Protocol of the Session on September 17, 2015

Wir kommen nun zum

Tagesordnungspunkt 5

10 Jahre Hartz IV in Sachsen: Ergebnisse, Erfahrungen, Schlussfolgerungen

Drucksache 6/1093, Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE,

und die Antwort der Staatsregierung

Wir kommen jetzt zur Diskussion. Als Einbringer spricht zuerst die Fraktion DIE LINKE. Danach folgen CDU, SPD, AfD, GRÜNE und die Staatsregierung, wenn sie es wünscht. Ich erteile jetzt der Linksfraktion das Wort. Frau Abg. Schaper, bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Einführung von Hartz IV durch SPD, GRÜNE und CDU wurde etwas geschafft, das man der sozialen Marktwirtschaft bisher noch nicht zugetraut hatte: die frontale Umverteilung von unten nach oben. Zwar sind die Arbeitslosenzahlen im Langzeittrend gesunken, die Zahl der Hartz-IV-Betroffenen blieb aber relativ konstant. Niedriglohnsektor und prekäre Beschäftigungen hingegen haben dank Hartz IV zugenommen. Die Kinderarmut hat sich bundesweit verdoppelt, laut dem Kinderhilfswerk sogar auf 2,8 Millionen. Da überrascht es nicht, dass wenige Themen uns als LINKE so beschäftigen wie dieses.

Passend zum traurigen Jubiläum haben wir eine Große Anfrage „Zehn Jahre Hartz IV in Sachsen: Ergebnisse, Erfahrungen, Schlussfolgerungen“ gestellt. Wir wollten etwas zu den Auswirkungen der Hartz-IV-Regelungen für Sachsen erfahren und die Antworten natürlich auch bewerten. Leider wurden von 205 Fragen nur 68 sachgerecht beantwortet. Auf 91 Fragen erhielten wir überhaupt keine Antwort. Bei 46 versuchte man sich zumindest an einer teilweisen Beantwortung. Das heißt, nicht mehr als

ein Drittel unserer Fragen wurde beantwortet. Dies ist eine Unverschämtheit gegenüber der Opposition.

(Beifall bei den LINKEN)

Vielleicht handelte man auch nach dem biblischen Vorsatz aus dem Buch Sirach, Kapitel 5, Satz 12:

(Oh-Rufe von der CDU)

„Antworte einem anderen nur, wenn du weißt, wovon du redest. Sonst halte lieber den Mund.“ Das Desinteresse der Staatsregierung lässt auf jeden Fall genügend Spielraum für derartige Spekulationen. Es ist schon ein Skandal, wie selbstherrlich und ignorant die Staatsregierung entscheidet, wozu sie Stellung nimmt!

(Vereinzelt Beifall bei den LINKEN – Christian Piwarz, CDU: Noch lauter!)

Selbstherrlichkeit ist man ja von der CDU gewohnt. Dass aber die SPD diesen Kurs mitträgt, ist kein Einzelfall. Da zumindest einige Antworten gegeben wurden, haben wir uns die Mühe gemacht, inhaltliche Aspekte herauszugreifen, um die Position der Staatsregierung, sofern erkennbar, zu kommentieren.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Schaper?

Aber Herr Krauß, Sie dürfen sich mal so fühlen wie wir, wenn Fragen nicht beantwortet werden.

Würden Sie mir bitte antworten, ob sie eine – –

Gut.

(Alexander Krauß, CDU: Wir dürfen sie ja nicht mal stellen, Frau Schaper!)

– Das Leben ist hart. Da muss ich auch durch. Ja, ja.

(Heiterkeit bei den LINKEN)

So schätzt die Regierung ein, dass sich Hartz IV auch in Sachsen als tragfähig erwiesen habe und daher fortgesetzt werden sollte, jedoch benennt man nicht – und das ist auch nicht neu –, was sich denn bewährt hat und was nicht. Das überlässt man wohl der Fantasie. Im Vergleich zur Staatsregierung sehen wir die Folgen von zehn Jahren Hartz IV in Sachsen völlig anders. Hartz IV führte zu einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft. Hartz IV ist Armut per Gesetz und sollte endlich abgeschafft werden.

(Beifall bei den LINKEN)

Auch in ihrer aktuellen Zusammensetzung will die Staatsregierung die Bilanz von Hartz IV positiv darstellen, zum Beispiel mit dem Argument, dass die Zahl der registrierten Bedarfsgemeinschaften und ihrer Mitglieder gesunken ist. Dass einige jedoch in Rente gegangen sind und außerdem ein Wirtschaftsaufschwung zu beobachten ist, der sich positiv auf den Arbeitsmarkt auswirkt, kann man nicht als Erfolg von Hartz-IV-Gesetzen verkaufen. In Sachsen sind immer noch fast 400 000 Menschen von Hartz IV betroffen. Wenn man dann noch sieht, dass die Eingliederungsmittel gesunken sind, während die Verwaltungskosten fast stagnieren, meint man, dass die Staatsregierung daran auf keinen Fall etwas ändern will.

Dabei möchte ich ihr noch nicht einmal Vorsatz unterstellen. Ich glaube vielmehr, sie weiß es einfach nicht besser. Als Apologet einer neoliberalen Wirtschaftspolitik nimmt man selbstverständlich an, dass der Arbeitsmarkt das schon regeln wird, aber, meine Damen und Herren, öffnen Sie die Augen und lassen Sie die Realität auf sich wirken, dann merken Sie vielleicht, dass Sie auf dem Holzweg sind.

Was mich noch maßlos ärgert: Die Staatsregierung hat nichts unternommen, um Hartz-IV-Regelungen wenigstens sozial verträglicher zu gestalten. Natürlich kann sich eine Landesregierung nicht über Bundesgesetze hinwegsetzen. Doch die Staatsregierung ist dem Wohl der gesamten sächsischen Bevölkerung verpflichtet, zu der auch Hartz-IV-Empfänger gehören. Sie hat daher ständig zu analysieren, welche Auswirkungen sich durch Hartz IV für die Menschen in Sachsen ergeben. Sie müssen dieses Wissen beschaffen, um Auskunft zu geben und beurteilen zu können, wie sich durchschnittliche Realeinkommen entwickelt haben und ob der beschlossene Regelsatz

überhaupt noch ausreicht, um wenigstens ein einigermaßen gesichertes Leben zu garantieren. Wenn die Staatsregierung diesen Auftrag ernst genommen und sich in Sachsen umgeschaut hätte, hätte sie schon lange Vorschläge machen können, um Änderungen bei Hartz IV herbeizuführen, aber daran hat sie in Sachsen wohl kein Interesse. Man könnte fast annehmen, Armut sei von ihr gewollt. Armut degradiert den mündigen Menschen schließlich zum Bittsteller. Sozial Abgehängte lassen sich leichter beherrschen. Ich formuliere mutig, auch das ist ein Grund für die 25-jährige CDU-Herrschaft in Sachsen und das Ergebnis derselben.

(Beifall bei den LINKEN – Widerspruch bei der CDU)

Meine Damen und Herren! Wir haben mehrere Fragen zur gegenwärtigen Datenerhebung gestellt. Ergebnis ist die Aussage, dass die Staatsregierung die gegenwärtig verfügbare Datenbasis für ausreichend hält, um Hartz IV und dessen Auswirkungen zu bewerten.

Warum diese Bewertung nicht vorgenommen wird, bleibt unklar. Wir glauben, dass Sie an tiefergehenden Analysen der Lebenslagen in Sachsen nicht interessiert sind. Daraus könnte sich vielleicht ein politischer Handlungszwang ableiten, dem die CDU erfahrungsgemäß sowieso lieber ausweicht. Nicht ohne Grund scheiterte auch der Antrag unserer Fraktion, der die Staatsregierung aufforderte, einen neuen Lebenslagenreport für Sachsen vorzulegen. Dabei geht es nicht darum, einen Datenfriedhof zu errichten.

Für uns ist es wichtig, Folgendes zu wissen: Ob und wie wirken Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen? Wie viele sogenannte Zwangsumzüge wurden wegen zu teurer Wohnungen veranlasst? Wie viele Menschen wurden genötigt, nach Vollendung des 63. Lebensjahres mit dauerhaften Abschlägen in Rente zu gehen, damit sie aus dieser Statistik fallen? Außerdem ist es wichtig zu wissen, in welchem Familienstand sich Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft befinden und ob es sich um Menschen mit Behinderung handelt, ob Wohnungslosigkeit vorliegt oder welches Qualifikationsniveau erreicht wurde.

In der 5. Legislaturperiode hatte das die SPD auch noch so gesehen. Entweder hat sie in kurzer Zeit einen Sinneswandel durchlaufen oder sie wurde überhaupt nicht in die Beantwortung unserer Fragen einbezogen. Letzteres ließe Rückschlüsse zum Demokratieverständnis der CDU zu, Ersteres müsste jeder anständige Sozialdemokrat als Schlag in die Magengrube betrachten.

Interessant wird es auch beim Thema Datenschutz. Dessen Bestimmungen werden angeblich eingehalten. Die Staatsregierung ist zu dieser Bewertung gekommen, zumal sie doch angeblich keine Erkenntnisse dazu besitzt. Ein wirklicher Persönlichkeits- und Datenschutz für Menschen, die auf staatliche Leistungen angewiesen sind, existiert nicht. Für Empfänger von Sozialleistungen gelten faktisch weder das Bankgeheimnis noch die Unverletzlichkeit der Wohnung. Bezieher von Hartz IV werden zu

Bürgern zweiter Klasse, die sich unangemeldeten Kontrollen von Mitarbeitern des Jobcenters ausgesetzt sehen und einen Offenbarungseid leisten müssen.

Die Staatsregierung nimmt dies hin. Bei Betroffenen handelt es sich ohnehin nicht um die Klientel, welche von Ihnen angesprochen wird. Vermutlich behauptet sie deshalb auch, dass der Bezug von Arbeitslosengeld II und anderen Leistungen auf Sozialhilfeniveau Armut verhindere. Dabei, und das verschweigt sie, definiert die Staatsregierung Armut aber einfach neu – Zitat –: „Wegen der bestehenden Einkommensunterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern ist zur Ermittlung des Anteils der sächsischen Bevölkerung, der als armutsgefährdet gilt, nicht der Bundesmedian, sondern der sächsische Median heranzuziehen.“ Meine Damen und Herren! Das ist nicht nur frech. Das ist obszön. Wenn man bedenkt, dass auch in Sachsen Menschen arbeiten gehen und trotz Mindestlohn aufstocken müssen, muss man endlich erkennen, dass nicht nur Arbeitslose armutsgefährdet sind, sondern auch arbeitende Menschen.

(Beifall bei den LINKEN – Jens Michel, CDU: Jetzt wird es wieder leiser!)

Während sich Lebenshaltungskosten in Ost und West immer weiter angleichen, hinkt der gesamte Osten – ganz besonders Sachsen – beim Lohnniveau hinterher. Das ist der zweifelhafte Verdienst der CDU, die eben nicht den Bundesmedian heranzieht und somit auf die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Ost und West abzielen möchte. Sie sorgt bewusst dafür, dass man in Sachsen weniger Geld als im Rest der Republik verdient. Für uns ist Folgendes klar: Alle, die Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld beziehen, gelten nach EU-Kriterien nicht nur als arm, sie sind es tatsächlich. Da die Regelleistungen des SGB II und XII unterhalb der Armutsgrenzen liegen, ist der Anteil derer, die hierzulande arm sind, weitaus höher als der Anteil von Beziehern staatlicher Leistungen.

Bei der Bewertung der Staatsregierung verwundert es auch nicht, dass sie den Regelsatz für angemessen hält. Wörtlich heißt es, „dass mit der Regelleistung im vertretbaren Umfang eine Teilnahme am öffentlichen Leben gewährleistet sei“. Dabei betrachtet das Bundesverfassungsgericht anstelle der momentan 399 Euro mindestens 485 Euro als angemessen. Sozialverbände fordern einen Regelsatz von 500 Euro.

Als mächtigste der Parteien fühlt man sich offenbar über diese Kritik erhaben. Man beansprucht die absolute Wahrheit. Dabei dokumentiert man nur, dass einem das Leid der Betroffenen und deren Stigmatisierung völlig gleichgültig ist. Nicht weniger abwegig ist im Übrigen die Auffassung der Staatsregierung, dass Sanktionen nach wie vor erforderlich seien. Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass etwas sozialdemokratisches Rot – pardon Rosa – auf den schwarzen Block abfärbt. Hierbei werden wir den niedrigen Erwartungen auch wieder voll entsprechen.

(Georg-Ludwig von Breitenbuch, CDU: Der schwarze Block ist doch etwas anderes?!)

Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei Hartz IV um eine Leistung der Grundsicherung handelt, frage ich mich, wie man es verantworten kann, das Existenzminimum zu kürzen und zu sanktionieren. Wie kann eine Regierung in Sachsen Empathie für das Leid von Flüchtlingen fordern, wenn sie selbst nicht imstande ist, Leid zu erkennen?

(Beifall bei den LINKEN)

Was bedeutet eine Kürzung der Grundsicherung? Sie bedeutet, dass der Betroffene Dinge des alltäglichen Bedarfs wie Miete, Strom und Essen nicht in vollem Umfang bezahlen kann. Das in Kauf zu nehmen ist unanständig. Mit christlichen Werten hat das nichts zu tun. Sie können zehnmal behaupten, dass das Existenzminimum selbst bei völliger Einstellung des Leistungsbezugs gewahrt bleibt. Mit Verlaub, das ist Schwachsinn hoch drei.

(Beifall bei den LINKEN)

Auch die Frage, ob die von der Bundesagentur für Arbeit gezahlten Mindestbeiträge für Hartz-IV-Betroffene in die gesetzliche Krankenkasse kostendeckend sind, kann und möchte die Staatsregierung nicht beantworten. Seit dem Jahr 2011 werden ALG-II-Betroffenen keine Rentenbeiträge mehr bezahlt. Die Folgen sind zunehmende Altersarmut für die Betroffenen und steigende Sozialversicherungsbeiträge für die übrigen. Das ist für jeden klar, außer für die Staatsregierung, so wie es scheint.

Fazit ist folgendes: In den seltenen Fällen, in denen die Staatsregierung zu einer Einschätzung gekommen ist, war diese mindestens fragwürdig und in der Regel realitätsfremd. Natürlich handelt es sich bei Hartz IV um ein Bundesgesetz. Eine verantwortungsvolle Staatsregierung aber sollte sich zumindest bemühen, dessen Auswirkungen auf die betroffenen Bürger zu untersuchen. Immerhin reden wir von 400 000 Sächsinnen und Sachsen.

Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Anmerkung. Als es um die Einführung des Mindestlohns ging, konnte die damalige CDU/FDP-Staatsregierung gar nicht genug Bewertungen abgeben. Diese zielten darauf ab, den Mindestlohn zu verhindern und ein Horrorszenario zu zeichnen. Das war, wie wir heute wissen, Propaganda. Offenbar ist die Staatsregierung nur bereit, Politikfolgen zu bewerten, wenn dadurch soziale Verbesserungen für die Bevölkerung verhindert und Stimmungsmache geschürt werden kann. Das ist nicht nur übel. Es ist eine wesentliche Ursache für Politik- und Politikerverdrossenheit in Sachsen. Das wiederum bedroht den sozialen Frieden.

Wir fordern Sie deshalb auf, sich Ihrer Verantwortung nicht länger zu entziehen. Sachsen hat in letzter Zeit genug Schaden genommen, nicht zuletzt auch durch Hartz IV. Falls Sie das nicht schlimm finden sollten, sei Folgendes angemerkt: Auch die Ihnen am Herzen liegende sogenannte soziale Marktwirtschaft nimmt dadurch Schaden.

Vielen Dank.