Protocol of the Session on December 15, 2000

Antrag der Fraktion der FDVP - Drs. 3/3999

Der Abgeordnete Herr Wolf führt in das Thema ein.

(Zuruf von der FDVP)

- Ich bitte um Nachsicht. Bei mir ist es so angegeben worden. Dann spricht die Abgeordnete Frau Wiechmann. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir bitte zu Anfang ein Zitat, das für diese Debatte sicherlich aufhellend wirkt:

„Die Nazis brauchten die Juden, die Kommunisten den Klassenfeind, die heutigen Rechtsradikalen die Ausländer, und wir alle brauchen die Rechtsradikalen, um von der wachsenden Fehlentwicklung der Gesellschaft und dem eigenen Anteil daran abzulenken.“

Das schrieb Hans-Joachim Maaz im Sommer dieses Jahres. Er, der sich als ausgewiesener Psychotherapeut nicht nur mit individuell geprägten Krankheitsbildern auskennt, hat in vielfältiger Weise die Krankheitssymptome unserer Gesellschaft beschrieben.

Das Eingangszitat belegt auch die Gültigkeit von politischen Krankheitsbefunden, einer „Neurasthenie der Korrektheit“, die jedes kritische Bedenken ausschaltet und in eine neurotische Selbstanklage einer ganzen Gesellschaft mündet.

Meine Damen und Herren! Wie sonst ist zu erklären, dass der tragische Tod eines sechsjährigen Jungen im Jahr 1997 in der sächsischen Kleinstadt Sebnitz heute ein ganzes Land aufwühlt und auch polarisiert?

Wie sonst ist zu erklären, dass fein und grob gesponnene Verschwörungs- und Mordtheorien, in die Welt gesetzte Gerüchte, Halbwahrheiten und offensichtliche Lügen als richtig, als wirklich und zutreffend hingenommen werden, ohne den geringsten Zweifel daran zuzulassen?

Meine Damen und Herren! Der Tod eines Menschen ist immer tragisch, löst Schmerz und Trauer bei jenen Menschen aus, die davon betroffen sind. Das ist bei dem kleinen Joseph ebenso wie bei jedem anderen Kind, sei es an einer Krankheit, durch einen Unfall oder gar durch Tötung gestorben. Unser Mitgefühl gilt deshalb immer jenen, die einen Menschen auf solch tragische Weise verloren haben.

Wenn aber, wie in Sebnitz geschehen, aus dem tragischen Tod eines kleinen Jungen politisches Kapital geschlagen wird, dann ist das nicht Ausdruck einer spontanen oder affektiven Handlung, sondern dann ist das Ausdruck einer politischen Perversion in dieser Gesellschaft.

(Zustimmung bei der FDVP)

Dann ist das Ausdruck einer politischen Handlungsstrategie, die, über einen längeren Zeitraum angewandt, nun zum offenen und unverhüllten Durchbruch gelangte. Nein, meine Damen und Herren, es geschah nicht spontan, sondern es war auch das Resultat einer geplanten Kampagne, eines verkommenen politischen Missbrauchs der Macht der Medien und deren willkommener Nutzung durch die Politik in Deutschland.

Der Ablauf der tragischen Ereignisse in Sebnitz ist nach bisherigen Ermittlungen und der Rekonstruktion der Umstände deutlicher und erklärbarer geworden. Im Trüben, nur in den Konturen sichtbar sind jedoch die Verursacher der politischen Treibjagd, die mit ihrer Berichterstattung, mit ihrer Art von Aufklärung eine Stadt, ein Land beschuldigen und stigmatisieren, weil dies Auflagenerhöhungen bringt und damit Gewinn abwirft. Diese Art von Journalismus wird mit dem verächtlichen Begriff des „Schweinejournalismus“ nur abgemildert charakterisiert.

Meine Damen und Herren! Der „Stern“ schrieb in der vorigen Woche unter dem Titel „Die unheimliche Macht“ über die Blöd-Zeitung, die „Bild“-Zeitung:

„Mehr als elf Millionen Deutsche lesen 'Bild', vom Kanzler bis zur Klofrau. 'Bild' entscheidet über Karrieren und Abstürze. Die Macher bestimmen, worüber die Republik redet.“

Wenn dann führende Politiker resigniert feststellen, dass gegen „Bild“ nicht regiert werden kann, dann wird sichtbar, dass sich dieser Journalismus schon längst als Macht und Macher in der Politik festgesetzt hat.

Wie Recht hatte doch bereits, meine Damen und Herren, Oscar Wilde vor mehr als 100 Jahren, als er über diesen Journalismus urteilte - ich darf zitieren -:

„Jener lächerliche Journalismus, der sich einen Platz auf dem Richterstuhl anmaßt, wo er doch auf der Anklagebank sitzen sollte.“

Das hindert aber den Großteil der Medien heute nicht daran, in das Geheul der vorgegebenen Meinungsmache einzustimmen, sich einzureihen in die Schar jener, die dem politischen Missbrauch ihrer Meinungsmacht frönen. Es zeigt sich, dass jeder vernünftig Überlegende, sachlich und argumentativ Handelnde sofort verketzert, mundtot gemacht und politisch durch die Scharfmacher und Treibjäger in den obligatorischen Talkshows denunziert und zum Abschuss freigegeben wird.

Meine Damen und Herren! Man entblödet sich nicht einmal, im „Neuen Deutschland“ Kurt Biedenkopf der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus zu bezichtigen. Das kommt ausgerechnet von jener verkommenen ideologischen Ausrichtung mit übernommenen Gulag-Erfahrungen, die für ihre politischen Gegner, ihre erklärten Feinde, in geplanten Internierungslagern der DDR selbst die physische Vernichtung einkalkulierte. Die Nachfolger - das wissen wir alle - und linksextremistischen Verfechter dieser menschenverachtenden kommunistischen

Ideologie sitzen heute in diesem Parlament und sind in die rot-rote Machtkungelei eingebunden.

Das politische Ziel des Missbrauchs eines kleinen toten Jungen scheint erreicht worden zu sein, wenn die „Welt“ schreibt - ich darf zitieren -:

„Dass eine moralisch in Selbstgefälligkeit versackte Gutmenschenschaft den Ostdeutschen unbesehen alle Schandtaten zutraut, die neuen Länder als eine wirre Gegend Entwurzelter betrachtet, in denen Horden von Rechtsradikalen das Sagen haben, ist symptomatisch. Die Herabwürdigung ostdeutscher Befindlichkeiten, die zu hohlen Ritualen degenerierte Schuldlitanei der historischen Rückbetrachtung, all das zeugt von einem gerüttelt Maß an gesellschaftlicher Heuchelei.“

Meine Damen und Herren! Adressat solcher enthüllenden Worte ist auch diese Landerregierung Dr. Höppners, dieses rot-rote Kungelbündnis mit seinen die Bevölkerung Sachsen-Anhalts deklassierenden Schuldzuweisungen und seinen Ergebenheitsadressen an einen unheilvollen, zerstörerischen Zeitgeist.

Die Kluft zwischen den Menschen in Deutschland ist größer als je zuvor. - Danke sehr.

(Beifall bei der FDVP)

An dieser Stelle hat Herr Minister Dr. Püchel um das Wort gebeten. Bitte, Herr Minister.

Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Juni 1997 ist in einer sächsischen Kleinstadt ein Unglück geschehen. Ein Junge kam in einer Badeanstalt ums Leben; die Umstände des Todes sind bis heute nicht geklärt. - So weit die uns allen bekannten Fakten.

Als Mitglied der Landesregierung von Sachsen-Anhalt ist es nicht meine Aufgabe, zu konkreten Geschehnissen, zur Arbeit von Kommunalverwaltung, Justiz und Polizei in einem anderen Bundesland Stellung zu nehmen oder diese gar zu bewerten. Außerdem sind die Ermittlungen zu diesem Fall noch nicht abgeschlossen, was auch einmal betont werden muss.

Was ich tun kann, ist, der Familie des verstorbenen Kindes mein Beileid auszusprechen. Jeder, der in seiner Familie schon Ähnliches erleben musste, kann vielleicht das Leid der Angehörigen ermessen.

Meine Damen und Herren! Im Übrigen will ich die Debatte nutzen, um für Fairness zu plädieren, für Fairness in der Debatte über den Rechtsextremismus in den neuen Ländern, für Fairness im Umgang zwischen Ost und West in dieser Frage und nicht zuletzt für Fair- ness in der Berichterstattung in den Medien.

(Zustimmung von Herrn Dr. Sobetzko, CDU)

Zur Fairness gehört zuerst ein selbstkritischer Umgang mit uns selbst. Fakt ist, wie Richard Schröder es am 1. Dezember in der „FAZ“ formulierte, dass wir im Osten eine erschreckend verbreitete Ausländerfeindlichkeit zu beklagen haben. Man muss sich nur repräsentativ durchgeführte Umfragen ansehen, die dieses auch bestätigen: Die neuen Bundesländer mit einem sehr niedri

gen Ausländeranteil weisen die höchste Ausländerfeindlichkeit auf.

Nur wenn sich in den neuen Ländern ein wirkliches Problembewusstsein entwickelt, werden unsere Bemühungen gegen den Rechtsextremismus erfolgreich sein können. Problembewusstsein ist Voraussetzung dafür, dass das von der Landesregierung verfolgte Handlungskonzept für ein weltoffenes und demokratisches Sachsen-Anhalt oder viele andere Initiativen tatsächlich nachhaltige Wirkung zeigen.

Eine selbstkritische Auseinandersetzung wird uns Ostdeutschen erschwert, wenn die westdeutsche Öffentlichkeit vielfach dem Drang nicht widerstehen kann, ständig belehrend über das Problem Rechtsextremismus in Ostdeutschland zu urteilen.

Der Pawlow‘sche Reflex folgt prompt: Rostock-Lichtenhagen ist überall, auch in Mölln und Solingen, schallt es in den Leserbriefen aus ostdeutscher Seele. Die heutige Aktuelle Debatte ist übrigens auch diesem Reflex geschuldet.

Diese Befindlichkeit hilft uns aber bei der Lösung des Problems nicht weiter - die antragstellende Fraktion übrigens auch nicht. Sie ist Teil dieses Problems in Sachsen-Anhalt.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS)

Meine Damen und Herren! Wir müssen diesen Pawlow‘schen Reflex überwinden lernen und konsequent und mit Augenmaß vor der eigenen Haustüre kehren. Einfacher wäre dies natürlich, wenn in den alten Ländern - ich zitiere noch einmal Richard Schröder - „die westdeutsche Inländerfeindlichkeit überwunden würde und die neuen Länder fair mit ihren Stärken und Schwächen und möglichst vorurteilsfrei beurteilt würden“.

Für die Bekämpfung des Rechtsextremismus ist es sehr wichtig, den richtigen Weg zu finden. Weder Verharmlosung noch Übertreibung sind der Sache dienlich. „Die hysterische Republik - zwischen Verharmlosung und Übertreibung“, so titelte der „Spiegel“ zutreffend in der letzten Woche. Lassen wir uns von keiner Hysterie anstecken; erledigen wir unsere Aufgaben ruhig und sachlich im Interesse des Allgemeinwohls.

In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend an die Verantwortung der Medien appellieren. Ich habe den „Spiegel“ bewusst namentlich genannt, weil er die rühmliche Ausnahme war und weil er die ungeprüften Thesen nicht als Fakten verkaufte. Viele peinliche Erklärungsversuche anderer hoch angesehener Redaktionsstuben wären uns erspart geblieben, wenn Behauptungen vor ihrer Veröffentlichung überprüft worden oder wenigstens als solche bezeichnet worden wären.

Meine Damen und Herren, verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich will und kann hier keine Medienschelte betreiben. Die Berichterstattung hätte nicht eine solche Dynamik gewonnen, wenn wir alle in Ost und West nicht allzu schnell bereit gewesen wären, sie für plausibel zu halten.

Meine Damen und Herren! Die ersten Berichte über Sebnitz wurden gerade am Tage der letzten Innenministerkonferenz veröffentlicht. Auf der Pressekonferenz, die ich mit meinen Kollegen Schily, Beckstein und Behrens bestritten habe, wurde der Bundesinnenminister nach den Ereignissen von Sebnitz befragt. Er gab die einzig richtige Antwort, nämlich man müsse den Fall prüfen, bevor man sich dazu äußern könne. Hätten dies

alle beherzigt, unter anderem auch Medien und Politiker, würden wir heute diese Debatte nicht zu führen brauchen. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei der PDS - Zustimmung bei der FDVP)

Vielen Dank, Herr Minister. - Wir setzen die Aktuelle Debatte fort. Für die CDU-Fraktion spricht der Abgeordnete Herr Dr. Bergner.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, ich gebe Ihnen Recht: Die Ermittlungen in dem Fall sind noch nicht abgeschlossen. Allein dieser Umstand sollte uns zur Zurückhaltung mahnen. So viel steht jedoch fest: Die Vorwürfe gegen beschuldigte Personen haben sich als völlig ungerechtfertigt herausgestellt.

Darüber hinaus ist eine Region der neuen Bundesländer in einer Weise stigmatisiert worden, die in ihren Konsequenzen als geradezu unerträglich bezeichnet werden muss. Insofern sollte man sich auch jetzt schon die Frage stellen: Was sind die Hintergründe, die dazu führten, dass eine solche fehlgeleitete Kampagne überhaupt zustande kommen konnte?