen nur ganz wenige Länder, unter anderem Deutschland.

Damit bestätigt sich, dass inhalts- und qualitätsreicher Unterricht sicherlich nicht primär eine Frage des Schulsystems ist. Guter Unterricht ist auch nicht zwingend abhängig von der Schülerzahl in einer Klasse, dem Stundenumfang oder den Finanzzuweisungen des Staates. Guter Unterricht ist viel mehr. Er ist vorrangig abhängig von der Zusammenarbeit aller in der Schule Agierenden. Dazu zählen nicht nur die Schüler und Lehrkräfte, sondern auch die Eltern und die Schulaufsicht. Kreativität, Engagement, Flexibilität und Methodenvielfalt sind wesentliche Bausteine einer guten Schule.

Die Aufgabe der Politik besteht darin, die Entfaltung dieser Merkmale zu ermöglichen und zu befördern und so zu einem Schulklima beizutragen, das sowohl leistungsstimulierend als auch leistungsfordernd wirkt.

Wir in Deutschland haben das Problem, dass Bildungspolitik ideologisiert wird. Lassen Sie uns den ideologischen Ballast abwerfen und schauen, wie zum Beispiel die finnischen, australischen, kanadischen oder japanischen Schülerinnen und Schüler zu ihren guten Testergebnissen gekommen sind. Das könnte der Schlüssel zur Lösung des Problems sein. Damit meine ich natürlich nicht, wir sollten alles übernehmen. Wir sollten vielmehr überlegen, was unter Beachtung deutscher Spezifika in die Diskussion über Lösungsansätze einbezogen werden sollte.

Aus der Sicht der SPD-Fraktion stellen sich dabei folgende grundlegende Fragen und Aufgaben:

Erstens. Worin unterscheiden sich die deutschen Prioritäten für schulisches Lernen vom international eher verbreiteten Konzept einer Grundbildung? Die Ergebnisse der Studie belegen, dass deutsche Schüler beim qualitativen Verständnis von Sachverhalten Probleme haben. Die Fähigkeit, innerhalb eines Bereiches flexibel mit unterschiedlichen Situationen umzugehen, ist bei ihnen unterentwickelt. Welche Wege können bei uns zu einer breiteren Grundbildung führen?

Zweitens. Wie sind Forderungen nach einer neuen Lehrund Lernkultur in den Schulen mit der Auslese nach unterschiedlichen Anforderungen vereinbar?

Drittens. Was kann und muss Schule leisten, um allen Schülern die Möglichkeit zu geben, entsprechend ihren besonderen Lern- und Leistungsmöglichkeiten zu lernen?

Viertens. Wie wirken sich Ganztagsschulen in anderen Ländern auf die Lernmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen aus? Welche Wege zum Ausbau von Ganztagsschulen müssen bei uns beschritten werden? Ein nicht unerheblicher Teil der vorn platzierten Länder verfügt über ein Ganztagsschulsystem.

Fünftens. Wie erklärt sich die eklatante Streuung zwischen den Leistungen lernstarker und lernschwacher Schüler in Deutschland? Wie soll zukünftig die Förderung lernschwacher Schüler aussehen? Wie kann im Pflichtschulbereich mehr Chancengleichheit erreicht werden? Welche Wege beschreiten andere Länder?

Sechstens. Was kann in Deutschland getan werden, um den erschreckend starken Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserwerb abzubauen? Chancengleichheit im Bildungssystem muss sich darin

widerspiegeln, dass der Zugang zu höheren Bildungsabschlüssen nicht von der sozialen Herkunft abhängt.

(Zustimmung von Herrn Rothe, SPD, und von Herrn Biener, SPD)

Siebentens. Warum gelingt die sprachliche Förderung und Integration von Schülern aus Migrantenfamilien in anderen Ländern mit vergleichbarem Ausländeranteil besser als in Deutschland? Die Pisa-Studie unterstreicht, dass das Kompetenzniveau ausländischer und ausgesiedelter Jugendlicher, die als tägliche Umgangssprache eine andere als die deutsche Sprache verwenden, im Durchschnitt weit unter dem der Deutsch sprechenden 15-Jährigen liegt.

Achtens. Wie viel Selbständigkeit benötigt eine Schule? Schülerinnen und Schüler schneiden im internationalen Vergleich umso besser ab, je selbständiger ihre Schulen arbeiten können. Die gut platzierten skandinavischen Länder haben ihre zentralistischen Systeme dezentralisiert.

Neuntens. Welchem Grad der Rechenschaftslegung muss eine Schule unterliegen? Zur Steigerung der Qualität von schulischer Leistung gehört in jedem Fall auch die Überprüfung und Bewertung. Auch in diesem Bereich sind uns einige Länder voraus.

Zehntens. Welche Förderalternativen bestehen zum praktizierten System der möglichen Zurückstellung von der Einschulung und der Klassenwiederholung? Noch immer erreichen diese Schüler in der Regel schlechtere Leistungen als ihre späteren Klassenkameraden. Andere OECD-Länder machen davon nur zurückhaltend Gebrauch. Nirgendwo sonst auf der Welt besuchen so viele 15-Jährige erst die 8. oder 9. Klasse wie in Deutschland.

Elftens. Welchen Beitrag sollen und können die Eltern leisten? Wie muss eine künftige Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus aussehen?

Zwölftens. Welche Rolle spielt die Lehreraus-, -fortund -weiterbildung bei der Bewältigung der beschriebenen Aufgaben? Benötigen wir neben einer neuen Qualität des Lernens nicht auch eine neue Qualität des Lehrens?

13. Müssen wir mit der Vermittlung von wesentlichen Lernkompetenzen früher beginnen als bisher? Welche Rolle spielt die vorschulische Erziehung? Es gibt Länder, in denen so gut wie alle Drei- oder Vierjährigen Vorschulen besuchen, Länder, in denen die Schulpflicht bereits mit vier oder fünf Jahren beginnt, und Länder, in denen die Mehrzahl der Kinder ein Jahr vor Beginn der Schulpflicht eingeschult wird.

All diese Fragen werden uns zukünftig noch stärker als bisher beschäftigen. Wir sollten uns davor hüten, für alle Fragen sofort die passenden Antworten parat zu haben. Eine dieser scheinbar passenden Antworten wird in den letzten Tagen sehr oft strapaziert. Das ist die Frage der Kopfnoten. Darauf wurde schon eingegangen.

Das Problem der deutschen Schülerinnen und Schüler, die an dem Test teilgenommen haben, bestand darin, Texte zu verstehen, in größere Zusammenhänge einzuordnen und sachgerecht zu nutzen bzw. alternative Lösungswege für mathematische Sachaufgaben zu erschließen. Es geht um die Lesbarkeit der Welt und das Handelnkönnen.

Zur Lösung dieser Defizite sind aus unserer Sicht die angedeuteten Handlungsansätze gefragt. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der PDS und von der Regierungsbank)