Protocol of the Session on March 15, 2017

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DIE LINKE hat den Osten wiederentdeckt. Das haben wir heute auch wieder in der Zeitung erfahren. Die neue Strategie der LINKEN.

(Christian Piwarz, CDU: Im Westen ist sie ja gescheitert!)

Nur, Kollege Gebhardt, die Debatte über Ostdeutschland muss man heute anders führen als noch vor zwei Jahren. Man muss sie heute anders führen wie noch vor fünf oder vor zehn Jahren. Sie darauf zu reduzieren, dass es nur um die Frage von Ungerechtigkeit und Benachteiligung geht, wird dem Thema grundsätzlich nicht gerecht.

In 26 Jahren nach der Wiedervereinigung haben wir sehr wohl viel erreicht. Der Osten Deutschlands und insbesondere Sachsen sind bei der wirtschaftlichen Stärke des EUDurchschnitts angekommen. Darauf können wir durchaus stolz sein; ich bin es jedenfalls. Kein anderes Land hat in den letzten Jahrzehnten eine solche Leistung vollbracht, das sollte man bei aller berechtigten Kritik nicht vergessen.

Natürlich ist noch nicht alles erreicht worden. Aber so zu tun, als wäre das Glas nicht einmal halb voll, ist wenig hilfreich und ignoriert schlichtweg die Wirklichkeit. Na klar, die Lebensverhältnisse in Ost und West unterscheiden sich immer noch, und in einigen Bereichen sogar beträchtlich; das ist richtig. Aber es wurde auch schon darauf hingewiesen, dass das eben kein Alleinstellungsmerkmal im Vergleich Ost – West ist, sondern dass wir diese Differenzierung auch für andere Regionen und selbst innerhalb von Ländern vornehmen können.

Klar ist für die Sächsische Staatsregierung, dass das Ziel bleibt, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen, und zwar überall in Deutschland. Daran arbeiten wir gerade hier im Freistaat Sachsen jeden Tag, und daran müssen und wollen wir uns auch messen lassen.

Wie sieht nun die Bilanz aus? Wenn wir uns in Sachsen umschauen – von Döbeln bis Annaberg und von Plauen bis Bautzen –, dann erleben wir Betriebe, die international wettbewerbsfähig sind. Hidden Champions sind Marktführer. Wir haben eine Reindustrialisierung erreicht; viele industrielle Kerne wurden wieder aufgebaut und haben sich mittlerweile zu Wachstumszentren entwickelt.

Wir haben in den letzten Jahren auch eine positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote in Sachsen ist auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Damit stehen wir besser da als die neuen und auch einige alte Bundesländer. Wer hier ernsthaft von einem gescheiterten Aufbau Ost spricht, der spricht den Menschen ihren berechtigten Stolz auf das von ihnen Geleistete ab.

(Beifall bei der SPD, der CDU und der Staatsregierung)

Deshalb möchte ich mich bedanken für den Fleiß, den Ideenreichtum, das Engagement der Beteiligten hier im Freistaat und natürlich auch bei denjenigen, die uns geholfen haben, auch die im Westen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz des gesamten Fortschritts und der nachweislich guten Zahlen beim Aufbau Ost dürfen wir die negativen Seiten nicht übersehen. Wir haben in den neuen Ländern immer noch eine niedrige Produktivität und geringere Steuereinnahmen, aber besonders die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind bei der Entwicklung der Löhne und Gehälter, aber auch bei der Arbeitszeit und den Arbeitsbedingungen zu kurz gekommen. Sächsische Beschäftigte sind sehr gut ausgebildet, fleißig und hoch motiviert, aber sie verdienen trotz längerer Arbeitszeiten immer noch knapp 79 % gegenüber dem Westen. Dabei wird immer wieder auf diese niedrige Produktivität verwiesen.

Das müssen wir uns aber genauer anschauen: Die Produktivität in Deutschland ist dort am höchsten, wo die größten Schreibtische stehen, also dort, wo die Konzernleitungen sind, und nicht dort, wo wirklich geschafft wird. Das können Sie auch praktisch belegen, wenn Sie einmal mit denjenigen reden, die aus Sachsen in den Westen gegangen sind, und reflektieren, wie ihre Kollegen sie sehen. Dann heißt das nämlich: Ihr Sachsen arbeitet intensiver, schneller und länger, und von daher ist die Frage der Produktivität etwas, wovon man sagen kann: Gerade unsere Leute sind höchst produktiv, sie sind sogar produktiver. Das als Maßstab für die Bewertung Ost – West heranzuziehen ist unfair.

In der jüngsten Zeit gab es einen Aufholprozess bei den Löhnen, der aber einzig und allein auf die Einführung des Mindestlohnes zurückzuführen ist. In keinem anderen Bundesland haben so viele Beschäftigte vom Mindestlohn profitiert wie in Sachsen, nämlich über 250 000 Menschen. Schaut man sich die Stundenlöhne in einigen Facharbeiterberufen genauer an, so liegen diese bei nur 67 % des Westniveaus. Diese Unterschiede sind nicht mehr erklärbar und für die Betroffenen auch nicht länger hinnehmbar.

Deshalb muss man sich tatsächlich die letzten 25, 26 Jahre anschauen. Seit der Wiedervereinigung ist die ostdeutsche Erwerbsgesellschaft geprägt von Menschen, die auch unter schwierigen Bedingungen Leistung abliefern und dabei ihre eigenen Interessen zurückstellen. Das sind Arbeitsspartaner, die wir hier in Ostdeutschland haben. Aus Angst um ihre Arbeitsplätze wurde mehr Arbeit bei weniger Lohn akzeptiert, wurden Mitbestimmungsmöglichkeiten nicht in Anspruch genommen; eine Kritik am eigenen Unternehmen war fast unmöglich. Es war dann für manche der einzige Ausweg, den Weg in den Westen zu gehen. Lohnzurückhaltung schien zum eigentlichen Wettbewerbsvorteil zu werden, aber wer das nicht wollte, wurde durch die hohe Arbeitslosigkeit diszipliniert.

Diese ungleiche Bezahlung, die fehlende Anerkennung und Wertschätzung vieler ostdeutscher Fachkräfte hat zu einem großen Frustpotenzial geführt, und das zeigt sich durchaus auch beim Sachsen-Monitor; das können Sie genau ablesen. Diese Stimmung ist durchaus gefährlich, weil es an dieser Stelle eben nicht um Fakten, sondern um Gefühle geht. Aber der Umgang damit ist entscheidend – wie gehen wir damit um? Wir dürfen nicht in die Falle derjenigen tappen, die genau mit dieser Angst weiterhin Geschäfte machen wollen; sondern unsere Aufgabe ist es, zu handeln. Wir müssen handeln, da helfen auch kein Drumherumreden und keine Schönfärberei, sondern es geht dabei um ein neues Denken, um neue Schwerpunkte in unserem politischen Handeln.

Der von Ihnen geforderte Politikwechsel ist doch schon seit geraumer Zeit eingeleitet worden. Die Niedriglohnstrategie gehört der Vergangenheit an. Wir haben die sächsische Innovations-, Industrie- und Mittelstandspolitik weiterentwickelt und sie mit dem Schwerpunkt „Gute Arbeit für Sachsen“ ergänzt. Unsere neue Wachstumsstrategie setzt vor allem am vorhandenen Bestand der kleinen und mittelständischen Unternehmen an und unterstützt diese bei der weiteren Entwicklung.

Hier stehen wir nur vor der großen Herausforderung: Unser Mittelstand ist ein entlohnungsschwacher Mittelstand. Nur kann man nicht auf der einen Seite sagen, wir brauchen Fachkräfte in der Zukunft, und glauben, man könne das weiterhin mit niedrigeren Löhnen. Wer Fachkräfte will, der muss auch an seinem Image arbeiten. Das Image muss beseitigt werden, entlohnungsschwaches Unternehmen zu sein.

Wir unterstützen aber nicht nur die Unternehmen, sondern setzen uns auch stärker für die Arbeitnehmerbelange ein, und zwar auf den unterschiedlichsten Ebenen – das ist neu für Sachsen, aber dringend notwendig. Im Mittelpunkt unseres Handelns steht die Stärkung der Tarifbindung, denn bei den tariflichen Entgelten haben wir inzwischen eine Angleichung zwischen Ost und West von 97 %. Die tarifgebundenen Unternehmen sind produktiver, innovativer und erfolgreicher bei der Fachkräftesicherung; deswegen haben wir ihnen auch einen Bonus bei der Novellierung der GRW-Förderung gegeben. Dort gibt es jetzt einen Bonus für die Unternehmen, die eine Tarifbindung haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen alles tun, um gute Arbeitsplätze in Sachsen zu schaffen und die Qualität der bestehenden Arbeitsbedingungen zu verbessern. Das zeigt sich schon beim Rückgang der prekären Beschäftigung. Wir wollen stärker in die Arbeitnehmer investieren durch das Recht auf Weiterbildung und Qualifizierung. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind für den Aufbau Ost massiv in Vorleistung gegangen.

Künftig muss die wirtschaftliche Entwicklung mit der sozialen Entwicklung wieder in Einklang gebracht werden, im Osten und im Westen gleichermaßen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ferdinand Lassalle sagte: „Alle große politische Aktion besteht in

dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“

Deshalb ist es richtig, dass wir über Biografien reden. Deshalb ist es richtig, dass wir über Ungerechtigkeiten reden, um nicht diesen zweiten Gefühlsstau im Osten zuzulassen, der sich dann destruktiv äußert.

Die Frage für uns ist, was wir mit den enttäuschten Hoffnungen machen. Ich kann nur wiederholen: Es geht um den Umgang damit. Wir brauchen einen differenzierten Blick auf Ostdeutschland, aber eben nicht diese einseitige Betrachtung. Wir dürfen die Ungerechtigkeiten nicht nur beschreiben, sondern wir brauchen das aktive Handeln, um gegen diese Ungerechtigkeiten vorzugehen und sie weiter abzubauen.

Dabei hilft auf der einen Seite das, was Petra Köpping macht: indem man über Biografien redet. Es geht auf der

anderen Seite aber darum, das aktive Handeln in den Mittelpunkt zu stellen, für mehr Gerechtigkeit in Ostdeutschland. Es lebt sich überall in Ostdeutschland gut.

Das ist unsere Aufgabe: die Lebensqualität, egal wo man lebt, aufrechtzuerhalten, als eine gute Lebensqualität; dafür zu sorgen, dass es auch in Zukunft so bleibt; denen, die davon noch nicht so viel haben, die Wege zu zeigen, und denen auf die Schulter zu klopfen, die daran mitgewirkt haben, dass Sachsen so gut dasteht, wie es jetzt dasteht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren! Die zweite Aktuelle Debatte ist abgeschlossen. Dieser Tagesordnungspunkt ist beendet.

Meine Damen und Herren! Wir kommen zu

Tagesordnungspunkt 3

Zweite Beratung des Entwurfs

Gesetz über die Kennzeichnungs- und

Ausweispflicht der Bediensteten der Polizei

Drucksache 6/1554, Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Drucksache 6/8788, Beschlussempfehlung des Innenausschusses

Den Fraktionen wird das Wort zur allgemeinen Aussprache erteilt. Es gilt die Reihenfolge: zunächst BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, danach CDU, DIE LINKE, SPD, AfD und die Staatsregierung, wenn das Wort gewünscht wird.

Wir beginnen mit der Aussprache. Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht Herr Abg.

Lippmann. Bitte sehr, Herr Lippmann.

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das staatliche Gewaltmonopol, also die Überlegung, dass ausschließlich der Staat das Recht hat, Gewalt zur Durchsetzung von Recht und Ordnung anzuwenden und Menschen die Freiheit zu entziehen, stellt wohl eine der größten zivilisatorischen und intellektuellen Errungenschaften dar. Es prägt bis heute unsere Vorstellung davon, was Rechtsstaatlichkeit ausmacht.

Eine der Kernfragen, welche die Menschen seit jeher daher auch bewegt, ist: Wie lassen sich jene, die mit den Sonderrechten zur Ausübung dieses staatlichen Gewaltmonopols ausgestattet sind, eigentlich wirksam kontrollieren? Genau darum geht es uns heute hier mit unserem Gesetzentwurf, der zum Ziel hat, nun auch endlich in Sachsen das Tragen von Namensschildern oder Nummerncodierungen für Polizeibedienstete zur Pflicht zu machen; denn wer durch unsere Gesetze größtmögliche Eingriffsrechte erhält, der muss auch bestmöglich kontrolliert werden.

So einfach und logisch dies klingt, so schwierig ist es in der Praxis, und zwar nicht, weil es an Strafvorschriften oder dergleichen fehlt, sondern weil wir auch in Sachsen mitunter das Problem haben, dass Ermittlungsverfahren gegen Polizeibedienstete häufig im Sande verlaufen.

Wenn von Anfang 2015 bis Mai 2016 von 767 Ermittlungsverfahren gegen Polizistinnen und Polizisten im Freistaat – in der Regel ging es um Körperverletzung im Amt – lediglich elf mit Anklage oder Strafbefehl endeten, dann kann dies vor dem Hintergrund, dass die Einstellungsquote hierbei weit höher ist als beim überwiegenden Teil der Bevölkerung, nur Folgendes bedeuten: Entweder sind unsere Polizistinnen und Polizisten die sprichwörtlichen Musterknaben oder es läuft etwas gehörig schief im Freistaat Sachsen.

Vieles spricht für Letzteres. Häufig werden die Verfahren vor allem deshalb eingestellt, weil ein Tatverdächtiger nicht ermittelbar ist. Um einem Verdacht nachzugehen, muss es überhaupt erst einmal möglich sein, einen Verdächtigen einwandfrei zu identifizieren.

Mit den nun vorgeschlagenen Änderungen des Polizeigesetzes sollen sächsische Polizistinnen und Polizisten deshalb bei ihren Diensthandlungen künftig ein klar und deutlich sichtbares Namensschild tragen. Bei geschlossenen Einheiten kann das Namensschild durch eine Nummern- oder auch durch einen Nummern-Buchstaben

Folge ersetzt werden, durch die sichergestellt wird, dass die Bediensteten jederzeit eindeutig identifizierbar sind.

Es sind übrigens weniger die Demonstrationslagen, aus denen für die Bediensteten ein erheblicher Nachteil entstehen kann, und damit meine ich nicht die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, sondern mehr die Bedrohungen und Gefahren, die sich bei den tagtäglichen Einsätzen, zum Beispiel bei eskalierenden Familienstreitigkeiten, ergeben.

Für solche Fälle sieht unser Gesetzentwurf vor, dass das Namensschild durch eine identifizierbare Nummer ersetzt werden kann. Bei unmittelbarer Gefährdung von Leib und Leben kann darüber hinaus gänzlich auf die Kennzeichnung verzichtet werden.

In der Anhörung ist deutlich geworden, ein substanzielles Argument gegen eine Kennzeichnungspflicht gibt es nicht mehr. Man mag über die konkrete Ausformung streiten, aber nicht über deren Sinn und Notwendigkeit.

Auch alle Befürchtungen über erhebliche Nachteile oder sogar Gefahren für Polizeibedienstete durch eine Kennzeichnungspflicht haben sich schlicht nicht bewahrheitet. Das zeigen die Erfahrungen in mittlerweile acht Bundesländern, in denen die Kennzeichnungspflicht eingeführt wurde. Beispielsweise war die Aufregung in Hessen ähnlich groß, wie sie hier und heute wahrscheinlich auch bei einigen im Sächsischen Landtag sein wird. Nach einem Jahr konstatierte der Sprecher des Innenministeriums – unverdächtig ein GRÜNER zu sein –, dass es beim Tragen der individuellen Kennzeichnung im Einsatz zu keinerlei Problemen gekommen sei.