Protocol of the Session on June 22, 2000

Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion hat sich die Diskussion über die SOG-Novelle alles andere als leicht gemacht. Wir sind der Auffassung, daß es zu kurz gegriffen wäre, wenn Freiheit ausschließlich als Schutz vor staatlichen Eingriffen verstanden würde.

(Herr Dr. Bergner, CDU: Richtig!)

Es geht im 21. Jahrhundert um den Schutz des einzelnen durch den Staat vor Übergriffen Dritter. Die Menschen wollen neben dem Schutz vor dem Staat vor allem auch den Schutz durch den Staat.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU - Zustim- mung bei der FDVP)

Meine Damen und Herren! Ich bitte Sie, die Beschlußempfehlung des Innenausschusses in unveränderter Form anzunehmen. - Danke schön.

(Beifall bei der SPD)

Für die Fraktion der DVU-FL spricht der Abgeordnete Herr Büchner. Bitte, Herr Büchner.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der DVU-FL vertritt die Ansicht, daß der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Inneres in der vorliegenden Fassung nicht entsprochen werden kann. Wir möchten dies wie folgt begründen:

Erstens. In Nr. 15 der Beschlußempfehlung heißt es - ich zitiere mit Ihrer Genehmigung -:

„Rechtfertigen Tatsachen die Annahme, daß eine Person in einem bestimmten örtlichen Bereich eine Straftat von erheblicher Bedeutung nach dem Betäubungsmittelgesetz, nach den §§ 86, 86 a, 124 oder 130 des Strafgesetzbuches oder nach § 27 des Versammlungsgesetzes begehen wird, so kann ihr für die zur Verhütung der Straftat erforderliche Zeit verboten werden, diesen Bereich zu betreten oder sich dort aufzuhalten.“

Es handelt sich bei § 86 des Strafgesetzbuches - Verwendung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen -, bei § 86 a des Strafgesetzbuches - Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen -, bei § 130 des Strafgesetzbuches - Volksverhetzung - und bei § 27 des Versammlungsgesetzes um Delikte, die zwar nach geltendem Recht strafbar sind, aber sich nicht im Bereich von Straftaten bewegen, die anderen Personen oder Sachen einen Schaden zufügen.

Es ist sogar zweifelhaft, ob diese Paragraphen überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Im übrigen sind sie in ihrer Art weltweit einmalig. Sie sind weiterhin einseitig, weil sie sich lediglich auf nationale und nationalsozialistische Organisationen und Symbole beziehen. Beispielsweise wurden unter dem Symbol der roten Fahne mit Hammer und Sichel in der SU 50 Millionen Menschen umgebracht, ohne daß die Verwendung dieses Zeichens heute strafbar ist und verfolgt wird.

(Zustimmung von Herrn Miksch, fraktionslos)

Diese Delikte unter dem Begriff der Straftaten von erheblicher Bedeutung einzuordnen, hieße jedes normale Moral- und Rechtsempfinden auf den Kopf zu stellen. Es handelt sich hierbei nur um sogenannte Straftaten, die die Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit betreffen.

Wie hingegen die CDU-Fraktion in der Begründung zu ihrem Gesetzentwurf ganz richtig formuliert hat, soll mit der Verschärfung des Gesetzes vor allem Kriminalität mit internationalem Bezug besser bekämpft werden.

Dazu zählen KfZ-Verschiebung, Menschenhandel, Waffen- und Drogenhandel. Das beste Beispiel hatten wir vor kurzem in England.

Die genannten Paragraphen sind daher der Zielrichtung des Gesetzes völlig wesensfremd. Wir empfehlen, im zitierten Satz diese Paragraphen zu streichen und durch jene zu ersetzen, die die genannten Straftatbestände betreffen.

Zweitens. Die geplante Verschärfung des Gesetzes sowie die Erweiterung der Befugnisse der Polizei werden die zur Debatte stehenden Probleme auf die Dauer nicht wirkungsvoll bekämpfen können; denn die Ursachen werden nicht beseitigt. Es ist für jeden anhand von einschlägigen Statistiken nachvollziehbar, daß die genannten grenzüberschreitenden Straftaten zur Bildung mafioser Strukturen, aber auch die inländische Kriminalität in einem eindeutigen Zusammenhang mit der zunehmenden Öffnung unserer Grenzen, dem Wegfall der Zollbeschränkungen und Kontrollen sowie dem praktisch schrankenlosen Zuzug von Ausländern stehen.

Der Bürger kann dies schließlich wie immer ausbaden, nicht nur durch die direkte Konfrontation mit den Auswirkungen, sondern auch durch die zunehmende Verwendung von Steuergeldern für einen größeren Sicherheitsapparat. Die Polizei muß ebenfalls Leben und Gesundheit für die Auswirkungen dieser lebensfremden Politik einsetzen - siehe das Beispiel der drei toten Polizisten.

Wir empfehlen daher der Landesregierung, eine Ausarbeitung über die ursächlichen Zusammenhänge der von mir geschilderten Zustände vorzulegen, die als Grundlage für weitergehende Schritte dienen soll. Die Drogenkriminalität kann sich in diesem erschreckenden Ausmaß nur in einem Staat verbreiten, dessen Politi- ker dem Volke keinerlei Wertmaßstäbe, Ideale und Aufgaben vermitteln und vorleben.

Die einzigen Maßstäbe sind heute Geld und materielle Werte. Auch das ewige Gerede von Toleranz, Demokratie, Zivilcourage, Betroffenheit usw. kann unserer Zukunft - das ist die deutsche Jugend - nicht klarmachen, warum sie keine Drogen nehmen soll. Eher das Gegenteil ist der Fall.

Nur ein normales National- und Gemeinschaftsgefühl, eine wirkliche Volkskultur und ein gesundes Moralempfinden können den Bürgern verdeutlichen, daß sie ein Teil des Staates und der Volksgemeinschaft sind, die für sie da ist und für die sie sich ebenfalls einzusetzen haben.

Wenn natürlich die Politiker diese Wertmaßstäbe nicht selbst verkörpern, sondern sogar ablehnen und bekämpfen, braucht man sich nicht über die Reaktion aus dem Volk zu wundern. Verschärfte Gesetze und ein erhöhter Polizeieinsatz können daher nur als vorübergehende Maßnahme eingesetzt werden. Vor allem müssen gleichzeitig Maßnahmen ergriffen werden, die das Gemeinschafts- und Verantwortungsbewußtsein im Volke wieder wecken. Ohne letzteres ist alles nutzlos. Im übrigen verweise ich auf die Drs. 3/433. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Zustimmung von Herrn Kannegießer, DVU-FL)

Danke sehr. - Wir erwarten jetzt die Ausführungen des Abgeordneten Herrn Gärtner. Bitte, Herr Gärtner, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anläßlich der Einbringung des Gesetzentwurfs der Landesregierung habe ich festgestellt, daß über kaum ein Gesetzesvorhaben öffentlich so heftig debattiert wurde wie über die Verschärfung des Polizeigesetzes.

Leider war die parlamentarische Behandlung des Gesetzes der öffentlichen Diskussion meines Erachtens keinesfalls angemessen. Obwohl öffentlich mehrfach und begründet verfassungsrechtliche Bedenken geäußert wurden, ist der Ausschuß für Recht und Verfassung nicht mit diesem Gesetz befaßt worden. Das Protokoll der Expertenanhörung zu den Entwürfen liegt erst seit gestern vor und konnte somit auch in der eilig anberaumten Sitzung des Innenausschusses nicht berücksichtigt werden.

Offene Fragen aus dieser Anhörung und Hinweise des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes sowie des Datenschutzbeauftragten wurden nicht bzw. wenig berücksichtigt. Eine Berücksichtigung dieser Hinweise wäre um so notwendiger gewesen, da die Expertenanhörung wesentliche Bedenken gegen den Regierungsentwurf bestätigt hat.

Ich möchte es heute wiederholen: Mit diesem Gesetz werden Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern massiv eingeschränkt.

(Herr Dr. Daehre, CDU, lacht)

Mit der Einführung der Jedermann-Kontrollen kann staatliches und polizeiliches Handeln Bürgerinnen und Bürger treffen, ohne daß diese mit ihrem Verhalten einen Verdacht oder Anlaß geliefert hätten. Das ist eine Befugnis, die das Landesverfassungsgericht von Mecklenburg-Vorpommern bereits beanstandet hat.

Leider ist in der parlamentarischen Behandlung des Gesetzes dieses Urteil nicht bzw. nur unzureichend berücksichtigt worden. Daran ändert auch nichts, daß diese Jedermann-Kontrollen von sogenannten Lagebildern abhängig sein sollen, zumal nirgends zu erfahren ist, welchen Kriterien ein solches Lagebild zwingend genügen soll, um verdachtslose Kontrollen durchführen zu können.

Die Expertenanhörung hat darüber hinaus gezeigt, daß mit einer solchen Befugnis vor allem Straftaten und Ordnungswidrigkeiten aufgedeckt und verfolgt werden, die dem Kriterium grenzüberschreitender Kriminalität nicht genügen. Mit massenhaften verdachtslosen Kontrollen von Bürgerinnen und Bürgern fangen sie ein paar kleine Fische. Die Erfolge gegen die grenzüberschreitende Kriminalität sind allerdings unverhältnismäßig gegenüber dem Eingriff in Grund- und Freiheitsrechte.

Schon bei einer kleinen Tour über Bundesfernstraßen muß künftig jeder und jede damit rechnen, ohne An- laß und Verdacht mehrfach kontrolliert zu werden und auch als völlig Unbeteiligter in der polizeilichen Datenlandschaft zu landen. Da sich verdachtslose Kontrollen weit mehr als Eingriffe mit genauer tatbestandlicher Bindung auf das „Gespür“, also die subjektive Erfahrung von Polizisten beziehen, werden überproportional Randgruppen mit sogenanntem nichtbürgerlichen oder nichtdeutschen Erscheinungsbild betroffen sein. Der Kollege Rothe hat es vorhin wahrscheinlich nicht mitbekommen; er hat das Auto mit ausländischem Kennzeichen genannt und genau das Vorurteil, das an dieser Stelle besteht, bestätigt.

Zu Recht weisen Datenschutzbeauftragte auf die Tatsache hin, daß sich aus der Sicht der Betroffenen aus der anlaßlosen Kontrollunterworfenheit eine grundlegende Veränderung im Verhältnis Bürger/Polizei ergibt. In diesem Sinne führt die Befugnis zu Jedermann-Kontrollen auch für die Polizisten nicht zu mehr, sondern zu weniger Verhaltenssicherheit.

Eine ebenso unverhältnismäßige, vor allem Unbeteiligte treffende und grundrechtseinschränkende Befugnis ist die Videoüberwachung öffentlicher Plätze. Der Effekt zur Bekämpfung von Kriminalität ist nahe Null. Der eigentliche Effekt besteht im Überwachungsdruck für jedermann.

In der Anhörung ist darauf hingewiesen worden, daß es ein anerkannter Grundsatz des freiheitlichen Rechtsstaates ist, daß nicht jedermann als potentieller Verbrecher behandelt werden und übertriebene Anforderungen an die Sicherheit nicht die Freiheit der Mehrheit der Bürger beeinträchtigen dürfen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts.

Die Videoüberwachung öffentlicher Plätze erzeugt durch einen Verhaltensanpassungsdruck eine präventive Disziplinierung. Dieser Anpassungsdruck wird bereits durch die bloße Installierung einer Kamera erzeugt, wobei der einzelne nicht mehr überschauen kann, wann wer zu welchem Zeitpunkt und mit welcher Intensität beobachtet wird.

Im übrigen zeigen englische Untersuchungen, daß nach kurzfristigen Erfolgen die langfristige Wirkung der Videoüberwachung bei weitem nicht die ist, die deren Befürworter herbeireden wollen.

Schließlich sei darauf hingewiesen, daß auch der staatliche Überwachungsblick ebenso wie die Regelung zum Aufenthalts- und Betretungsverbot überproportional Randgruppen mit nichtbürgerlicher oder nichtdeutscher Erscheinung trifft.

Meine Damen und Herren! Die Verschärfung des Polizeigesetzes schränkt nicht nur gravierend Grund- und Freiheitsrechte ein, sie führt auch zu einer fatalen Eigendynamik. Indem Sie Bürgerinnen und Bürgern vorgaukeln, mit erweiterten Polizeibefugnissen Kriminalität bekämpfen zu können, geben Sie ein Versprechen, das Sie nicht halten können, ein Versprechen, das mit diesen Scheinaktivitäten ebensowenig zu halten ist, wie mit dem großen Lausch- und Spähangriff Erfolge zu erzielen waren.

Geradezu zwangsläufig müssen Sie dann in einigen Jahren die nächste Befugniserweiterung für die Polizei starten. Vielleicht sitzen wir in fünf Jahren hier und debattieren über die nächsten Verschärfungen. Professor Löbe hat in der Anhörung bereits einen Vorschlag hinsichtlich der maßvollen physischen Einwirkung auf Straftäter gemacht; man nennt es manchmal auch etwas anders.

Meine Damen und Herren! Die PDS wird sich einer solchen Entwicklung und einer solchen Logik widersetzen. Sicher ist nicht die überwachte Gesellschaft. Sicher kann nur ein freiheitlicher Rechtsstaat sein, der auf die gesellschaftliche statt ausschließlich auf die polizeiliche Bekämpfung von Ursachen und Bedingungen von Kriminalität setzt.

(Lachen und Unruhe bei der CDU - Herr Dr. Daehre, CDU: Unverschämtheit! - Weitere Zurufe von der CDU)

Die PDS lehnt den vorgelegten Gesetzentwurf ab. Ich erinnere nochmals an die Ausführungen des Landesdatenschutzbeauftragten, der die Auffassung vertreten hat, daß keiner der vorgelegten Entwürfe hinreichend verfassungskonform ist.

Ich beantrage namens der PDS-Fraktion eine nament- liche Abstimmung

(Herr Dr. Bergner, CDU: Jawohl!)

über Artikel 1 Nr. 7 - Videoüberwachung - sowie namentliche Gesamtabstimmung über den Gesetzentwurf. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS - Herr Dr. Daehre, CDU: Da- für stimmen wir gern!)

Danke sehr. - Meine Damen und Herren! Bevor ich der Abgeordneten Frau Wiechmann das Wort erteile, begrüßen wir Gäste der deutsch-finnischen Gesellschaft.

(Beifall im ganzen Hause)