Protocol of the Session on January 25, 2001

Unter der inneren Distanzierung ist die Aufgabe einer im drogalen Lebensumfeld entwickelten Junkie-Identität zugunsten anderer sozial angepasster Rollenmuster zu verstehen, die zum Teil neu geschaffen werden müssen, zum Teil bereits in der Forderungenzeit entwickelt worden sind. Diese Identitätsübertragung wird durch das Vorhandensein anderer Rollenmuster neben der Identität als Drogenkonsument begünstigt. Je mehr die Junkie-Identität in den Vordergrund tritt, umso unwahrscheinlicher wird eine Beendigung des problematischen Konsums ohne professionelle Hilfe.

Die Erkenntnisse von Waldorf zum Ausstiegsprozess korrespondieren durchaus mit den Ergebnissen Robins und der Graeven-Brüder. Die von Robins erkannte Möglichkeit des selbst organisierten Ausstiegs nach Rückkehr aus einer extrem belastenden Lebenssituation verlangt durchaus einen Rollenwechsel aufseiten der ehemaligen Soldaten. Andere Rollenmuster müssen das des Krieges ersetzen. Vormaliger Opiatkonsum, der in der Situation des Krieges für die konsumierenden Soldaten durchaus einen Sinn hatte, verlor in den herkömmlichen Bezügen seinen Sinn und wurde aufge- geben.

Auch die von Graeven und Graeven gefundenen günstigen psychosozialen Voraussetzungen bei unbehandelten Aussteigern lassen sich mit den Erkenntnissen von Waldorf verbinden. Das heißt: Sind bereits positive, stützende Ressourcen in der Person und der Umwelt eines Konsumenten vorhanden, so fällt ihnen der Ausstieg leichter als einer Person, die zunehmend in drogale Lebensverhältnisse und Bewusstseinsverhältnisse inte- griert ist.

Was an dieser Stelle aber noch nicht möglich ist und erst noch gefunden werden muss, ist der Entwurf eines idealtypischen Verlaufes oder eine saubere Darstellung des Ausstiegsprozesses. Damit komme ich zu unserem Antrag.

Zu unterschiedlich sind die Methoden und Schlussfolgerungen der verschiedenen Forscher, zu viele Fragen wer

den offen gelassen. Gibt es wirklich konkrete Unterschiede zwischen therapierten und unbehandelten Aussteigern? Gibt es ähnliche Verläufe im Leben von Aussteigern, die es ohne fremde Hilfe schaffen? Sind bestimmte signifikante Charaktermerkmale feststellbar? Welche Formen der Unterstützung erscheinen als effektiv begünstigende Faktoren?

Eine genaue Analyse von deutschsprachigen Studien zu diesem Thema, die detaillierter sein müssten als die amerikanischen Berichte, könnte hierüber Aufschluss geben. Und hier ist die Landesregierung gefordert.

Zu den deutschsprachigen Studien ist Folgendes zu bemerken: Teilweise auf der Basis eigener Erfahrungen, teilweise nach der Inspiration durch die bereits genannten Untersuchungen aus den USA begannen Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre auch deutsche Drogenforscher, sich wissenschaftlich mit dem Phänomen des selbst organisierten Ausstiegs auseinander zu setzen.

Eine Feststellung darf hier vorangestellt werden: Das wissenschaftliche Interesse und damit die Publikationen zu dem Thema „Selbst organisierter Ausstieg aus der Heroinabhängigkeit“ hatten ihren Höhepunkt Mitte bis Ende der 80er-Jahre. In den 90er-Jahren gab es kaum eine wissenschaftliche Behandlung dieses spezifischen Themas, obwohl für diese Unterlassung kein klarer Grund ersichtlich war.

In der Zeit von Mai 1979 bis Juni 1980 führte eine Forschungsgruppe der Technischen Universität Berlin mit Kindermann als Projektleiter eine Studie an unbetreuten heroinabhängigen Jugendlichen durch. Da sich die Studie vorrangig mit aktuell abhängigen Personen befasste, kamen genaue Erkenntnisse über Selbstaussteiger in dieser Studie kaum vor. Dennoch fanden die Autoren Hinweise auf eine offenbar als recht umfangreich einzuschätzende Gruppe von Personen, die einen Ausstieg ohne professionelle Hilfe erreicht haben. Die Angaben sind allerdings eher hypothetischer Natur, da nach Aussage der Autoren zum Zeitpunkt der Studie noch keine genauen statistischen Daten vorlagen.

(Unruhe)

Entschuldigung, Frau Abgeordnete. - Meine Damen und Herren, der Geräuschpegel ist so hoch, dass es selbst mir, obwohl ich nahe an der Rednerin sitze, kaum möglich ist, diesen wissenschaftlichen Ausführungen zu folgen.

(Lachen bei der PDS)

Deshalb muss ich darum bitten, dass es im Raum etwas leiser ist.

(Frau Wiechmann, FDVP: Was gibt es da zu la- chen? Das möchte ich einmal wissen!)

Die Forscher gingen davon aus, dass ungefähr 10 % der Süchtigen in eine lebensbedrohliche Abhängigkeit gerieten, die für 3 bis 5 % tödlich endete. Der Personenkreis, der in eine stationäre Therapie gelange, sei nach Schätzungen kaum größer. Höchstens jeder zehnte Fixer gelange in eine auf Drogentherapie spezialisierte Institution, so die Forscher.

Wo aber bleibt dann die Mehrzahl der Fixer, die nicht am Ende der angeblichen Einbahnstraße „Abhängigkeit/ Therapie/Tod“ vorzufinden sind? Opiatkonsumenten, die

älter als 29 Jahre waren, waren kaum anzutreffen. Gäbe es aber keine weiteren Ausgänge aus der Sucht, so müssten heute in Berlin Hunderte von Fixern dieses Alters leben. Daher liegt der Schluss sehr nahe, dass ein erheblicher Teil der Fixer den Heroingebrauch von sich aus aufgibt.

In Anlehnung an die Feststellungen in den USA rechnen die Autoren damit, dass ein Herauswachsen aus der Szene ab einem Alter von 25 Jahren recht häufig geschieht. Als Grund für dieses Herauswachsen geben die Forscher unter anderem an, dass der Heroinkonsum insbesondere ein Problem eines Abschnittes der Jugend sei und häufig nach Überwindung jugendspezifischer Belastungen beendet werde.

Konkrete Zahlen über die mögliche Größe der Umwälzung selbst organisierter Aussteiger und den genauen Prozess vermag die Studie aufgrund ihrer Forschungsanlage nicht zu geben. In ihrer These bezieht sich die Studie des Herauswachsens daher auf eine schwedische Studie. Die schwedischen Forscher entwarfen einen idealtypischen Abhängigkeitsprozess in sechs Phasen innerhalb des zeitlichen Fortgangs der Abhängigkeit, drei Phasen hin zur Abhängigkeit und drei Phasen hin zum Ausstieg:

Erste Phase: experimentierender Gebrauch,

zweite Phase: Gewöhnung,

dritte Phase: Abhängigkeit,

vierte Phase: Doppelwertigkeit zur eigenen Lebenssituation,

fünfte Phase: Aufsuchen von Hilfe,

sechste Phase: Selbständigkeit/Drogenfreiheit.

Dabei ergab der Vergleich der Bedeutung professioneller und nichtprofessioneller Hilfe für den Ausstiegsprozess der Interviewten einen überwältigenden Überhang zugunsten der nichtprofessionellen Hilfe, und zwar in der Reihenfolge Verwandte, gefolgt von drogenfreien Freunden und schließlich gefolgt von drogenfreien Partnern.

Nach den mit den Angaben der Technischen Universität korrespondierenden Ergebnissen der schwedischen Forscher beginnen ab der Phase vier und fünf des schwedischen Modells die Ausreifungsprozesse, wobei die Rolle von Freunden und Verwandten, sprich von sozialen Gegebenheiten, in diesen Prozessen als sehr hoch eingeschätzt wird.

All diese Angaben verbleiben allerdings - ich wiederhole dies - eher auf einem hypothetischen Niveau. Die These von der Existenz selbst organisierter Aussteiger war damit in Deutschland erstmalig wissenschaftlich formuliert worden. Die inhaltliche Ausgestaltung obliegt jedoch dem Land, das mit einer entsprechenden wissenschaftlichen Absicherung einen weiteren Weg in der Drogenbekämpfung gehen könnte.

Da auch Lange mit seiner Studie im Jahr 1983 zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Studie der Technischen Universität Berlin kam, dürfte es nicht nur angezeigt, sondern zwingend sein, den Ausreifungsprozess aus der Drogenszene staatlicherseits zu fördern. Es ist bestimmt allemal billiger, Gutachten zu bezahlen und Wege für einen dauernden Ausstieg aus der Drogenszene zu eröffnen, als die Frühinvalidität und die lebenslange Therapie zu finanzieren.

Ich bitte Sie im Sinne unseres Antrages um Zustimmung und beantrage die Überweisung in die Ausschüsse für

Arbeit, Gesundheit und Soziales sowie für Gleichstellung, Kinder, Jugend und Sport. - Ich bedanke mich.

(Beifall bei der FDVP)

Vielen Dank, Frau Helmecke. - Im Ältestenrat ist dazu eine Fünfminutendebatte vereinbart worden. Angemeldete Debattenbeiträge aus den Fraktionen liegen mir nicht vor. Für die Landesregierung hat Frau Ministerin Dr. Kuppe um das Wort gebeten. Bitte, Frau Ministerin.

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr geehrten Herren und Damen Abgeordneten! Bevor ich auf den Antrag der FDVP zu sprechen komme, schicke ich Folgendes voraus: Wie in Studien und auf Fachtagungen immer wieder herausgearbeitet wurde, weise ich auch heute darauf hin, dass illegale Drogen in Sachsen-Anhalt eine wesentlich geringere Rolle spielen als legale Drogen. Nikotin und Alkohol sind die Drogen Nummer eins in ganz Ostdeutschland.

Zwei von meinem Haus in Auftrag gegebene Gutachten zu den Themen „Konsummuster illegaler Drogen in Sachsen-Anhalt“ und „Moderne Drogen und Suchtprävention“ - die Modrus-Studie Teil 2 - werden demnächst vorliegen und Grundlage für die Weiterentwicklung der Drogenpolitik des Landes sein.

Nun zum Antrag selbst. Es gibt in Sachsen-Anhalt auch Heroinkonsumentinnen und -konsumenten. Es wird auch Versuche geben, eigenständig und ohne professionelle Hilfe von der Sucht loszukommen. Es wird vielleicht auch Erfolge dabei geben. Aber ein kalter Entzug auf eigene Faust, ohne professionelle Hilfe und gegebenenfalls medikamentöse Unterstützung ist nach aller Erfahrung nur sehr schwer durchzustehen und bedeutet noch lange nicht, dass auch die psychische Abhängigkeit behoben ist. Eine Entwöhnungsbehandlung und sozialtherapeutische Begleitung wird in aller Regel zusätzlich erforderlich sein.

In den alten Bundesländern sind in der Vergangenheit Untersuchungen zum Selbstausstieg durchgeführt worden. Was ich ausdrücklich betonen will, ist die Tatsache, dass dieser Prozess des Selbstausstiegs, dass dieser Ausreifungsprozess, das so genannte Maturing-out in der Regel zehn bis zwanzig Jahre dauert.

In Sachsen-Anhalt wird seit Mitte der 90er-Jahre Heroinkonsum registriert. Verglichen mit den Ergebnissen der Untersuchungen in Westdeutschland kann man sagen, dass hiesige Konsumentinnen und Konsumenten noch in einer Anfangsphase sind, praktisch in der Probierphase. Der Prozess, der erfahrungsgemäß notwendig ist, um einen selbst organisierten Ausstieg zu beginnen, dürfte also noch gar nicht abgeschlossen sein.

Viele Faktoren können zu einer Sucht führen. Unterschiedlich sind auch die Anlässe und Umstände, unter denen der Wunsch entsteht, sich aus einer Sucht zu befreien. Viele äußere Einflüsse tragen dazu bei, im Kampf gegen die Sucht erfolgreich zu sein. In diesem Zusammenhang sind das familiäre Umfeld und das Vorhandensein von Freunden und Ansprechpartnern zu nennen, aber auch eine Arbeits- oder Lehrstelle kann hilfreich sein oder auch eine neue Lebenspartnerschaft. Am allerwichtigsten ist allerdings der eigene Wille. Ohne diesen

Willen funktionieren weder der selbst organisierte Ausstieg noch ein Entzug mit professioneller Hilfe.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wissenschaftliche Untersuchungen werden für eine effektive Suchtprävention und Suchtkrankenhilfe weiterhin die Grundlage für die Ziel- und Prioritätensetzung und für Handlungskonzepte der Landesregierung bilden. Ich wies eingangs darauf hin.

Ein Gutachten zum Thema selbst organisierter Ausstieg aus der Heroinabhängigkeit halte ich allerdings aufgrund der geringen Zahl von Heroinkonsumentinnen und -konsumenten zum gegenwärtigen Zeitpunkt für wenig sinnvoll. Es wäre aus wissenschaftlicher Sicht auch gar nicht tragfähig, weil wir hierfür keine ausreichende Klientel haben.

Wir sollten uns demgemäß weiterhin vor allem auf Suchtprävention, aber auch auf die professionelle Suchtkrankenhilfe, auch mit niedrig schwelligem Einstieg, konzentrieren und unsere Kräfte und Finanzen dafür gezielt einsetzen. - Ich bitte daher, den Antrag abzulehnen.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS)

Vielen Dank. - Meine Damen und Herren! Ich sage noch einmal: Angemeldete Redebeiträge von den anderen Fraktionen liegen nicht vor. Ich frage: Gibt es noch Wortmeldungen? Wenn das nicht der Fall ist, hat jetzt Frau Helmecke die Möglichkeit, zu den Ausführungen der Frau Ministerin Stellung zu nehmen.

(Unruhe)

- Ich bitte noch einmal um mehr Ruhe im Saal; ich kann das nicht durchgehen lassen. Wir versuchen jetzt gemeinsam den selbst organisierten Ausstieg aus der Schwätzerei.

(Zustimmung)

Bitte schön, Frau Helmecke.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie sagten, die Drogenproblematik sei um 10 % gestiegen. Eine steigende Tendenz der Drogenproblematik registriert auch die Suchtberatungsstelle „Aufbruch“. „Jahr für Jahr steigt die Zahl der Hilfesuchenden stetig an“, sagte der Suchtberater. Herr Minister Püchel sagt hierzu: