Protocol of the Session on August 31, 2017

Für das Jahr 2015 wird vom paritätischen Gesamtverband für Sachsen eine Armutsquote in Höhe von 18,6 % ausgewiesen. Auch im Freistaat sind also mehr von Armut bedroht als im Bundesdurchschnitt.

Die Bundesregierung gesteht ferner ein, dass Jugendliche und junge Erwachsene überdurchschnittlich häufig von Armut betroffen sind. So galt 2014 auf Basis des sozioökonomischen Panels über ein Fünftel der unter 18Jährigen als arm. Bei den 18- bis 24-Jährigen ist es sogar fast ein Viertel. Besonders betroffen sind Alleinerziehende mit 38,4 % sowie Paare mit drei oder mehr Kindern mit 24,4 %. Diese Zahlen sind und bleiben alarmierend. Wir

können und wollen es uns nicht leisten, dass je nach Haushaltskonstellation weiterhin ein Fünftel bis ein Drittel der Menschen aus dieser positiven Wirtschaftsentwicklung keinen Nutzen ziehen kann.

Gewiss, Armut ist relativ, ebenso wie Reichtum, aber überall gilt die Definition des Europäischen Rates von 1984. Demnach sind Menschen arm, wenn sie über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist. Das ist ein realer Zustand, dem die Betroffenen nur selten entrinnen können.

Dennoch wird oft abstrakt von Armutsgefährdung oder Armutsrisiko gesprochen. Mit diesem Sprachgebrauch versuchen auch Regierungen wie die sächsische das Problem herunterzuspielen.

In der EU-Statistik gelten Menschen als armutsgefährdet, wenn sie in Haushalten leben, deren Einkommen weniger als 60 % des Medians aller Nettoäquivalenzeinkommen beträgt. Wir sagen: Wer in einer solchen Situation ist, der ist nicht armutsgefährdet, sondern der ist arm. In vielen Fällen ist hinzuzufügen: arm trotz Arbeit und zwar selbst dann, wenn man etwas Ordentliches gelernt hat, um an Peter Tauberts arroganten Tweet zu erinnern.

Armut bedeutet gesellschaftliche Ausgrenzung. Man kann den Geburtstag von Freunden und Bekannten trotz Einladung nicht mitfeiern, weil man kein Geld für ein Geschenk hat. Man wird ausgegrenzt, wenn man nach dem Feierabend nicht mit Freunden essen, ins Kino, ins Theater oder am Wochenende ins Museum gehen kann;

(Patrick Schreiber, CDU: Dann sind es keine Freunde, Frau Schaper!)

wenn man am Ende des Geldes noch zu viel Monat übrig hat. Armut bedeutet Stigmatisierung, zum Beispiel bei der Wohnungssuche, wenn man Hartz-IV-Bescheide vorlegen muss oder weil die Miete vom Amt direkt an die Vermieter gezahlt wird.

Betroffene werden in den Jobcentern entmündigt, weil sie nicht mitentscheiden dürfen, ob eine Maßnahme oder Weiterbildung für sie sinnvoll ist. Das beschädigt ihr Selbstwertgefühl und erst recht auf Dauer ihre Motivation. Betroffene nehmen Armut als Mangel an Freiheit wahr und vermissen die Wertschätzung ihrer Persönlichkeit. Sie können nicht frei darüber entscheiden, welcher Erwerbstätigkeit sie nachgehen, welche kulturellen Veranstaltungen sie besuchen, welche Kleidung sie tragen, welche Geräte sie anschaffen und wo sie ihre Lebensmittel einkaufen. Ebenso wenig können sie reisen, wohin sie wollen. Auch der Kampf um Gesundheit ist für sie ungleich härter – etwa bei der Anschaffung einer neuen Brille, beim Zahnersatz oder bei anderen Leistungen, bei denen die Krankenkassen die Hände heben.

Wer in diesem Raum kann wirklich nachvollziehen, wie sich das anfühlt? Wer will das einmal nachvollziehen? Es geht ja nicht nur um diejenigen, die bereits arm sind, sondern auch um diejenigen, die von Armut bedroht sind.

Die wissen, wenn sie ihren Job verlieren, haben sie zwölf Monate Zeit, und danach fallen sie ins Loch, aus dem sie vielleicht nie wieder herauskommen. Oder sie wissen, dass sie weiterarbeiten müssen, solange sie irgendwie können, denn ihre Rente wird hinten und vorn nicht reichen. Dann schuften beispielsweise Lausitzer Heizungsbauer auch nach dem 70. Geburtstag weiter und hören wöchentlich Politikerinnen und Politiker, denen es nie so ergehen wird und die es wohl nicht stören würde, wenn die Särge direkt in die Betriebe geliefert werden würden.

(Zurufe von der CDU)

Auch im Bericht der Bundesregierung wird die persönlich empfundene Angst vor Altersarmut als statistisch unbegründet dargestellt. Die Realität zeigt aber auf grausame Weise, dass Armut viel zu viele betrifft. Die Angst ist also durchaus sehr realistisch.

Für uns – und hoffentlich auch für Sie – steht daher fest: Es muss dringend etwas geschehen, weil die Angst vor sozialem Abstieg nur denen in die Hände spielt, die Arme gegen andere Arme aufhetzen und damit die eigentlich Schuldigen schützen. Problemlösung beginnt stets damit, das Problem erst einmal zu analysieren.

(Patrick Schreiber, CDU: Aber nicht so!)

Da hinken wir in Sachsen hinterher. Mit unserem heutigen Antrag fordern wir Sie deshalb auf, das Thema endlich analytisch und mit System anzugehen. Sie bekommen ausreichend Datenmaterial durch den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, den Bericht zur Armutsentwicklung, den DGB-Verteilungsbericht und aus weiteren Quellen. Damit sollte es sogar der Staatsregierung möglich sein, dass so übergreifend eine Stellungnahme zum Thema „Armut und Reichtum in Sachsen – Ziele und Vorhaben der Sächsischen Staatsregierung zum Abbau sozialer Ungleichheit sowie von Armut und Ausgrenzung“ zu erarbeiten und dem Landtag bis zum 31. März 2018 vorzulegen.

Ich appelliere an Sie: Jede und jeder kann von Armut betroffen sein. Das macht der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mehr als deutlich. Die Ursachen für Armut sind komplex, daher braucht es auch komplexe Lösungen.

Unser Antrag bezweckt, dass sich die Staatsregierung endlich auf den Weg dorthin begibt.

Vielen Dank.

(Beifall bei den LINKEN)

Der Antrag der Fraktion DIE LINKE ist durch Frau Kollegin Schaper eingebracht. Es folgt Kollege Wehner, er spricht für die Fraktion der CDU.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Schaper, Sie haben jetzt ein sehr einseitiges Bild von Armut gezeichnet und sich

vorrangig darauf konzentriert, wie es ist, wenn man über wenig finanzielle Ressourcen verfügt. Das kann aber nur die eine Seite der Medaille sein. Wenn wir über wenig Ressourcen auf der einen Seite sprechen, dann sprechen wir trotzdem über Motivation, etwas daran zu ändern, über Wertschätzung oder auch das Thema Gesundheitserhaltung auf der anderen Seite, und das muss irgendwie auch anders gehen. Es kann nicht nur darauf abgestellt werden, dass jemand arm und in dieser Situation gefangen ist, sondern das, was zu kurz gekommen ist in Ihren Ausführungen, sondern beispielsweise darauf, jemanden zu motivieren, wieder am Arbeitsleben teilzuhaben, oder dass er auch die Wertschätzung von Freunden, Bekannten und der Gesellschaft bekommt. Das ist möglich, auch wenn jemand nicht über finanzielle Ressourcen verfügt. Das klang mir ein wenig zu sehr nach „abgestempelt: arm, und da gibt es keine Lösung“.

Was die Gesundheit betrifft, so wäre es ein eigenes Thema. Aber die gesundheitliche Vorsorge oder auch die gesundheitliche Behandlung ist ja nun wirklich in Deutschland gegeben, wenn jemand nicht über sehr viel Geld verfügt.

Um Ihren Antrag richtig bewerten zu können, würde ich gern auf drei Punkte eingehen: erstens auf die Gesamtsituation in Deutschland, zweitens auf die beteiligten Akteure, drittens auf das, was wir hier als Freistaat Sachsen tun können.

Das Gefühl, die Schere zwischen Arm und Reich gehe immer weiter auseinander, ist allgegenwärtig. Diese Behauptung hört man immer wieder. Das ist aber nur die halbe Wahrheit; manchmal ist es auch gar nicht die Wahrheit. Denn wenn man sich – darauf haben Sie ja Bezug genommen – die Armutsgefährdungsquote sowohl in Sachsen als auch in ganz Deutschland anschaut, dann sieht man, dass sie sinkt. Das sehen Sie auch an den vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Zahlen.

Das klingt jetzt vielleicht banal, aber in Deutschland haben Sie alle Chancen, alles zu werden – von der Schule über den ersten Bildungsweg bis hin zur weiterführenden Bildung. Im Rahmen der Erwachsenenbildung besteht die Möglichkeit, umgeschult zu werden und neue Herausforderungen anzunehmen. Also: Wo, wenn nicht in Deutschland können Sie alles machen oder alles werden und Ihr persönliches Glück finden? – Ich verweise auf die Aktuelle Debatte, die wir heute Vormittag in diesem Haus geführt haben und in der schon auf die sinkende Arbeitslosenquote hier in Sachsen hingewiesen worden ist.

Ich komme zu dem zweiten Punkt, den Akteuren. Der Freistaat Sachsen ist natürlich nur ein Akteur. Die anderen Akteure sind der Bund, den ich schon nannte, und die jeweiligen Kommunen. Einseitige Landesmaßnahmen kollidieren mit deren Zuständigkeitsbereichen. Was die Altersbezüge, also die Renten der älteren Menschen, betrifft, so handelt es sich um eine typische Bundesangelegenheit, die der Akteur Freistaat Sachsen nur schwer regeln kann.

Sehen Sie bitte auch das, was die Bundesregierung in ihrem Fünften Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlicht hat. Darin können auch Sie nachlesen, was zur Beseitigung von Armut bereits getan wird und was noch getan werden soll.

Ich erinnere zudem an unsere gestrige Debatte zum Unterhaltsvorschuss. Auch in diesem Zusammenhang haben wir über das Thema Armut gesprochen. Daher will ich es an dieser Stelle nicht weiter erläutern.

Zum dritten Punkt: Was kann der Freistaat Sachsen tun, um die Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation seiner Bürger voranzutreiben? Erstens Bildung, zweitens Betreuung von Langzeitarbeitslosen. Zur Bildung verweise ich auf den Bildungsmonitor aus dem Jahr 2016. Der Freistaat Sachsen belegt Platz 1 speziell bei dem Ziel der Vermeidung von Bildungsarmut. Wir sind auch auf Platz 1 bei der Förderstruktur; das betrifft beispielsweise die Ganztagsquote der Schulen.

Eine letzte Anmerkung zu den Langzeitarbeitslosen: Deren Zahl ist seit 2010 um rund ein Drittel gesunken. Ich kann wiederum auf die Aktuelle Debatte von heute Vormittag Bezug nehmen. Wir haben hier mehrere Förderprogramme. Ich nenne nur das ESF-Programm zur Qualifizierung von Arbeitslosen ohne Berufsabschluss, die weiteren beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen für Arbeitslose, die individuelle Einstiegsbegleitung und das Programm „Tandem“, das heute Vormittag ebenfalls bereits Thema gewesen ist; dazu muss nicht mehr so viel gesagt werden.

Abschließend: Ich gehe davon aus, dass das Sozialministerium eine entsprechende Sozialberichterstattung erstellen und dann veröffentlichen wird. Das Sozialministerium kann dazu vielleicht noch Erläuterungen geben.

Ich stelle fest, dass eine Menge Möglichkeiten bestehen, sich über das Thema – das zweifelsohne ein wichtiges ist – zu informieren. Aus den genannten Gründen werden wir Ihren Antrag heute ablehnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU, der SPD und der Staatsregierung)

Nach Herrn Kollegen Wehner spricht jetzt Frau Kollegin Neukirch für die SPDFraktion.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der LINKEN verlangt von der Staatsregierung eine Stellungnahme zu dem Thema Armut und Ausgrenzung, die sowohl eine Analyse der Situation als auch einen Katalog an Maßnahmen, die in einer solchen Situation zu ergreifen seien, enthalten soll.

Wenn man Frau Schaper heute Morgen und vorhin zugehört hat, könnte man der Meinung sein, dass zumindest ein Teil des Antrags, die Analyse, gar nicht mehr benötigt

werde, weil – ihr zumindest – sämtliche Erkenntnisse zu Ursachen und Ergebnissen anscheinend bereits vorliegen.

Das ist zum Teil sogar richtig; denn einiges wissen wir schon. Armut ist ein drängendes Problem – auch in Sachsen. 17,7 % der Bevölkerung waren 2016 laut Bundesstatistik armutsgefährdet. Ein Jahr vorher waren es sogar 18,6 %. Bezogen auf den Landesdurchschnitt der Einkommen waren 2016 12,4 % der Einwohner armutsgefährdet, 2015 waren es sogar 12,9 %. Wir sehen also: Armut ist ein Problem, jedoch – entgegen der landläufigen Meinung – kein immer schlimmer werdendes.

Ich bin auch der Meinung, dass wir, nur um Handlungsdruck zu erzeugen, das Problem nicht schlimmer machen müssen. Das Problem darf aber natürlich auch nicht schlimmer werden; denn Armutslagen, gerade auch solche von Kindern, müssen bekämpft werden. Aber genau in dieser Art der Debattenführung über das Thema „Armut“ liegt auch ein Problem, weil man dazu neigt, dieses Thema dramatischer zu besprechen, als es ist, und eben nicht differenziert hinzuschauen. Ich möchte dazu den ehemaligen Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes zitieren. Georg Cremer hat in seinem Buch „Armut in Deutschland“ etwas aus meiner Sicht sehr Richtiges geschrieben: „Die Superlative der Skandalisierung rütteln nicht auf, sondern stumpfen ab.“ Er plädiert für einen genauen, differenzierten Blick und, darauf aufbauend, für eine Stück-für-Stück-Politik.

Ich denke, wir alle, die wir Sozialpolitik machen, bemerken, dass er damit genau recht hat, weil wir momentan in sozialpolitischen Debatten einerseits die Situation als ganz dramatisch beschreiben und damit andererseits Reaktionen hervorrufen wie: „Ach, so schlimm ist es gar nicht!“, und: „Wir machen schon sehr viel!“

Dazu kommt noch eine andere Schwierigkeit: Statistisch gesehen ist Armut auch ein gesellschaftliches Phänomen, welches paradox auf Maßnahmen gegen Armut reagiert. Ein Beispiel: Die Berechnungsgrundlage für die Bedarfe an Grundsicherung für Erwerbslose, „Hartz IV“ genannt, bezieht auch verdeckte Armut in die Bedarfsermittlung ein, was natürlich den Blick auf die Bedarfe im Durchschnitt der Bevölkerung verzerrt. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu schon geurteilt und hat verlangt, dass das geändert wird.

Eine solche Änderung der Berechnungsgrundlage würde – das hat die Caritas errechnet – eine Erhöhung des Regelsatzes um 60 Euro bringen. Das wiederum würde aber dazu führen, dass wir eine Erhöhung der Zahl der Armen um 800 000 Menschen hätten, eben weil durch diese Erhöhung des Regelsatzes mehr Menschen Anspruch auf diese Leistung hätten.

Das ist durchaus paradox, weil die Bezieher dieser Leistung als Arme gelten und wir mit einer Maßnahme dagegen statistisch mehr Armut herbeiführen. Genau das macht diese Debatte so schwierig. Genau deshalb plädiere ich dafür, wirklich sehr differenziert hinzuschauen und zu prüfen, mit welchen Maßnahmen wir Stück für Stück das Problem Armut angehen können.

Diese Position ist ja nicht als Argument zu verstehen, dass wir diese Anpassung des Regelsatzes nicht vornehmen müssten. Das müssen wir tun! Aber es ist eben das Paradoxe an dieser Anpassung, dass wir sie nicht dazu verwenden dürfen, ideologische Grabenkämpfe zu führen. Das verzerrt die Debatte und führt letzten Endes dazu, dass wir mit dieser Maßnahme nicht vorankommen, weil sich die Menschen mit ihren unterschiedlichen Einschätzungen gegenüberstehen.

Genau dafür aber, um zu diesem Maßnahmenkatalog zu kommen, benötigen wir den sächsischen Sozialbericht, der in dieser Legislatur auf grundlegende und aussagefähige statistische Füße gestellt werden soll.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?