Protocol of the Session on September 19, 2013

Ich habe mich geirrt, das gebe ich zu. Also, so eine Fachregierungserklärung ist eigentlich ein guter Anlass, einmal zu sagen: Wo stehen wir denn in der sächsischen Justiz? Da lasse ich jetzt die Stichworte, die schon angerissen sind und über die sich auch trefflich zu reden lohnt – ob das nun Karl Nolle, Lothar König, die Funkzellenabfrage, Tim H. oder der „Sturm-34“-Prozess ist –, einmal alle außen vor.

Herr Schiemann hat ja recht. Er sagt, der entscheidende Punkt ist: Was leistet die sächsische Justiz für die Bürgerinnen und Bürger? Wir müssen einfach nur schauen, wie

es denn aussieht: Wenn jemand zum Amtsgericht geht und recht haben oder bekommen oder zumindest ein Urteil haben will, dann bekommt er das im Durchschnitt innerhalb von fünf Monaten – gar nicht so schlecht.

Bei den Sozialgerichten sieht es schon anders aus: Durchschnittlich dauert es hier zwölf Monate, bevor das Gericht eine Entscheidung getroffen hat, an den sächsischen Verwaltungsgerichten 16 Monate, am Oberverwaltungsgericht 20 Monate, an den Finanzgerichten 18 Monate. Das sind keine „Ausreißerjahre“, sondern wir belegen in der Fachgerichtsbarkeit seit vielen Jahren immer die hintersten Plätze: Platz 12, 13, 14 oder 15. Das haben wir abonniert und selbst Eilverfahren an Verwaltungsgerichten dauern im Durchschnitt ein halbes Jahr.

Mit Bürgerfreundlichkeit und einer schnellen, effektiven Justiz sind wir noch nicht ganz am Ende der Messlatte.

Wer angesichts dieser Zahlen dann noch das Widerspruchsverfahren abschaffen und die Bürger gleich zum Verwaltungsgericht schicken will, der kann sich überlegen, welchen Sinn es macht, gerade so ein bürgerfreundliches und kostenfreies Verfahren abschaffen zu wollen.

(Vereinzelt Beifall bei der SPD und den LINKEN)

So sieht es in den Gerichten aus. Das Thema Justizwachtmeister in den Gerichten ist schon angesprochen worden; das sind diejenigen, die dort für Sicherheit sorgen. Deren Verdienst ist weit unter dem von Polizei- oder Justizvollzugsbeamten, obwohl sie eigentlich die gleiche Tätigkeit machen – mit dem gleichen Gefährdungspotenzial. Wir hatten zunächst die Polizeibeamten für eine Weile zur Haushilfe; jetzt haben wir die Privatisierung der Sicherheitskontrollen in den Gerichten. So richtig bürgerfreundlich, sicher und zukunftsgewandt scheint uns das auch nicht.

Wenn wir uns überhaupt einmal die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anschauen – über 8 000; der Staatsminister hat es gesagt –: Wir belegen insgesamt im bundesweiten Durchschnitt Platz 15 bei der Besoldung. Es gibt nur noch ein Bundesland, in dem sie noch weniger verdienen. Und wir fragen uns, warum wir solche Schwierigkeiten haben, qualifizierten Nachwuchs zu gewinnen!

Über die Streichung der Sonderzulage haben wir in dieser Runde schon sehr oft gesprochen, das muss ich nicht noch einmal erwähnen. In der Dienstrechtsreform finden Sie in der Stellungnahme der Rechtspfleger die launige Bemerkung, dass das Versprechen, dies wieder einzuholen, auch nicht wirklich gehalten worden ist. Mit Blick auf den neuen Familienzuschlag: Vier Kinder kompensieren die gestrichene Sonderzulage – also, wir tun etwas für den Nachwuchs in Sachsen. Die zeit- und inhaltsgleiche Übertragung des Tarifergebnisses wurde ja auch von der Staatsregierung abgelehnt.

All das sind Punkte, die den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern natürlich nicht viel an Motivation und Stärkung geben.

Die Gerichtsvollzieher, die im mittleren Dienst arbeiten, deren Aufgabengebiet sich aber stark vergrößert hat, sind angesprochen worden. Sie übernehmen viele Aufgaben aus dem gehobenen Dienst und erhalten dafür keine Anerkennung; es gibt kaum Beförderungen. Die Verweildauer in den Besoldungsgruppen beträgt bis zu 25 Jahre. Die Rechtspfleger haben ein ähnliches Problem: Von der amtsangemessenen Besoldung sind sie mittlerweile auch weit entfernt. Die Anforderungen und Aufgaben hingegen steigen.

Unsere Justizvollzugsbeamten haben es dank Hartnäckigkeit geschafft, im letzten Haushalt bei uns allen – insbesondere bei der Mehrheit hier im Landtag – eine kleine Anzahl von Stellenhebungen zu erreichen. Das macht das Kraut noch nicht fett; wir haben dort einen hohen Altersdurchschnitt, einen hohen Krankenstand wegen Überlastung, und die, die dann noch im Dienst sind, haben dadurch noch mehr Belastung, weil sie die kranken Kollegen ersetzen müssen.

Damit bin ich bei den Justizvollzugsanstalten – wie sieht es da aus? Wir haben vor einer Weile den Paketempfang für Insassen in Sachsen abgeschafft, weil es zu wenige Beamte gibt, um die Kontrollen ordentlich durchführen zu können. Hätten wir mehr Justizvollzugsbeamte, dann hätten wir uns diese Maßnahme auch sparen können. Wir haben das neue Strafvollzugsgesetz – tatsächlich eine Erfolgsgeschichte, schon was den Entwurf angeht; es war ja auch nicht so schwer, sich an den Musterentwurf zu halten, als auch was die fraktionsübergreifende Zusammenarbeit angeht. Wir haben hier Gutes getan, aber wir haben in den Anstalten kein Personal zur Umsetzung dessen, was wir uns vorgenommen haben.

Wir haben in Dresden oft die Situation, dass ein Bediensteter zwei Stationen – also 50 Insassen – betreuen muss. Wir haben in Dresden für ungefähr 850 Insassen fünf Psychologen, in Görlitz für 200 Inhaftierte einen Psychologen. Wie wollen wir denn da an Resozialisierung und Behandlungsvollzug kommen?

Viele unserer Anstalten sind überbelegt, und zwar nicht nur bei 95 oder 98 %, sondern bei 105, teilweise 110 %, und das über Wochen und Monate. Ich erwähne, Herr Staatsminister, auch hier noch einmal das Stichwort Gangschläfer und überlasse es der Fantasie der Abgeordneten zu überlegen, was „Gangschläfer“ in Justizvollzugsanstalten – überbelegt mit 110 % – bedeutet.

Trotz alledem ist die neue JVA zwar geplant, aber in weiter Ferne. Wir haben bis heute keinen Standort, geschweige denn eine Vorstellung davon, wann sie eröffnen kann. Ich persönlich halte es auch für einen konzeptionellen Fehler, eine solche Mammutanstalt zu errichten. Wir haben Probleme mit der heimatnahen Unterbringung, Probleme mit der Resozialisierung, und da ist es nicht vernünftig, an erster Stelle weiter auf Wirtschaftlichkeit zu setzen und die fachlichen Belange außen vor zu lassen.

Stichwort Resozialisierung, Rückfallvermeidung: Wir haben in Sachsen immer noch keine Rückfallstatistik, wir haben immer noch keine kriminologische Forschung,

keine Untersuchung, wie unser Strafvollzug wirkt. Was wir wissen, ist: Von den Insassen in den sächsischen Justizvollzugsanstalten sind 73 % schon einmal verurteilt gewesen und haben schon einmal eingesessen. Im Bundesdurchschnitt liegt die Rückfallquote bei 33 %. Nun sind die Statistiken nicht deckungsgleich, weil wir in Sachsen eben noch nicht so richtig evaluieren, aber trotz alledem muss der Unterschied doch aufhorchen lassen: Wie kommt es, dass bei uns drei Viertel all derer, die im Gefängnis sind, schon mehrfach verurteilt waren?

Größere Reformen, Zukunftsweisendes – das habe ich in den letzten vier Jahren noch nicht gehört. Das Stichwort Selbstverwaltung der Justiz – der Freistaat Sachsen hat seit Jahrzehnten nichts unternommen, um sich dieser Idee zu nähern. Richtermitbestimmung ist etwas, was nach wie vor hier in Sachsen nicht einmal als Idee vorhanden ist.

Das Thema moderner Strafvollzug, Behandlungsvollzug, offener Vollzug habe ich angesprochen.

Schwerpunkt Staatsanwaltschaften – ein weiteres Stichwort, wo eigentlich Handlungsbedarf wäre. Wenn man in den Koalitionsvertrag schaut, da gab es noch das Vorhaben beim Normenerlass, immer gleich eine Normenstreichung vorzunehmen unter dem Stichwort Rechtsvereinfachung/Entbürokratisierung. Ich habe davon noch nichts gehört, aber vielleicht einer der Kollegen.

Beim Thema Altersstruktur, auf das der Staatsminister ganz am Ende seiner Erklärung eingegangen ist, muss man sagen, sind Sie schon zu spät. Wir hatten zu diesem Thema 2010 eine Anhörung, in der schon deutlich geworden ist, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht mit Einstellungskorridoren und Ähnlichem, und heute hören wir, wir müssen in Zukunft einmal darüber nachdenken, wie wir das bevorstehende Problem angehen. Es ist zu spät. Wir werden hier in die gleiche Situation laufen, in die wir in der sächsischen Schulpolitik geraten sind.

Darüber hinaus wollten Sie immer noch 1 000 Stellen einsparen und streichen, wobei völlig unklar ist, wie und wo, und vor allem, wie das, was hinterher noch von der Justiz übrig bleibt, sicher und ordnungsgemäß funktionieren soll.

Ich will auch einige positive Aspekte nennen: Positiv ist, dass der Koalitionsvertrag in wesentlichen Punkten nicht erfüllt worden ist. Das Widerspruchsverfahren gibt es weiterhin; es ist Ihnen nicht gelungen, es abzuschaffen.

(Staatsminister Dr. Jürgen Martens: Warten wir ab! – Carsten Biesok, FDP: Kommt noch!)

„Warten wir ab!“ habe ich gehört. Mal gucken.

Das Gerichtsvollzieherwesen ist nicht privatisiert worden. Es ist Ihnen nicht gelungen, dieses Vorhaben umzusetzen. Auch die Zusammenlegung der Fachgerichtsbarkeiten ist – Gott sei Dank! – vom Tisch; denn diese Idee hat sich ebenfalls als nicht umsetzbar erwiesen. Das sind doch drei recht positive Punkte, die aus dieser Wahlperiode übrig bleiben. Zumindest in diesen Punkten konnte die Ökonomisierung der Justiz weitestgehend gebremst werden.

Alles in allem: Uns erscheint Ihre Arbeit in dieser Wahlperiode noch nicht als Erfolgsgeschichte. Aber wir haben ja noch ein Jahr vor uns. Es ist vielmehr so, dass noch nicht allzu viel zu sagen ist, wenn es darum geht darzulegen, was in den vergangenen vier Jahren gelungen ist. Diese Legislatur ist bisher gekennzeichnet durch Abbau, Privatisierung und Mangel. Unser Dank gilt allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dafür, dass die sächsische Justiz trotzdem funktioniert.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei den LINKEN)

Sie funktioniert trotz des ministerialen Desinteresses, trotz der Amtsführung, die in großen Teilen ideenlos und etwas banal erscheint. Herr Staatsminister, wir wünschen Ihnen für das letzte Jahr viel Glück. Vielleicht gelingt es Ihnen doch noch, das eine oder andere anzupacken.

Vielen Dank!

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN)

Nach Frau Friedel, die für die SPD-Fraktion sprach, ergreift jetzt Herr Kollege Biesok das Wort. Er spricht für die FDP-Fraktion.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die unabhängige Justiz ist eine der tragenden Säulen unseres Gemeinwesens. Das in den Artikeln 20 Abs. 3 und 28 Abs. 1 des Grundgesetzes bzw. in den Artikeln 38 und 77 ff. der Sächsischen Verfassung niedergelegte Rechtsstaatsprinzip ist eine Verpflichtung, die wir nicht hoch genug einschätzen können.

Herr Kollege Bartl, Sie haben die Art und Weise, wie Herr Staatsminister Martens die Regierungserklärung vorgetragen hat, kritisiert. Sie haben gesagt, Sie hätten mehr Dynamik erwartet, gerade angesichts der Wahlkampfzeit. Ich kenne Jürgen Martens auch anders, wenn es um rechtspolitische Fragen geht, und bin sehr dankbar, dass er gerade in der Wahlkampfzeit keine Wahlkampfrede gehalten, sondern den Stand in der Justiz sachlich dargestellt hat.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Das unterscheidet ihn von einem Oppositionspolitiker wie Herrn Lichdi, der gestern bei dem wichtigen Thema „PRISM“ diese Zurückhaltung nicht zeigte, sondern einfach nur polemisch draufhaute. Daran erkennt man: Der Wahlkampf ist für die GRÜNEN wohl deshalb so notwendig, damit man sich nach Berlin flüchten kann, um von der grünen Knute, die in der Fraktion anscheinend herrscht, wegzukommen.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU – Johannes Lichdi, GRÜNE: Ihr könnt mich ja wählen, damit ihr mich los seid!)

Es ist für uns eine ständige Aufgabe, dem Anspruch aus Artikel 78 der Sächsischen Verfassung gerecht zu werden, allen Bürgern den uneingeschränkten Zugang zur Justiz

und ein zügiges – das möchte ich betonen – und gerechtes Verfahren zu gewährleisten.

Dazu gehört es meines Erachtens auch, den Justizstandort Sachsen an effektive Strukturen anzupassen und entsprechend weiterzuentwickeln. Mit dem Standortkonzept aus dem Jahr 2011 ist uns dies gelungen. Die Justiz hat sich gerade nicht aus der Fläche zurückgezogen. Es wurden aber Strukturen, die im Hinblick auf die Veränderung der Bevölkerung nicht mehr dauerhaft leistungsfähig waren, in neue Strukturen überführt.

Lassen Sie mich dazu in aller Öffentlichkeit klare Worte sagen: Ich hätte mir gewünscht, dass dieses Standortkonzept positiver begleitet worden wäre. Wir hatten teilweise Lokalinteressen, die ignorierten, dass die Justiz weiterhin vor Ort bleibt. Der Bürger hat weiterhin sein Gericht vor Ort. Lediglich die Messingtafel, auf der zu lesen ist, wie das Gericht heißt, ist ausgetauscht worden. Dass dies nicht positiver begleitet worden ist, bedauere ich zutiefst.

(Beifall bei der FDP und des Staatsministers Dr. Jürgen Martens)

Als Liberaler schätze ich die richterliche Unabhängigkeit. Aber diese bedeutet nicht richterliche Selbstverwirklichung. Gerade das, was wir bei einigen Richtern am Landgericht Bautzen erlebt haben, ist richterliche Selbstverwirklichung und nicht mehr richterliche Unabhängigkeit.

(Johannes Lichdi, GRÜNE: Wo bleibt denn da die Unabhängigkeit der Justiz? Was ist denn das? Das ist unglaublich!)

Ich danke Herrn Dr. Martens und seinen Mitarbeitern im Staatsministerium der Justiz und für Europa für die geleistete Arbeit, und zwar auf allen Ebenen. Dank möchte ich auch insbesondere den Richtern, den Staatsanwälten und den Mitarbeitern vor Ort für die gerade in Zeiten der Veränderung geleistete Arbeit aussprechen.

(Johannes Lichdi, GRÜNE: Das ist ein dicker Hund! Herr Kollege, falls Sie das nicht wissen: Er war stellvertretender Verfassungsrichter!)

Möchten Sie eine Zwischenfrage stellen, Herr Kollege Lichdi? Dann bitte vom Mikrofon aus.

(Patrick Schreiber, CDU: Johannes, denk dran: Du bleibst weiter hier! – Heiterkeit bei der CDU)