Gut. Jetzt fahren wir in der Rednerreihe fort. Als Nächstes spricht Frau Kollegin Kliese für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten von Ihnen waren bestimmt schon einmal im Krankenhaus, und die meisten davon waren sehr froh, als sie es wieder verlassen durften; denn dort haben Sie vielleicht erlebt, wie es sich anfühlt, wenn man nicht alles allein machen kann, zum Beispiel nicht aufstehen, wenn man es gern möchte, oder nicht essen, wann man es gern möchte, und für fremde Vorgänge klingeln, warten – auf Hilfe warten, bis man diese Hilfe bekommt –, kurz gesagt: wenn man fremdbestimmt ist. Das schafft eine fremdbestimmte Atmosphäre und so etwas nimmt einem ganz private, teilweise auch intime Räume, und wir empfinden das zu Recht als sehr unangenehm.
Stellen Sie sich nun vor, Sie bräuchten so eine Unterstützung jeden Tag, und stellen Sie sich vor, Sie müssten in regelmäßigen Abständen darum bangen, ob Sie diese Unterstützung überhaupt bekommen; und Sie sollten immer dankbar sein, demütig und defensiv dafür, dass Sie diese Unterstützung überhaupt bekommen – als würde es Ihnen Spaß machen, sich nicht allein waschen oder anziehen zu können; Ihnen würde noch ständig vorgerechnet, wie viel Geld Sie den gesunden Steuerzahler – der Sie vielleicht selbst wären – kosten.
Solche Zustände gibt es im Freistaat Sachsen, und, Herr Krasselt, ich sage an dieser Stelle ganz deutlich zu Ihnen: Die gibt es auch aufgrund der Arbeit des KSV; das sehe ich anders als Sie,
obgleich die Bedingungen für diese Menschen inzwischen schon weitaus besser sind, als wir sie aus den 1980erJahren kennen. Die Bedingungen in den Heimen sind zum Beispiel viel, viel besser geworden. Die Menschen haben dort inzwischen Einzelzimmer, sie haben von den Räumlichkeiten her wirklich sehr schöne Bedingungen – das
will ich unbedingt anerkennen. Es gibt Freizeitmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung, Einrichtungen, Theater, Musikprojekte, Therapiemöglichkeiten. Das hat sich alles unheimlich verbessert, das möchte ich an dieser Stelle unbedingt betonen. Aber von dem, was wir selbstbestimmtes Leben und Teilhabe nennen, sind wir noch ein gutes Stück entfernt.
Ändern sollte sich das mit dem Bundesteilhabegesetz. Es sollte der ganz große Wurf werden, ein Paradigmenwechsel – Sie haben diesen Begriff verwendet –, eine Zäsur in der Sozialpolitik – nicht nur in der Sozialpolitik, sondern für unsere gesamte Gesellschaft –, denn das Leben für Menschen mit Behinderung ist nicht explizit ein sozialpolitisches Thema.
Der Gesetzentwurf des Bundes blieb aber zunächst hinter den sehr hohen Erwartungen auch der Interessengruppen zurück. Ich bin sehr froh, dass es Menschen mit Behinderung gab, die eben nicht defensiv und dankbar den Kopf gesenkt, sondern aktiv eingefordert haben, was ihr gutes Recht ist; denn Teilhabe ist ein Menschenrecht. Dank Ihrer Proteste und des Einsatzes einiger Parlamentarierinnen und Parlamentarier konnte dann in Berlin ein Teilhabegesetz mit vielen, vielen Änderungen im parlamentarischen Verfahren verabschiedet werden, das seinen Namen dann tatsächlich verdient hat. Es beinhaltete – das hat mein Kollege Herr Krasselt schon ausgeführt – einen personenzentrierten Ansatz, der dem Einzelnen und seinen Bedürfnissen gerecht zu werden sucht. Es zieht nicht länger das Vermögen von Angehörigen für Teilhabeleistungen heran – das war eine große Ungerechtigkeit – und ermöglicht Menschen mit Behinderung, etwas zu sparen.
Diese Stufen – für diejenigen, die immer daran denken, wie teuer das alles wird – sind übrigens bereits in Kraft getreten. Unser Sozialsystem hat es offensichtlich überlebt. Ich wage sogar die Prognose: Kaum jemand hat es überhaupt bemerkt.
Nun hat sich der Freistaat auf den Weg gemacht, seine Ausführungsbestimmungen zu formulieren. Ich gebe zu, ich wäre bei der Lektüre des Entwurfs das eine oder andere Mal gern öfter dem Geist des Ursprungsgesetzes begegnet. Wir haben ihn in den Nachverhandlungen noch einmal hervorgelockt und jetzt scheint er aus einigen Passagen des Änderungs- und Entschließungsantrages ganz freudig heraus, etwa, wenn wir beschließen, dass Menschen mit Behinderung künftig Beschwerde einlegen können, und zwar gegen Bescheide, die ihnen nicht nachvollziehbar sind.
Ich nenne ein Beispiel: Der Kommunale Sozialverband kürzt bei Menschen rückwirkend Leistungen – zum Beispiel, dass sie nicht mehr das Essen angereicht bekommen sollen, dass sie nicht mehr gewaschen werden sollen – und bezieht sich damit – diesen Fall hatte ich kürzlich – auf ein Gutachten des Gesundheitszustandes der jeweiligen Person aus dem Jahr 2009. Es ist eine große Zumutung für die Angehörigen dieser Menschen
Genau deshalb haben wir jetzt die Clearingstelle. Wir haben diese Clearingstelle nicht beim KSV angedockt, sondern beim Beauftragten für Menschen mit Behinderung, und zwar nicht etwa so, dass er zusätzlich noch diese Arbeit damit hat – denn er hat genug Arbeit –, sondern wir verknüpfen das mit den personellen Ressourcen, die wir dafür brauchen werden, damit es eben nicht von Herrn Köhler selbst, sondern von jemandem, der dann dafür zuständig ist, bearbeitet werden kann.
Über diese Errungenschaft in den Verhandlungen bin ich sehr froh und sehr dankbar und danke an dieser Stelle auch unserem Koalitionspartner für die Verhandlungsbereitschaft sowie dem Sozialministerium für die Expertise und überhaupt für die Aufgeschlossenheit. Vielen Dank dafür.
Es hat zwar – wie du, lieber Horst Wehner, es zu Recht angemahnt hast – ein wenig gedauert, aber es war auch ein guter Aushandlungsprozess, in dem wir uns die Zeit genommen haben, uns die unterschiedlichen Positionen gegenseitig zu erklären und wirklich einmal auf die Sachverständigenpositionen zu schauen: Was ist tatsächlich von vielen Menschen gesagt worden, und warum? Ich fand es sehr hilfreich und sehr lehrreich.
Wir haben eine sprachliche Änderung in unserem Antrag, denn Sprache prägt unser Bewusstsein in der Art, wie wir Menschen betrachten. Deswegen wollen wir künftig nicht mehr von Leistungsempfängern sprechen, sondern von Leistungsberechtigten.
Ich finde das sehr, sehr wichtig, auch wenn das einigen hier vielleicht banal erscheinen mag; denn diese Menschen sind berechtigt, eine Leistung zu erhalten. Sie haben nicht dankbar dazustehen und diese Leistung zu empfangen; sie haben durch einen persönlichen Nachteil ihrer Gesundheit eine Berechtigung, eine Einschränkung in ihrem Leben dadurch auszugleichen, und das müssen wir verinnerlichen.
Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, es mit den Änderungen auf den Weg zu bringen. Der Gesetzentwurf und der Entschließungsantrag, den ich später einbringen werde, stimmen mich doch optimistisch, dass wir alle zusammen in diesem Hause dem Ziel der Teilhabe ein wenig näherkommen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Abgeordnete! Es ist schon viel zum Inhalt des Gesetzentwurfes der Staatsregierung und zum Bundesteilhabegesetz gesagt worden. Deshalb möchte ich den Fokus auf die Betroffenen und Angehörigen richten.
Ich möchte von einem Gespräch berichten, welches ich, bezogen auf den heutigen Gesetzentwurf, mit einer betroffenen Mutter, die ihren behinderten Sohn betreut, geführt habe. Die Mutter berichtete, dass ihr Sohn Werkstattgänger sei und sie ihn ansonsten zu Hause auch mithilfe von Assistenten betreue. Sie schilderte sehr eindrucksvoll, mit welchen Herausforderungen sich Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen konfrontiert sehen, wenn es um die Gewährung von Leistungen geht. Zu nennen sind die fehlenden Ansprechpartner vor Ort, zermürbende Klageverfahren, Bürokratie, Verschleppung bei der Antragsbearbeitung und sogar drohende Leistungskürzungen bei vermeintlich fehlender Mitwirkung. Sie warf dem KSV sogar vorsätzlichen Rechtsbruch vor. Inwieweit jeder Punkt auch tatsächlich zutrifft, lässt sich unsererseits nicht abschließend beurteilen.
Fest steht aber, der vorliegende Gesetzentwurf, der sowohl Betroffene als auch Angehörige besserstellen sollte, hat nicht vollumfänglich zur Beruhigung beigetragen. Er verbreitet Unsicherheit und Besorgnis hinsichtlich der übertragenen Aufgaben an den KSV und der künftigen Bewilligungspraxis.
Die eingangs genannte Mutter, die ihren Sohn größtenteils selbst betreut, äußerte auch Befürchtungen, dass alles noch komplizierter und schwieriger werde und das Ganze auch Auswirkungen auf den Gesundheitszustand ihres Sohnes haben werde.
Dass diese Schilderungen keinen Einzelfall darstellen, machte nicht nur ein zweites Gespräch mit einer weiteren Familie deutlich, auch die Anhörung zum Gesetzentwurf brachte ans Licht, dass es viele Betroffene gibt, die mit dem bisherigen Antragsverfahren und mit den daraus resultierenden Entscheidungen nicht zufrieden sind.
Viele Betroffene fühlen sich unverstanden und in eine Bittstellerrolle gedrängt, die sie des Öfteren in die Verzweiflung treibt. Meine sehr verehrten Damen und Herren! So darf man mit Betroffenen und Angehörigen natürlich nicht umgehen.
Dass Leistungsverbesserungen viel Geld kosten, steht außer Frage. Dass die Betroffenen und Angehörigen, die eh schon stark belastet sind, zu Bittstellern werden sowie langwierig und unter Einsatz persönlicher Ressourcen für ihr Recht kämpfen müssen, kann nicht so einfach hingenommen werden.
Deshalb ist es doch nicht verwunderlich, dass die anfangs geplante Angliederung der Clearingstelle an den KSV für sehr viel Kritik bei den Betroffenen sorgte. Man stellte sich nachvollziehbar die Frage, wie die Clearingstelle, die bei Streitfällen mit dem KSV vermitteln soll, unabhängig
Auch wenn die Regierungskoalition aus CDU und SPD auf Druck von Betroffenen, Angehörigen, diversen Verbänden, des Beauftragten der Sächsischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen und der Opposition nun mit einem Änderungsantrag die Clearingstelle beim Beauftragten der Sächsischen Staatsregierung angliedern möchte, bleibt festzuhalten, dass der Gesetzentwurf dennoch einige Lücken aufweist. Auf diese werde ich bei der Einbringung unseres Änderungsantrages eingehen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem geänderten Recht der Eingliederungshilfe waren und sind große und auch sehr unterschiedliche Erwartungen verbunden. Je nachdem, aus welcher Perspektive die Erwartungen vorgetragen wurden, schienen sie sich sogar zu widersprechen.
Die Kommunen erwarten Regelungen, die die Kostenbelastung gering halten. Menschen mit Unterstützungsbedarf erwarten mehr Selbstbestimmung in ihrem Lebensalltag. Das passt spätestens dann nicht mehr zusammen, wenn fiskalische Erwägungen den Grad der Selbstbestimmung und Teilhabe bestimmen. Auch deshalb war der Protest behinderter Menschen beim Gesetzgebungsprozess so laut und intensiv. Horst Wehner hat darauf hingewiesen. Es kämpfen Menschen um ihre Menschenrechte.
Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass Menschen mit Unterstützungsbedarf und ihre Angehörigen, die sich an mich wenden, nach wie vor verunsichert sind und immer noch sehr viele Fragen haben. Ihre Skepsis resultiert aus den oft schlechten Erfahrungen mit den Kostenträgern, vor allem mit dem Kommunalen Sozialverband. Ihr Vertrauen ist oft erschüttert worden. Sie berichten zum Beispiel davon, dass es kaum möglich ist, Assistenzpersonen zu gewinnen, weil die Stundensätze im Rahmen des persönlichen Budgets so niedrig sind.
Die kommunalen Spitzenverbände hingegen klatschen Beifall. Sie rühmen sich öffentlich – wir haben es in der Anhörung erlebt und gehört –, ohne schlechtes Gewissen dafür, dass Sachsen im Bundesvergleich die geringsten Prokopfausgaben für behinderte Menschen hat. Zögerliche Leistungsbewilligungen und Ablehnungen werden seitens des Kommunalen Sozialverbandes mit dem hohen Kostenaufwand begründet, den behinderte Menschen verursachten. Das, meine Damen und Herren, sind die sächsischen Realitäten, mit denen behinderte Menschen und ihre Angehörigen konfrontiert werden.
In genau dieser Atmosphäre ist das vorliegende Ausführungsgesetz entstanden. Es atmet wirklich den Geist der vergangenen Jahrzehnte, ist wenig innovativ und Handlungsspielräume, die das Bundesteilhabegesetz jetzt eigentlich eröffnet, werden bei Weitem nicht genutzt.
Anstatt selbst das Steuer in die Hand zu nehmen, versteckt sich die Staatsregierung erneut hinter dem KSV und überlässt diesem weite Teile der Gestaltung der Unterstützungsstrukturen für behinderte Menschen hier in Sachsen. Wesentliche Forderungen der Selbstvertretung behinderter Menschen, der Wohlfahrtsverbände und auch des Beauftragten der Staatsregierung für die Belange behinderter Menschen werden nach wie vor ignoriert: Das Bedarfsermittlungsverfahren findet nicht im Sozialraum der unterstützungsbedürftigen Personen statt. Ebenso wenig überzeugen die Regelungen, die die Mitsprache behinderter Menschen im weiteren Umsetzungsprozess sicherstellen sollen. Einer Fachaufsicht über die Träger der Eingliederungshilfe ist nach wie vor nicht vorgesehen.
Die Clearingstelle soll vermitteln, aber gleichzeitig auch ein Votum abgeben. Das passt nicht zusammen, meine Damen und Herren! Wir unterstützen das Ausführungsgesetz erst dann, wenn es in diesen zentralen Punkten geändert worden ist.
Unsere Änderungsanträge stellen die Beteiligung behinderter Menschen im weiteren Umsetzungsprozess sicher. Sie schreiben die Einrichtung von Außenstellen des Kommunalen Sozialverbandes zwingend vor. Sie stellen die Träger der Eingliederungshilfe unter die Fachaufsicht des Ministeriums und sie machen die Clearingstelle zu einer wirklich unabhängigen neutralen Stelle.
Diese Stelle muss so aufgebaut und das Clearingverfahren so ausgestaltet werden, dass es für Menschen mit Unterstützungsbedarf gewinnbringend ist, diese Stelle auch in Anspruch zu nehmen. Die Regelungen im ersten Entwurf der Staatsregierung, insbesondere die Anbindung beim Kostenträger, waren dafür überhaupt nicht geeignet. Ich hätte niemandem ernsthaft raten können, sich an eine solche Stelle zu wenden. Aber auch die Ansiedlung beim Beauftragten der Staatsregierung für Menschen mit Behinderungen macht diese Stelle nicht besser; denn der Fehler steckt im System.
Eine Stelle, die einen Vermittlungsauftrag hat – dieser wird ihr mit dem vorliegenden Entwurf zugewiesen –, kann kein Votum abgeben. Sie kann allenfalls feststellen, dass die Vermittlung gelungen oder gescheitert ist – nicht mehr und nicht weniger. Gibt sie am Ende ein Votum ab – das soll sie nach dem Willen der Staatsregierung tun –, trifft sie eine Entscheidung. Jemand, der eine Entscheidung trifft, kann aber nicht gleichzeitig Vermittler sein.