Protocol of the Session on February 2, 2017

(Rico Gebhardt, DIE LINKE: Nicht einmal die Größe zu haben, der Überweisung eines Antrags zuzustimmen! – Unruhe bei den LINKEN)

Ich schließe den Tagesordnungspunkt und warte, bis Sie sich beruhigt haben.

(Rico Gebhardt, DIE LINKE: Kupfer,

schämst du dich nicht? Bei AfD-Anträgen

stimmt ihr zu bei der Überweisung! –

Wir haben doch

zugestimmt, Herr Gebhardt! Weil zwei sich

enthalten haben, machen Sie jetzt Theater! –

Ihr habt euch enthalten! –

Unruhe bei den LINKEN und der CDU)

Meine Damen und Herren, wollen wir die Sitzung fortsetzen? Manchmal muss man sich Luft machen, deswegen habe ich ein wenig gewartet.

Ich rufe auf

Tagesordnungspunkt 5

Die Entwicklung der extremen Rechten in den Landkreisen

und kreisfreien Städten des Freistaates Sachsen und

Maßnahmen zur Zurückdrängung des Problems

Drucksache 6/6532, Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE,

und die Antwort der Staatsregierung

Als Einbringer spricht zuerst die Fraktion DIE LINKE, danach folgen CDU, SPD, AfD, GRÜNE und die Staatsregierung, wenn sie es wünscht. Ich erteile jetzt der Frau Abg. Köditz das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit dem Jahr 2011 werden im Freistaat Sachsen jeden Tag durchschnittlich fünf rechts motivierte Straftaten begangen. Das ist viel, und es wird mehr. Im Jahr 2015 kletterte der Wert auf fast sieben Taten pro Tag. Insgesamt wurden von 2011 bis 2016 rund 10 300 Delikte mit einem rechten Tathintergrund verzeichnet. Im Jahr 2015 war die Fallzahl gegenüber dem Vorjahr um fast 40 % angestiegen. Von einer Entspannung ist seitdem nicht auszugehen.

Die teils erst vorläufigen Werte, die bei der Beantwortung unserer Großen Anfrage vorgelegt wurden, zeigen noch mehr: Immer häufiger richten sich die Straftaten gegen Asylunterkünfte, gegen vermeintliche oder tatsächliche politische Gegnerinnen und Gegner sowie gegen den Staat, seine Einrichtungen und Symbole. Deutlich gestiegen sind im Zeitverlauf die Gesamtzahl und der Gesamtanteil von Körperverletzungen. Die erfassten Straftaten betreffen nach Einschätzung der Polizei darüber hinaus fast fünf Dutzend unterschiedliche Strafrechtsnormen. Mehrfach inbegriffen ist der Vorwurf der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Die extreme Rechte ist selbstbewusst und gut organisiert. Sie sucht die Konfrontation. Angesichts dessen dürfen wir nicht sprachlos bleiben.

Der Sächsische Landtag hat sich in jüngster Zeit mit allzu vielen herausragenden Ereignissen befassen müssen: mit Freital und Heidenau, mit Clausnitz und Bautzen. Wir haben es, davon abgesehen, mit einem langfristigen und besonders ausgedehnten Problem zu tun, über das wir offen reden müssen; denn es ist in der Vergangenheit offenbar nicht gelungen, regelrechte Hochburgen der

extremen Rechten, in denen gezielt Angsträume geschaffen wurden, zu befrieden.

Vornan bei der aktuellen Entwicklung der Fallzahlen stehen nicht nur die Städte Dresden und Leipzig, sondern auch die Sächsische Schweiz. Wenn Sie die Statistiken von Opferberatungen hinzunehmen, in die mehr Informationen einfließen als in die polizeiliche Statistik, dann werden weitere Hotspots erkennbar. Darunter sind wohlbekannte Orte wie Wurzen, die schon vor 20 Jahren in einem sehr negativen Sinne Furore machten.

Meine Damen und Herren! Die Neunzigerjahre klopfen an. Wir sind gut beraten, naive Fehler von damals nicht zu wiederholen, als die Tür geöffnet und das Thema systematisch kleingeredet wurde. Dass das Thema in Wirklichkeit groß geblieben und zuletzt wieder angewachsen ist, ist leider auch politischen Fehlern zu verdanken. Dazu gehört, dass es die Staatsregierung bis heute versäumt hat, ein Gesamtkonzept mit Handlungen zur Zurückdrängung der extremen Rechten vorzulegen.

Das Problem, vor dem der Freistaat steht, ist nicht nur unter kriminalistischen Gesichtspunkten relevant. Strukturen der extremen Rechten, insbesondere Ableger der Neonazi-Szene, existieren in Sachsen flächendeckend. Der vorläufige Abstieg der NPD hat daran nichts geändert, und mit Parteien wie „Der Dritte Weg“ und „DIE RECHTE“ stehen bereits neue Vereinigungen bereit, sie zu beerben. Der Vogtlandkreis ist aktuell ihr Experimentierfeld. Von einer baldigen Ausweitung ist leider auszugehen.

Die Szene geht über alle Zersplitterungen hinweg arbeitsteilig vor. Das zeigt ihre gezielte rassistische Agitation, die wir in den vergangenen drei, vier Jahren beobachten mussten. Den extrem Rechten in Sachsen steht außerdem eine gut ausgebaute Infrastruktur zur Verfügung. Seit 2011 konnten mehr als 60 Objekte als Szenetreffpunkte erschlossen werden. Einige davon werden dauerhaft

genutzt. Allein im vergangenen Jahr standen 45 Objekte zur Verfügung. Darunter ist mit dem sogenannten Alten Schlachthof in Staupitz im Landkreis Nordsachsen auch eine der bundesweit bedeutsamsten Stätten für rechtsextreme Konzerte. Es ist befremdlich, dass dagegen nicht eingeschritten werden kann. Stattdessen wurde dort ein Arrangement getroffen, das die Durchführung von zehn Konzerten pro Jahr ermöglicht. Solche Events sind für die Szene nicht nur Gelegenheiten zur weiteren Vernetzung, sondern auch eine kontinuierliche Einnahmequelle.

Vor diesem Hintergrund ist das Herumdoktern an der Parteienfinanzierung, nur um die NPD zu treffen, aus meiner Sicht nur eine Phantomdebatte. Ich erinnere mich außerdem noch gut daran, wie sich das Innenministerium vor vielen Jahren für einen sogenannten Konzerterlass loben ließ, mit dem rechtsextreme Musikveranstaltungen unterbunden werden sollten. Dieser Erlass ist angesichts von Staupitz offensichtlich seit Langem gegenstandslos.

Es ist natürlich nicht so, dass es angesichts der Entwicklungen, die sich inzwischen seit Jahrzehnten in Sachsen vollziehen, keine Reaktionen gegeben hätte. Inzwischen sind im Freistaat einige herausragende Gruppierungen verboten worden: die „Skinheads Sächsische Schweiz“ im Jahr 2001, die „Kameradschaft Sturm 34“ im Jahr 2004, die „Nationalen Sozialisten Döbeln“ im Jahr 2013 und schließlich die „Nationalen Sozialisten Chemnitz“ im Jahr 2014. Ich zweifle nicht daran, dass diese Verbote richtig und notwendig waren. Ein Allheilmittel waren sie aber nie und werden es auch künftig nicht sein.

Diese Verbote erzählen auch im konkreten Fall keine Erfolgsgeschichten. Erstens eilen die jüngeren dieser Maßnahmen der Realität hinterher. Die Gruppe aus Chemnitz war ein gutes Jahrzehnt lang gar nicht behelligt worden. Die Gruppe aus Döbeln war zum Zeitpunkt des Verbots schon nicht mehr relevant. Über ein mögliches Verbot der sogenannten Nationalen Sozialisten Geithain wurde offenbar erst nachgedacht, nachdem die dahinterstehende Struktur diese Bezeichnung abgelegt hatte. Im Falle der „Terror Crew Muldental“ wurde ein Verbot erst geprüft, nachdem eine umfangreiche Gewaltwelle bereits die Gerichte beschäftigte.

Zweitens sehen wir, dass solche Maßnahmen antizipiert werden. Offenbar rein vorsorglich hat sich Anfang 2014 die „Revolutionäre Nationale Jugend Vogtland“ der Partei „Der Dritte Weg“ angeschlossen.

Restbestände der „Nationalen Sozialisten Chemnitz“ sind übrigens den gleichen Weg gegangen.

Frühere Führungspersonen der „Nationalen Sozialisten Döbeln“ sind bei den „Jungen Nationaldemokraten“ der NPD untergekommen.

Der harte Kern der Neonaziszene verschleiert gezielt die eigenen Strukturen und sucht Zuflucht unter dem legalen Dach von Parteien. Dieses Verwirrspiel war besonders erfolgreich im Falle des „Kameradschaftsverbandes Freies Netz“. Hier fiel das Sächsische Innenministerium auf einen Vernebelungsversuch von rechts herein und

mochte nicht einmal eine Struktur erkennen. In Bayern dagegen ist eine ähnliche Struktur, das „Freie Netz Süd“, verboten worden. Einige Führungspersonen sind inzwischen ganz gezielt nach Sachsen ausgewichen und ziehen hier die Neonazipartei „Der Dritte Weg“ hoch.

Drittens – und das ist das größte Problem –: Das Verbot einer Gruppierung richtet nicht nur gegen die Ideologie nichts aus, sondern ist auch völlig machtlos gegen die gefestigten Netzwerke, deren Anhängern es am Ende egal ist, ob und unter welcher Bezeichnung sie nach außen hin auftreten. Schauen Sie, was in Heidenau passiert ist! Schauen Sie, wer am Überfall in Leipzig-Connewitz vor einem Jahr beteiligt war! Da treffen Sie auf die alten Kader der „Skinheads Sächsische Schweiz“. Da stoßen Sie auf ein Kapitel des Rechtsextremismus in Sachsen, von dem wir doch dachten, man hätte es schon vor anderthalb Jahrzehnten abgeräumt. Da sind sie wieder, die Zustände der Neunzigerjahre, teilweise sogar mit den gleichen Personen.

Ich führe das alles nicht auf, um grundsätzlich zu irgendwelchen härteren Maßnahmen zu raten. Wir sind uns hoffentlich einig, dass in einem Rechtsstaat Verbote die Ausnahme bleiben sollten. Das Problem sind vielmehr der falsch gewählte Fokus und die einseitige Schwerpunktsetzung. Wann immer in den vergangenen Jahren die Sprache auf die extreme Rechte in Sachsen kam – das geschah sehr, sehr oft –, konnte die Staatsregierung auf das große Vorzeigeprojekt verweisen: das NPD-Verbotsverfahren.

Ich wünschte, dass nur annähernd so viel Akribie und Aufmerksamkeit, wie in dieses Verfahren gesteckt wurden, der Präventionsarbeit, der politischen Bildung und der Unterstützung von Betroffenen rechter Gewalt zugute gekommen wären. Ich wünschte, dass es gelungen wäre, annähernd so viel Energie für die fortwährende Analyse des Problems aufzuwenden.

Das Landesamt für Verfassungsschutz ist in dieser Hinsicht leider ein Totalausfall, trotz aller großen Versprechungen, die seit Ende 2011 – wir wissen ja, warum – gemacht worden sind. Nehmen Sie die sogenannte Identitäre Bewegung: Da wurde vier Jahre lang geprüft, ob man sich überhaupt zuständig fühlt, und schließlich doch die Beobachtung aufgenommen. Das klingt ganz schön schwerwiegend, bedeutet aber in Wirklichkeit gar nichts. Auf unsere Große Anfrage konnte zu den „Identitären“ lediglich mitgeteilt werden, in welchen Regionen ihre Ortsgruppen aktiv sind. Mit Verlaub: Das steht offen im Internet. Das nachzulesen und aufzuschreiben ist kein Beitrag zum Schutz der Verfassung. Für so etwas brauchen wir keinen Geheimdienst!

Noch gravierender ist es im Fall der „Reichsbürger“. Dazu wurde in der Antwort auf die Große Anfrage schlicht gar nichts mitgeteilt. Nur gut, dass ich auch Kleine Anfragen stelle. So kam dieser Tage die Antwort auf die Frage nach Aktivitäten sogenannter Reichsbürger in Sachsen 2016: 254 Straftaten wurden im Jahr 2016 von sogenannten Reichsbürgern verübt. Körperverletzung, Brandstiftung, Diebstahl, Hausfriedensbruch, sexueller

Missbrauch von Kindern – die Liste ist lang. Lesen Sie bitte selbst nach, Drucksachennummer 6/7865.

Es gibt noch mehr solcher blinden Flecke. Ich denke zum Beispiel an die erhebliche Schnittmenge von Neonazi- und Hooliganszene. Dabei ist es in Wirklichkeit ganz leicht nachzuvollziehen, wo zum Beispiel die Anhängerschaft einer mutmaßlich kriminellen Vereinigung wie der „Freien Kameradschaft Dresden“ herkommt. An solchen – vermeintlich neuen – Entwicklungen ist überhaupt nichts neu, sondern es ist seit Jahren bekannt, in der Wissenschaft, in der Zivilgesellschaft, in den Medien. Einigermaßen neu ist lediglich die äußerst einfältige Idee, einen Teil des Problems aus dem eigenen Gesichtsfeld zu verbannen, indem man in der Neuländer Straße den Begriff „Asylkritik“ erfand. Die Tatsachen, die wir buchstäblich auf der Straße sehen können, führen diese Differenzierung genauso ad absurdum wie die Unterscheidung in eine „subkulturelle“ und eine „neonationalsozialistische Szene“.

Wir haben es – ich sage es noch einmal – mit Netzwerken zu tun. Sie gehen arbeitsteilig vor, und sie sind gewalterprobt.

Meine Damen und Herren! Wir müssen auf die beschriebenen Entwicklungen nicht starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Wir können nicht hoffen, dass sich die Schlange – wie bei der NPD – am Ende nur als fetter Regenwurm entpuppt.

(Heiterkeit)

Das Problem, von dem wir reden, ist größer, als es die NPD je war. Das Problem ist in Sachsen chronisch und akut zugleich.

Wir hören aktuell immer so viel von „Gefährdern“. Als wir bereits vor einem Jahr die Staatsregierung fragten, inwieweit im Zuge der sogenannten asylfeindlichen Mobilisierung auch Gefährderansprachen genutzt werden, erhielten wir zur Antwort: Gar nicht!

Wir haben erst neulich gehört, dass es für „Reichsbürger“ schwerer werden soll, legal an Waffen zu gelangen. Wir wissen aber, was das konkret heißt. Seit 2011 überprüfte das Landesamt für Verfassungsschutz 100 amtsbekannte Rechtsextremisten, die waffenrechtliche Erlaubnisse

besitzen oder die diese erlangen wollten. Erfolgreich und endgültig gestrichen wurde diese Erlaubnis am Ende in genau drei Fällen! 100 wurden in fünf Jahren geprüft, in drei Fällen ist dann etwas passiert.

(Zuruf von der AfD: Weil nichts dran war!)