Protocol of the Session on December 15, 2000

Erste Beratung

Verbesserung der Hilfen für Demenzkranke in Sachsen-Anhalt

Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 3/3941

Änderungsantrag der Fraktion der PDS - Drs. 3/4017

Der Antrag der CDU-Fraktion wird von der Abgeordneten Frau Liebrecht eingebracht.

Vielleicht kommen im Laufe der Zeit noch ein paar Abgeordnete mehr.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland keine ausgewogene Bevölkerungspyramide. Die Bevölkerungsentwicklung zeigt, dass die Menschen immer älter werden.

Die Geburtenrate wird voraussichtlich auch in den neuen Bundesländern weiter sinken. Das Land Sachsen-Anhalt hat gerade bei der jungen Bevölkerung eine zunehmende Abwanderungsrate zu verzeichnen. Diese Faktoren sind für eine gesunde Entwicklung der Bevölkerungsstruktur kontraproduktiv.

In unserem Land müssen daher immer weniger junge Menschen immer mehr alte Menschen versorgen. Dies wird absehbar ein finanzielles Problem für die Renten- und Pflegeversicherungsträger.

Hinzu kommt ein personelles Problem. Die Familienstrukturen zerbrechen, was sich negativ auf die Betreuung und die Versorgung im familiären Bereich auswirkt. All dies wird dazu führen, dass immer mehr ambulante und stationäre Pflege in Anspruch genommen werden wird.

Die Einführung der Pflegeversicherung durch die alte, CDU-geführte Bundesregierung war eine soziale Tat. Inzwischen ist aber eine deutliche Zunahme der Leistungen im Pflegebereich zu verzeichnen. So bleibt es nicht aus, dass die Pflege heute überwiegend - wenn nicht fast ausschließlich - durch professionelle Pflegepersonen erfolgt.

Die Rahmenbedingungen für die Pflege sind einem Wechsel unterworfen und müssen sich gestiegenen Anforderungen stellen. Nach Auffassung der CDU-Fraktion muss daher ein ganzes Maßnahmenbündel auf den Weg gebracht werden.

Derzeit leben in Deutschland neun Millionen Menschen, die älter als 60 Jahre sind. Diese Zahl wird bis zum Jahr 2030 auf 12,12 Millionen ansteigen. Der Anteil der Hochbetagten wird bis dahin um 125 % steigen. Allein aufgrund dieser Fakten wird sich die Häufigkeit der psychiatrischen Erkrankungen erhöhen. Dadurch gewinnt die gerontopsychiatrische Versorgung zunehmend an Bedeutung. Sie wird in naher Zukunft eine der bedeutendsten Aufgaben der psychiatrischen Versorgung insgesamt sein.

Dazu muss man wissen, dass psychische Erkrankungen im Alter nicht von vornherein als unvermeidbare, nicht therapiefähige Alterserscheinungen anzusehen und hinzunehmen sind. Viele dieser Störungen sind behandelbar, sofern im Vorfeld eine gute und richtige Diagnostik erfolgt.

Aufgaben der Gerontopsychiatrie sind die Diagnostik, die Therapie, die Rehabilitation und die Betreuung der Patienten, die jenseits des 65. Lebensjahres erstmals psychisch erkranken. Zur Gerontopsychiatrie gehört auch die weitere Behandlung und Betreuung von chronisch psychisch Erkrankten, deren Krankheitsbild sich gefestigt hat und so bis ins hohe Lebensalter bestehen bleiben wird. Das Erkrankungsrisiko hinsichtlich demenzieller Prozesse steigt von ca. 2 % bei 65-Jährigen auf 30 bis 40 % bei den 85-Jährigen rapide an.

Die Behandlung und die Betreuung dieser Patienten ist wichtig und wesentlich; aber dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass die Gerontopsychiatrie nicht allein auf Demenzkranke zu reduzieren ist. Nicht zu vernachlässigen sind der Bereich der depressiven Erkrankungen sowie die neurotischen und psychoreaktiven Störungen.

Nun könnten Sie fragen, warum wir den Antrag auf die Verbesserung der Hilfen für Demenzkranke beschränkt haben. Die Gerontopsychiatrie ist ein sehr weites Feld. Die Demenz ist der größte Bereich der

Gerontopsychiatrie. Bei der Demenzerkrankung ist der Alzheimertyp am häufigsten vertreten. Deshalb gewinnt das Thema der Demenzerkrankung und der Hirnleistungsstörungen im Alter zunehmend an Bedeutung.

Demenz, Dementia im Lateinischen, bedeutet so viel wie „ohne Geist“ und ist eine globale Störung der höheren Hirnfunktionen, die nicht durch andere psychische Erkrankungen oder Bewusstseinstörungen bedingt ist und meist chronisch verläuft. Demenzkranke leiden unter einer Störung des Gedächtnisses. Dazu gehört die Unfähigkeit, Neues zu lernen und gespeicherte Funktionen aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen.

Mit dem Abbau intellektueller Leistungen erfolgt zunehmend die Unfähigkeit, Entscheidungen treffen zu können. Es wird immer schwieriger, sich zu verständigen und alltägliche Dinge sinnvoll auszuführen. Dieser Abbauprozess des Gehirns zieht die komplette Persönlichkeit in Mitleidenschaft und führt zu einer Veränderung der Persönlichkeit.

Der Verlauf einer Demenz wird durch zahlreiche Faktoren bestimmt und stellt kein einheitliches Krankheitsbild dar. Deshalb ist es wichtig, dass eine differenzialdiagnostische Zuordnung erfolgt, weil die Ursache der Demenz über die Therapie entscheidet. Denn Demenzen, die auf einer definierten Erkrankungsursache beruhen, sind behandelbar und können reversibel sein.

Leider entspricht die derzeitige Versorgungsqualität nicht den Anforderungen der Demenzkranken und ihrer Angehörigen. Die Diagnose Demenz bedeutet für die Betroffenen, dass sie infolge des zunehmenden Gedächtnisverlustes auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Gleichzeitig verursacht Demenz große psychische und physische Belastungen für den Patienten, ebenso für die Familienangehörigen und für die Betreuungspersonen.

Sofern heute noch Angehörige pflegen, bedeutet dies eine enorme Umstellung, weil der Tagesablauf innerhalb der Familie neu eingeteilt werden muss. Nicht selten muss bei fortschreitender Erkrankung eine Betreuung rund um Uhr abgesichert sein. Das heißt erhöhte Anforderungen an die Pflegepersonen, die insbesondere Unterstützung brauchen hinsichtlich der Information über die Erkrankung sowie Beratung bezüglich der Pflege.

In diesem Zusammenhang ist ein verstärktes Problembewusstsein der Gesellschaft hinsichtlich der Demenz, eine verbesserte Akzeptanz von Demenzpatienten und eine Stärkung der Pflegekraft der betroffenen Familien erforderlich.

Obwohl mit der Pflegeversicherung eine Lücke in unserem Sozialsystem geschlossen worden ist und sie ein wichtiger Faktor zur Absicherung der Lebensrisiken gerade im Alter ist, weist die Pflegeversicherung in Bezug auf Demenzkranke einen Mangel auf. Es wird lediglich eine Grundversorgung abgedeckt: satt, sauber, still.

Die Mehrzahl der alten Menschen wird nur durch den Hausarzt behandelt. Häufig wird das Problemfeld Demenz nicht differenziert erfasst und eine entsprechende Diagnostik nicht angeboten bzw. eingeleitet. Hier muss eine wirksame Verbesserung dadurch erreicht werden, dass den Hausärzten und dem Pflegepersonal eine gerontopsychiatrische Zusatzqualifikation ermöglicht wird.

Um dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ gerecht zu werden, ist unbedingt eine aktivierende Pflege erforderlich, die Maßnahmen der Rehabilitation und der Förderung der Kommunikation beinhalten muss. Neben dem

Hilfebedarf ist der Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf zu berücksichtigen.

Leistungen der aktivierenden Pflege sind in der Pflegeversicherung nicht enthalten. Deshalb ist es erforderlich, dass der Begriff der Pflegebedürftigkeit im Hinblick auf Demenz neu definiert wird. Hier ist der bundespolitische Einsatz der Landesregierung gefragt. Das Pflegeversicherungsgesetz muss bezüglich einer besseren Betreuung für gerontopsychisch erkrankte pflegebedürftige Menschen nachgebessert werden.

Die Praxis zeigt, dass es zudem problematisch ist, wenn der Medizinische Dienst der Krankenkassen bei der Bestimmung des individuellen Pflegebedarfs häufig nur eine Momentsituation erfassen kann, die nicht unbedingt dem tatsächlichen Krankheitsbild entsprechen muss.

Darüber hinaus muss das Angebot psychiatrischer Tageskliniken für Demenzkranke in Sachsen-Anhalt mit spezifischen Behandlungsangeboten wie Beschäftigungstherapie und Physiotherapie ausgebaut werden.

Für zu Hause gepflegte Demenzkranke und für ihre pflegenden Angehörigen sind Tagespflegeeinrichtungen von besonderer Bedeutung. Für den Pflegebedürftigen bedeutet die Tagespflege durch ihre aktivierenden und rehabilitativen Elemente ein Mehr an Lebensqualität. Für die pflegenden Angehörigen bringt die Tagespflege eine dringend notwendige Entlastung.

Trotz dieser Vorzüge bleibt die Tagespflege derzeit noch weit hinter den Möglichkeiten als Ergänzung zur häuslichen Pflege zurück.

Nach einem Vorschlag des Bundesgesundheitsministeriums soll die Situation der Demenzkranken und deren Angehörigen durch die Inanspruchnahme eines Tagespflegeangebotes einmal pro Woche verbessert werden. Dabei sollte geprüft werden, ob neben der Tagespflege sinnvolle weitere Leistungsangebote insbesondere für die Entlastung der häuslichen Pflege möglich sind. Die Förderung der Selbsthilfe und von Beratungsangeboten für pflegende Angehörige sollte hier mit eingeschlossen werden.

In Anbetracht der zu erwartenden Zunahme von gerontopsychiatrischen Problemen ist es unabdingbar, dass Alteneinrichtungen sich auf diese Situation einstellen müssen. Dem Risiko der Gettoisierung von Demenzkranken muss entgegengewirkt werden. Das erfordert kleinere, überschaubar strukturierte Funktionseinheiten in den Heimen bzw. in den gerontopsychiatrischen Fachabteilungen.

In diesem Zusammenhang sollte geprüft werden, inwieweit Pflegeheime auf diesen Personenkreis eingestellt sind und ob die Personalausstattung den Bedürfnissen schwer demenzkranker Menschen gerecht wird.

Nach Aussagen des vorliegenden Psychiatrieberichtes des Landes Sachsen-Anhalt ist derzeit - ich zitiere, Frau Präsidentin - „die Betreuung in den Heimen weitgehend undifferenziert, fachlich unzulänglich gestützt und von Personal- und Geldknappheit gekennzeichnet“. Hierdurch wird deutlich, dass in Sachsen-Anhalt ein dringender Handlungsbedarf gegeben ist.

Ein weiterer Schritt in die richtige Richtung wäre die Einrichtung eines Lehrstuhls für Gerontopsychiatrie. Mit diesem Lehrstuhl könnte das Land die bereits bestehende, weltweit integrierte Hirnforschung der Magdeburger Universität ausbauen. Zudem ist er als ein positives Signal auf das Meinungsbild über Demenz notwendig. Denn

es ist festzustellen, dass die psychiatrische Krankenpflege nicht genügend Anerkennung findet und demzufolge der Umfang des wirklichen Bedarfs nicht richtig gesehen wird.

Wir bitten Sie, den Antrag der CDU-Fraktion in den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales zu überweisen, damit wir gemeinsam über diese vielschichtige Problematik beraten können. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Danke, Kollegin Liebrecht, für die Einbringung.

Meine Damen und Herren! Es ist eine Debatte mit fünf Minuten Redezeit je Fraktion vereinbart worden in der Reihenfolge PDS, DVU-FL, SPD, FDVP und CDU. Als erster Rednerin erteile ich jedoch für die Landesregierung Ministerin Frau Dr. Kuppe das Wort.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten Herren und Damen Abgeordneten! Die Intention des Antrages der CDU-Fraktion zur Verbesserung der Hilfen für Demenzkranke geht sicherlich in die richtige Richtung. Frau Liebrecht, Sie haben die Probleme der betroffenen Kranken und ihrer Familien sehr ausführlich dargestellt.

Es ist auch das Anliegen der Landesregierung, auf diesem Feld, bei der Betreuung und Versorgung Demenzkranker in Sachsen-Anhalt, zu Verbesserungen zu kommen. Die Defizite bestehen aber deutschlandweit. Es gibt Defizite in den gesetzlichen Grundlagen und in den Versorgungsstrukturen.

Wir haben über das Problem erst jüngst im Landtag mit Seniorinnen und Senioren unseres Landes diskutiert. Ich will nur auf einige wenige Punkte eingehen, weil ich der Meinung bin, dass wir dieses Thema ausführlich im Ausschuss beraten sollten.

Zu dem grundsätzlichen Punkt, den Sie in Ihrem Antrag ansprechen, Frau Liebrecht, dass der allgemeine Betreuungsbedarf als Kriterium bei der Bewilligung von Leistungen der Pflegeversicherung berücksichtigt werden soll, muss ich Bedenken äußern. Wenn das total geöffnet wird, geraten wir in der Pflegeversicherung in einen nicht mehr finanzierbaren Bereich. Wir müssen wissen, dass die Beiträge dann so abrupt steigen würden, dass das wirklich nicht mehr vertretbar wäre.

Deshalb müssen wir uns überlegen, was in diesem Bereich gesetzlich geregelt werden muss und welche untergesetzlichen Lösungsmöglichkeiten es gibt. Ich setze gerade in diesem Bereich auf untergesetzliche Lösungen jenseits der Pflegebedürftigkeitsdefinition.

Im Land Sachsen-Anhalt bestehen derzeit 21 psychiatrische Tageskliniken, in denen 526 Plätze vorhanden sind, die natürlich auch gerontopsychiatrischen Patientinnen und Patienten offen stehen. Diese teilstationären Angebote sind für mich wichtige Verknüpfungspunkte im Versorgungsnetz, das sich von der ambulanten medizinischen Versorgung über die häusliche Betreuung bis hin zur akutmedizinischen stationären Versorgung in den Krankenhäusern und bis zur Betreuung in den Pflege- einrichtungen ausbreitet.

Der Forderung nach der Vermittlung spezieller Kenntnisse in der Ausbildung der Pflegekräfte müssen wir nach

kommen. Dazu bietet das neue Gesetz über die Ausbildung in der Altenpflege eine sehr gute Grundlage. Es liefert einen rechtlichen Rahmen für eine bundeseinheitliche und sachgerechte Ausbildung in der Altenpflege. Die Bundesländer werden darauf achten, dass, wenn der Bund Ausführungsbestimmungen zum Altenpflegegesetz erlässt, auch Richtlinien darin erscheinen, die für die Inhalte der Ausbildung auch hinsichtlich des Umgangs mit demenziell Erkrankten die nötigen Grundlagen bieten.