Protocol of the Session on March 14, 2019

Heute sind Sie ganz anders herangegangen. Das akzeptiere ich.

Einer der Eingangssätze in der Medieninformation Ihres Ministeriums vom 14. Februar 2019 lautete: Die sächsische Strafverfolgungspraxis wird insgesamt verschärft. Straftaten sollen konsequent verfolgt und geahndet werden, selbst wenn es sich um sogenannte Bagatelldelikte handelt. Da verkündet der Minister, dass die Strafpolitik verschärft wird. Das entscheiden aber nun einmal Richterinnen und Richter und nicht der Minister, nicht die Politik.

(Zuruf von der CDU: Aber dieses Ziel kann man doch formulieren, Herr Kollege! – Patrick Schreiber, CDU: Da kennen Sie sich ja aus!)

Ja, man kann Ziele indoktrinieren. Wir haben hier gefragt und fragen weiter: Was heißt denn „sächsische Strafverfolgungspraxis“? Das frage ich, wie auch gestern schon. Was heißt das? Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland im Grundsätzlichen ein einheitliches materielles und prozessuales Recht, Strafrecht und Prozessrecht. Wenn Sie Auslegungsvorgaben für die Anwendung der im Bundesrecht beinhalteten Tatbestände oder im Strafprozessrecht beinhaltete Ermessensregelungen vorgeben wollen, dann soll man dies nach unserer Überzeugung rechtsstaatsförmlich, meinethalben über die Justizministerkonferenz, dergestalt tun, dass man eine Änderung der Richtlinien für die Straf- und Bußgeldverfahren, der RiStBV, die eine Rechtsvorschrift ist, um meinen Streit mit meinem Kollegen Mackenroth noch einmal klarzustellen – da hat er ja Recht gehabt – –

(Geert Mackenroth, CDU: Danke schön!)

Dort gehört es hinein. Das gehört in die RiStBV, die zuallererst die Staatsanwälte betrifft und die ihnen vorgibt, was sie bei prozessualen Ermessensausübungen zu beachten haben. Dort kommen Entscheidungsgrenzen hinein. Dort stehen sie auch, aber wie kann ich das denn für Sachsen, wenn Sie bei der RiStBV bleiben, ändern und sagen, bei uns gilt das anders? In einer Republik, auch wenn sie föderal ist? Das Föderalismusprinzip und die Zuständigkeit der Länder für die Justiz bedeutet nicht, dass es eine individuelle Zuständigkeit der Länder für den Inhalt der Rechtsprechung gäbe. Das ist meine feste Überzeugung.

(Svend-Gunnar Kirmes, CDU: Die bleibt doch beim Richter, die Rechtsprechung! – Martin Modschiedler, CDU: Warum kritisieren Sie es dann?)

Eben. Dann kann ich ihm auch nicht sagen – – Wir kommen gleich darauf zurück. Wenn Sie etwas wollen, Herr Kollege Modschiedler, dann fragen Sie.

Selbst wenn es dann in die RiStBV hineingebastelt sein sollte, können derartige Richtlinien wegen der Mannigfaltigkeit des Lebens der Verfahrenspraxis nur Anleitung für den Regelfall geben. Der Staatsanwalt hat in jeder Strafsache selbstständig und verantwortungsbewusst zu prüfen, welche Maßnahme geboten ist. Er kann wegen der Besonderheit des Einzelfalls von den Richtlinien abweichen. Das habe ich jetzt aus der Einführung zur RiStBV zitiert. Deswegen kann ich nicht in diesem Duktus „bei uns wird auch unter 10 Euro nicht mehr eingestellt“ eine Rundverfügung machen. Da passt der Direktivcharakter der Rundverfügung generell nicht zum Ansatz in der RiStBV und in den Auslegungen.

Heute haben Sie betont, dass es auch weiterhin Einstellungen geben werde, wenn sowohl Gericht als auch Staatsanwaltschaft in einem Verfahren zu der Überzeugung kommen, dass für den Einzelfall schuld- und tatangemessen ist. Das sind dann ganz andere Töne, als ich sie aus der Rundverfügung selbst oder aus Verlautbarungen aus der Pressekonferenz kenne. Da sind Sie heute anders herangegangen, dabei bleibe ich.

Das alles aus der Pressekonferenz klang nach der Nulltoleranzstrategie, die seinerzeit der republikanische Bürgermeister von New York, Rudolph Giuliani, der von 1994 bis 2001 im Amt war, entwickelt hat. Diese Nulltoleranzstrategie im Thema der von Ihnen angemeldeten Regierungserklärung, keine Toleranz für Straftäter nahezu gleich formuliert, hat in den USA zu unzähligen ausufernden Strafverfahren, zu unzähligen Eingriffen in Grundrechte, zu unzähligen unverhältnismäßigen Verletzungen von Grundrechten geführt und letzten Endes auch dazu, dass die USA die höchste Pro-Kopf-Inhaftierungsrate der Welt ausweisen und immer noch überhaupt keine großen Erfolge in der Rückbildung der Kriminalität haben, weil es ein Irrglaube ist, dass Strafe, Strafmaße und Strafschärfe, Kriminalität aufhalten.

(Beifall bei den LINKEN)

Uns ist auch in die Nase gefahren, dass Sie nach dem Wortlaut und der Form der Verkündung der beabsichtigten neuen Gangart den Eindruck erweckt haben, als könnte der Justizminister Strafmaß beeinflussen.

(Zuruf des Staatsministers Thomas Schmidt)

Diese Intention ergibt sich doch, wenn Sie als Minister in der Presseerklärung formulieren: „Die sächsische Strafverfolgungspraxis wird insgesamt verschärft.“ Na, wenn Sie das verkünden oder der Ministerpräsident das in seiner Presseerklärung im Anschluss an die gestrige Aktuelle Debatte verkündet, da denkt doch jeder Zuhörer draußen: Das kann dieses Haus vorgeben und entscheiden oder das Haus mit der Krone da drüben.

(Zuruf des Abg. Rico Gebhardt, DIE LINKE)

Und das geht nicht! Das geht nicht im Rechtsstaat! Im Rechtsstaat sind Grundlage die Gesetze und die Rechtsstaatsprinzipien. Da gehört ganz zuerst als vornehmer

Grundsatz – das ist jetzt die Erfahrung aus meinem Leben – die Gewaltenteilung dazu.

(Zuruf des Abg. Martin Modschiedler, CDU)

Sehr wohl! Für die Strafverfolgungspraxis sind im Rechtsstaat Staatsanwälte, Gerichte, nebenbei bemerkt auch Verteidiger, als Organe der Rechtspflege zuständig respektive an dieser beteiligt. Richterinnen und Richter entscheiden, wie sie innerhalb des vom Bundesgesetzgeber vorgesehenen Strafrahmens die Verfahrenstatbestände sanktionieren. Und dafür gibt es einen Paragrafen. Das ist der § 46 StGB, der generell sagt: Bei Strafzumessungen wägt das Gericht einzelfallbezogen die Bewertung der Schuld des Täters, über Sach- und Beweggründe und Ziele des Täters, sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen und einen Ausgleich gegenüber den Opfern zu suchen, ab. Diese und weitere Kriterien sind im § 46 enthalten.

Bei allem Respekt vor den Opfern, es steht dort nicht: Der Opferschutz muss dabei das Primat haben. Es gibt eine Vielzahl von Zumessungskriterien. In diese Zumessungskriterien können sie nicht mit Direktiven hineinregieren. Es ist der § 46, der vom Staatsanwalt beim Strafmaßbeantragen und vom Richter beim entsprechenden Verurteilen angewendet werden muss. Unter Beachtung dieser Strafzumessungskriterien einen Strafmaßantrag zu stellen ist Sache des konkret im Verfahren und dann als Bestandteil der Rechtspflege handelnden Staatsanwalts. Da kann man nicht par ordre du mufti der Staatsanwaltschaft vorschreiben, dass beim Verdacht auf Besitz und des Handelns mit Betäubungsmitteln, etwa mit Crystal, auch nur von 3 bis 5 Gramm, generell nicht weniger als ein Jahr Freiheitsstrafe zu verurteilen ist. Das bringt doch die ganze Strafpyramide durcheinander. Was wollen Sie denn mit einem echten Dealer machen? Was wollen Sie mit jemand tun, der kiloweise Drogen aus dem Ausland bringt? Wenn Sie bei 3 bis 5 Gramm mit einem Jahr beginnen, ist ein neuer Verbrechenstatbestand kreiert. Es liegt doch auf der Hand, dass das schiefgeht, dass das ganze Strafgefüge durcheinandergebracht wird.

Genauso grenzwertig ist es, dem verfahrensbearbeitenden Staatsanwalt vorzuschreiben, dass er bei jeder Schwarzfahrt und bei jedem Ladendiebstahl bis 50 Euro einen Strafbefehl beantragen oder Anklage erheben muss. Das bringt die ganze Justiz in eine fatale Bearbeitungslage.

(Zuruf des Abg. Martin Modschiedler, CDU – Patrick Schreiber, CDU: Selbst wenn es für einen guten Zweck ist!)

Absolut dilettantisch – Herr Kollege Modschiedler, Sie kennen es vielleicht gar nicht – wird es, wenn die Rundverfügung vorschreibt, dass bei einem unerlaubten Entfernen vom Unfallort eine Einstellung nach § 153 StPO nur noch erfolgen darf, wenn der Schaden nicht mehr als 25 Euro beträgt. Wie übersieht der Generalstaatsanwalt nur, dass alle Kommentierungen und Rechtsprechungen zu § 142 – Fahrerflucht – das Vorliegen eines Unfalls davon abhängig machen, dass ein Schaden von wenigs

tens 25 Euro vorliegt? Bis zu diesen 25 Euro ist es noch kein Unfall. Wenn es keinen Unfall gibt, kann man keine Unfallflucht begehen. Ich kann nicht erst bei 25 Euro Schaden sagen, bis dahin dürft ihr nur einstellen; das ist ohnehin keine Straftat. Das ist nach § 170 einzustellen.

(Martin Modschiedler, CDU: Das ist Sinn und Zweck des Paragrafen, die Ermittlung!)

Das ist also eine Sache, die überhaupt nicht passt. Genauso missverständlich, als Aufreger wirkte der in der Presseerklärung vom 17.02. mit den Worten zitierte Generalstaatsanwalt, der sagte: „Rechtsfreie Räume gibt es in Sachsen nicht. Auch Straftaten mit geringen Schäden bleiben Straftaten. Die können in ganz Sachsen gleichermaßen konsequent geahndet werden. Meine Rundverfügung wird das jedem deutlich machen.“

(Svend-Gunnar Kirmes, CDU: Er ist Behördenchef!)

Was oder wen meint er denn mit „jedem“? Auch jede Richterin und jeden Richter?

(Zuruf von der CDU: Nee!)

Der Generalstaatsanwalt ist doch nicht das Väterchen Zar. Was ist denn das, jeder und jedem „deutlich machen“?

(Zurufe von der CDU)

Was ist denn der Duktus? Da muss doch dieses Hohe Haus auch aufgeregt sein. Nach allen hier vorliegenden Erkenntnissen und Informationen kennen die Richterinnen und Richter diese Rundverfügung noch nicht. Vielleicht zum Glück?

(Ronald Pohle, CDU: Das ist nicht gerechtfertigt! – Heiterkeit bei den LINKEN)

Sie spüren ihr nur nach, um zu wissen, wie sich dieser oder jener merkwürdige Strafantrag, diese oder jene merkwürdige Prozesshandlung des mitwirkenden Staatsanwalts erklärt, wohl auch, um zu erahnen, welche Mehrbelastung an Verfahren auf Sie zukommt. Dass diese Rundverfügung auch gegenüber der Anwaltschaft – sprich: der Verteidigung – geheim gehalten wird, ist in puncto Waffengleichheit der rechtspflegebeteiligten

Organe auch keine ordentliche Verfahrensweise. Die Rundverfügung des Generalstaatsanwaltes vom 1. September – betreffend beschleunigte Verfahren – war doch auch den Richterinnen und Richtern zur Kenntnis gebracht worden. Warum hier nicht, das müssen Sie mir bitte erklären, Herr Staatsminister. Ich als Abgeordneter habe dazu bisher auch keinen Zugang. Ich bin gespannt, wie die inzwischen eingereichten Kleinen Anfragen, die den Wortlaut der Rundverfügung hinterfragen, von der Staatsregierung beantwortet werden, ob das wirklich eine interne Anweisung ist, die noch nicht einmal die Abgeordneten bekommen.

(Zuruf von der CDU)

Genau diese Gangart aber, mit dem Erleben, dass nachfragende Richter und Verteidiger bei den Staatsanwälten

im Lande bedeutet bekommen, dass sie diese Rundverfügung nicht herausgeben dürfen, sodass nur zusammenfassende Auszüge von völlig anonymisierten Absendern kursieren, erweckt den Eindruck, dass Sie und Ihr Generalstaatsanwalt in unzulässiger Weise durchregieren wollten. Genau das ist das Problem. Das haben Sie ganz anders dargestellt. Das ist mir völlig klar.

(Heiterkeit des Abg. Svend-Gunnar Kirmes, CDU)

So ganz gehe ich mit Ihrer Erklärung, diese Rundverfügung richte sich ausschließlich an Staatsanwältinnen und Staatsanwälte des Freistaates Sachsen, mitnichten an Richterinnen und Richter, nicht konform. Ich argumentiere mit Ihrem ersten Satz in der heutigen Rede: „Theorie und Praxis sind zweierlei.“ Das war Ihr erster Satz, Herr Staatsminister. Die Rundverfügung ist nicht adressiert an die Richter, das ist richtig. Aber sie greift natürlich in deren Tätigkeit ein. Das wissen Sie doch auch. Sobald das Verfahren über das Stadium der Staatsanwaltschaft hinaus beim Richter auf dem Tisch liegt, ist die Richterin/der Richter jetzt auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft trotz Rundverfügung und der dort beinhalteten Knebelgrenzen – auf Deutsch gesagt – den Arsch in der Hose hat zu sagen: Ich stimme der Einstellung zu. Wollen Sie jetzt sagen: Das darf er dann in der Verhandlung? Im EV darf er es nicht, aber in der Verhandlungen darf er es? Dann ist es wieder eine neue Tonart, aber dann begreife ich die Welt überhaupt nicht mehr.

(Heiterkeit bei den LINKEN – Zuruf des Abg. Geert Mackenroth, CDU)

Er darf es selbstständig im EV nicht, und wenn er in der Verhandlung Anklage vertritt, darf er es nur machen, wenn der Richter es vorschlägt. Mein Gott!

Ich habe mit etlichen Richtern gesprochen, seitdem diese Rundverfügung in der Welt ist. Alle sagten: Wenn die Staatsanwaltschaft mir die Möglichkeit aus der Hand nimmt, das Verfahren nach Maßgabe der Strafprozessordnung mit Einstellung in der Sache zu behandeln, dort wo es rechtlich vertretbar, richtig und angemessen ist, reagiere ich mit Strafvorbehalt, mit Bewährungsauflage, mit allen sich daraus ergebenden Mehrbelastungskonsequenzen, zum Beispiel für den sozialen Dienst der Landgerichte. Das habe ich gestern auch schon gesagt.

Herr Staatsminister, mit Blick auf den Opferschutz sind Sie mir etwas zu leichtfüßig über den Umstand hinweggegangen, in welchem Umfang es tatsächlich in der Erwägung des Generalstaatsanwaltes eines Bundeslandes liegt, in vorgegebenes Bundesrecht einzugreifen, und sei es nur, indem er die am Verfahren mitwirkenden Staatsanwältinnen und Staatsanwälte domestiziert, wie sie Bagatellkriminalität und bundeseinheitlich vorgegebene Anwendungskriterien, Ermessensentscheidungen künftig anwenden, wie sie umzugehen haben. Sie greifen so ein, dass sie die bundeseinheitlichen nicht mehr anwenden können, sondern die sächsischen anzuwenden haben.

Natürlich darf es in Sachsen keine rechtsfreien Räume geben. Das ist ganz selbstverständlich.

(Beifall des Abg. Geert Mackenroth, CDU)

Natürlich gibt es seit der Eliminierung der Kategorie „Übertretungen“ durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch im Jahr 1974 im materiellen Strafrecht keine eigentlichen Bagatelldelikte mehr. Seitdem ist tatsächlich jeder profane Diebstahl einer Tube Zahnpasta – den Schokoladenriegel lasse ich weg – oder eines TShirts, von dem der Ministerpräsident gestern sprach, eine Straftat, weil damit die Einteilung von Verbrechen, Vergehen und Übertretungen im Jahr 1974 aufgegeben worden ist.

Aber das erkannte Problem der Bagatellkriminalität fand seine Lösung im EGStGB, im Einführungsgesetz zum StGB, im Zumessungszusammenhang für das prozessuale Strafrecht. Bei Diebstahl und Unterschlagung würde die geringfügige Tat schon nur auf Antrag verfolgt – § 248 a. Da kann die Staatsanwaltschaft – das ist in der Rundverfügung nicht beachtet – das Verfahren von vornherein nach § 153 einstellen, wenn es in diesem Bereich unter der Schadensgrenze liegt, die § 248 a dazu vorsieht.

Das sind laut Rechtsprechung des BGH 25 Euro und nicht 10 Euro. 25 Euro sind die Geringfügigkeitsgrenze für die Antragsdelikte, sagt der BGH. Bei Bagatelldelikten anderer Art kann die Staatsanwaltschaft unter der gleichen Voraussetzung einstellen, muss aber vorher die Zustimmung des Gerichts einholen. Das ist aber auch gesetzlich vorgesehen: Bei Sachverhandlungen im Rechnungsverfahren, die über Einstellung erfolgen, unter Beteiligung des Gerichts: Indem sie sagen, der Staatsanwalt darf es überhaupt nicht machen, ist der Richter dort raus. So viel zur Adressfunktion für die Richterinnen und Richter. Selbstverständlich wirkt die Rundverfügung dorthin.

Mit der Einführung des § 153 a hat der Gesetzgeber eine verfahrensrechtliche Regelung gefunden, und zwar bewusst überlegt, was die neue Form der Sanktionierung außerhalb des bestehenden Katalogs des Strafgesetzbuches ermöglichen soll. Das ist richtig, Herr Staatsminister: Man will damit Kapazitäten für die zügige Erledigung größerer Straftaten schaffen. Das war auch der Wille des Gesetzgebers, aber das muss er auch bleiben.