Protocol of the Session on January 26, 2012

Nun könnten Sie mir vielleicht vorhalten: Nicht schon wieder diese Leier! Es ist doch schon so vieles geregelt! – Das ist auch richtig. Da fällt mir beispielsweise ein, dass es in Deutschland im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung, also hier für den Bereich der gesundheitlichen Versorgung, auch schon Bestimmungen gibt, etwa bereits seit 2004 im V. Sozialgesetzbuch der nachformulierte § 2a, der nämlich verlangt, dass bei der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen ihren spezifischen Belangen in besonderer Weise Rechnung zu tragen ist.

Es geht um diese spezifischen Belange, und wie sieht es da aus? Hier haben wir Versorgungslücken oder Mängel bei der Versorgung von Menschen mit Behinderungen. Sind diese Lücken und Mängel beseitigt, die wir damals hatten? Nein, ich finde, sie sind es nicht. Es kommt noch viel zu häufig vor, dass Menschen mit Behinderungen nicht alle für sie notwendigen gesundheitlichen Leistungen im bestehenden Versorgungssystem in Anspruch nehmen können. Ich finde auch, dass das jetzt auf den Weg gebrachte Versorgungsstrukturgesetz diesen Anforderungen immer noch nicht Rechnung trägt, jedenfalls nicht ausreichend. Denn was bleibt? Im Gesundheitssystem spiegelt sich die gesellschaftliche Realität insofern wider, als auch hier Leistungsanbieter nicht für die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen sensibilisiert sind oder aber spezielle diagnostische, präventive oder kurative Angebote nicht flächendeckend zur Verfügung stehen.

Hier ist der Staat, hier sind wir als Landtag sowie die Kommunen und alle Verantwortungsträger, die Leistungserbringer genauso wie – das hat Frau Jonas bereits vorgetragen – Behindertenorganisationen, Sozialverbände, Selbsthilfegruppen selbstverständlich auch gefragt.

Deshalb meine ich, dass sich die zukünftige Ausgestaltung der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderungen in den Städten und Gemeinden zwingend an den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention ausrichten muss. Das ergibt sich nicht zwingend aus Ihrem Antrag. Hier müssten Sie, meine ich, eine eigene Verantwortung festschreiben und natürlich klarmachen, dass wir hier im Landtag hauptverantwortlich sind, und zwar ebenso wie die Staatsregierung, die dazugehörigen Verwaltungen, die Kommunen, die Leistungserbringer und alle Beteiligten, auch die Patienten.

Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention verpflichtet, die Inhalte der Konvention in deutsches Recht zu übernehmen und umzusetzen. Damit gilt für uns alle die Pflicht, die Würde, die Bedürfnisse, den Beitrag von Menschen mit Behinderungen und deren Rechte nicht nur zu achten, sondern insbesondere auch zu schützen und schließlich ihre Verwirklichung zu gewährleisten. Anleitung dazu gibt die Konvention selbst.

Es sind nicht nur die speziellen Vorschriften zur Gesundheit zu beachten, wie sie sich aus Artikel 25 und 26 ergeben, sondern auch die allgemeinen Vorgaben zur Barrierefreiheit gemäß Artikel 9 oder die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von Frauen, gerade wenn es um gynäkologische Untersuchungen geht, und von Kindern nach Artikel 6 und 7 der Behindertenrechtskonvention.

Nach dieser Konvention werden die Vertragsstaaten verpflichtet, eine adäquate und vor allem nicht diskriminierende Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderungen sicherzustellen. Dazu sollten alle geeigneten Maßnahmen ergriffen werden, die den Zugang zur Gesundheitsversorgung gewährleisten. Welche das sein müssen, darüber sollten wir diskutieren. Denn nach der Konvention muss es qualitativ hochwertige barrierefreie und gemeindenahe Versorgungsangebote für alle Menschen mit Behinderungen geben. Dies ist – dem werden Sie nicht widersprechen – derzeit weder flächendeckend noch wohnortnah ausreichend gegeben. Wir haben weder ausreichend barrierefreie Arztpraxen und Praxen zur Heilmittelerbringung. Auch Kenntnisse und Sensibilität für die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen aufseiten der Ärzte, der Therapeuten, der Pflegekräfte, also der Leistungserbringer, sind nicht ausreichend vorhanden.

Vorrangig ist daher das Gesundheitssystem in jeder Hinsicht barrierefrei und bedarfsgerechter auf die Belange abzustellen und es darf nicht dazu führen, dass die Inanspruchnahme von Gesundheitsangeboten erschwert wird. Dabei weiß ich, dass es verschiedene Aspekte gibt. Aber gerade bei Menschen mit geistigen Behinderungen, mit psychischen Erkrankungen ist es auch für den Arzt oftmals nicht einfach. In der Medizin ist von Compliance die Rede: Wie arbeite ich mit, wie wirke ich bei der Anamnese und bei der Behandlung selbst mit? – Das sind besondere Herausforderungen für das medizinische Personal. Ob die sozialmedizinische Ausbildung oder die Gebärdensprachenausbildung in der medizinischen Versorgung nur fakultativ sein kann, das sollten wir noch einmal überdenken. Hier ist mehr an Ausbildungsinhalten erforderlich, damit Menschen, also Ärzte und alle, die in der medizinischen Wirtschaft, wie das so schön heißt, tätig sind, sich sachgerechter auf die Bedürfnisse der Menschen einstellen können. Das erscheint mir zwingend erforderlich.

Wir werden diesem Antrag zustimmen und ich bitte Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, schon jetzt, auch dem Änderungsantrag der SPD-Fraktion zuzustimmen, weil er Ihren Antrag wesentlich verbessert.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den LINKEN, der SPD und den GRÜNEN)

Die SPD-Fraktion, Frau Abg. Kliese, bitte. – Gibt es eine Kurzintervention? – Bitte, Frau Jonas.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich wollte nur darauf hinweisen, dass der sozialmedizinische Anteil Pflicht ist und keinesfalls ein fakultatives Angebot. Genau das ist der Schwerpunkt. Insofern gab es vielleicht die Diskrepanz im Verständnis meiner Aussagen. Es gilt, eventuell diese Pflicht auszubauen. Das ist aber den Universitäten überlassen. Ein Pflichtanteil der Sozialmedizin ist er bereits jetzt.

(Horst Wehner, DIE LINKE: In der Sozialmedizin!)

Herr Wehner, möchten Sie darauf noch antworten?

Die Sozialmedizin ist ein Teil der gesamten Medizinausbildung und daher kein extra Angebot. Es ist Pflicht, dass jeder Mediziner auch die Sozialmedizin sowie Chirurgie, Anästhesie und die Fachbereiche, diesen Teil einzeln absolviert.

Darauf antwortet Herr Wehner.

Das ist ein bisschen kompliziert. Ich werde künftig ein Handmikrofon beantragen, damit ich immer gleich vom Platz aus reagieren kann. –

(Vereinzelt Beifall bei den LINKEN – Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Natürlich stimmt das, was Sie gesagt haben. Aber wir haben trotzdem das Problem, Frau Jonas, dass sich nicht alle Ärzte auf die besonderen Belange einstellen. Das liegt daran, dass die Ausbildung nicht ausreicht. Deshalb habe ich das als fakultativ abgewertet. Dafür bitte ich um Entschuldigung, das nehme ich zurück. Aber das, was da gemacht wird, ist einfach nicht ausreichend. Das sehen übrigens die Ärzte genauso.

Nun Frau Kliese, bitte.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach den Redebeiträgen, die ich von den Kollegen der Koalitionsfraktionen gehört habe, bin ich sehr positiv überrascht, muss aber doch eine deutliche Diskrepanz zwischen dem gesprochenen Wort und den Fortschritten feststellen, die wir erzielen werden, wenn wir diesen Antrag verabschieden. Denn wenn Sie das tatsächlich ernst gemeint haben und wenn Ihr Bild von Menschen mit Behinderungen nicht so defizitorientiert ist, wie Sie es gesagt haben, wie es auch Herr Krasselt sehr schön dargestellt hat, dass wir danach fragen müssen, was diese Menschen können, dann frage ich mich, wie Sie zu solch einem mutlosen Antrag kommen.

(Beifall bei den LINKEN, der SPD und den GRÜNEN)

Grundsätzlich ist jeder Antrag in diesem Hause zu begrüßen, der die Verbesserung der Lebenslage von Menschen mit Behinderungen im Freistaat vorantreibt. Aber der uns

vorliegende Antrag bringt nicht per se eine Verbesserung. Er lässt auf die Möglichkeit einer Verbesserung hoffen. Dort, wo der große Wurf gebraucht wird, hat man wieder den kleinsten gemeinsamen Nenner vorgezogen.

Wer war eigentlich in den Prozess um den Antrag einbezogen? Diejenigen, die damit leben sollen? Menschen mit Behinderungen und ihre Interessenvertreter waren es offenbar nicht. Das ist nicht nur unklug, denn Sie haben damit die Experten vor der Tür gelassen, das ist auch rechtswidrig. Wer nun den Kopf schüttelt, sich wundert oder lächelt, gibt preis, dass er die Rechtslage zum Thema nicht kennt. Denn die UN-Behindertenkonvention gibt in ihrer Präambel vor, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Interessenvertreter in den Prozess der Umsetzung der Konvention aktiv einbezogen werden müssen. Das heißt also nicht: Wenn ich mal Lust habe, dann frage ich einen Behinderten. – Nein, das heißt: „Nichts über uns ohne uns“ ist Gesetz.

(Beifall bei der SPD, der Abg. Julia Bonk, DIE LINKE, und den GRÜNEN)

Kompromissbestimmte Anträge wie dieser, meine Damen und Herren, entstehen immer dann, wenn die Verhandlungspartner auf einen Pragmatismus konditioniert sind, der sie die Lebensrealität der Betroffenen weitestgehend ausblenden lässt. Eine solche Konditionierung ist bei Ihnen eingetreten, meine Damen und Herren, und das – wenn ich das hinzufügen darf – ist nicht nur im Bereich der Menschen mit Behinderungen der Fall.

Dieser Antrag zeigt deutlich, dass Sie nicht nur klein in Ihren Forderungen bleiben; Sie bleiben vor allem – das finde ich viel schlimmer – klein in Ihren Wünschen und Träumen für eine solidarische Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD)

Das ist angesichts dieses wichtigen Themas und vor allem angesichts der Macht, die Ihnen zur Verfügung steht, sehr bedauerlich.

Sehr geehrte Damen und Herren der Koalitionsfraktionen! In Ihrer Antragsbegründung leisten Sie bezüglich Ihres Bildes von Menschen mit Behinderungen gleichsam einen Offenbarungseid. Sie schreiben von der „stark eingeschränkten Fähigkeit dieser Patienten, zu verstehen und sich verständlich zu machen“.

Das ist eine sehr einseitige, defizitorientierte und teilweise sogar überhebliche Sicht auf die Dinge. Zum Beispiel kann ein gehbehinderter Mensch im Rollstuhl seinen Arzt sehr gut verstehen. Was für ihn weniger verständlich sein wird, ist die Tatsache, dass die Sächsische Bauordnung nach wie vor in puncto Barrierefreiheit nicht konsequent umgesetzt wird. Wenn das der Fall wäre und die bauliche Barrierefreiheit nicht nur für öffentliche Einrichtungen, sondern auch für Arztpraxen gefordert würde, dann könnten Sie sich einen Teil Ihres Antrages sparen. Auch versteht der gehbehinderte Patient nicht, weshalb er am Wochenende im Umkreis von 100 Kilometern keine barrierefreie Notfallpraxis findet, wenn er zum Beispiel

Zahnschmerzen hat, da Barrierefreiheit für Notfallpraxen nicht vorgeschrieben wird. So gesehen, haben Sie recht, das ist für Menschen mit Behinderungen schwer zu verstehen. Für mich übrigens auch.

(Beifall bei der SPD)

Menschen mit Behinderungen haben, folgen wir der Antragsbegründung, also kaum die Fähigkeit, sich verständlich zu machen. Sie denken also, ein Gehörloser kann sich nicht verständigen. Ich sage: Doch, er kann! Er hat eine Sprache, nur der Arzt beherrscht diese nicht. Lassen Sie doch einmal Ihr Denken die Richtung wechseln! Dann werden Sie feststellen: Auch der Arzt braucht den Gebärdendolmetscher, damit er mit dem Gehörlosen kommunizieren kann.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Um es kurz zu machen: Wir werden diesem Antrag, der übrigens auch Zeugnis über die Untätigkeit der Staatsregierung in dieser Hinsicht ablegt, trotz allem zustimmen. Nicht weil er so gut ist, sondern weil wir die Möglichkeit auf eine Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen nicht verstreichen lassen wollen, auch wenn diese in unseren Augen nicht befriedigend ausfällt. Unsere konkreten Verbesserungsvorschläge, bei denen im Übrigen Experten, also Menschen mit Behinderungen und ihre Interessenvertreter, einbezogen worden sind, haben wir in einen Änderungsantrag geschrieben, den ich später kurz vorstellen werde.

Zum Abschluss bitte ich Sie herzlich, auch wenn Sie das heute hier anders geäußert haben: Überdenken Sie einmal Ihre Sichtweise auf Menschen mit Behinderungen. Es handelt sich hier nicht um eine homogene Gruppe, die allein der Fürsorge bedarf. Menschen mit Behinderungen brauchen niemanden, der wohlwollend auf sie schaut. Sie brauchen Empowerment, Selbstbestimmung und Teilhabe.

(Sebastian Fischer, CDU: Das haben wir gesagt!)

Gesagt ja, aber nicht in den Antrag geschrieben.

All das ist in der UN-Behindertenrechtskonvention klar rechtsverbindlich beschrieben. Wir müssen das nur noch verinnerlichen und umsetzen.

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN)

Frau Herrmann, Fraktion GRÜNE.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann meiner Kollegin zustimmen, eigentlich in allem, was sie eben gesagt hat. Ich hätte es vielleicht anders formuliert, aber genau dasselbe gemeint.

Ich habe grundsätzlich mit Ihrem Antrag ein großes Problem. Ich bin Frau Jonas dankbar, dass sie mit ihrem Redebeitrag wenigstens dazu beigetragen hat, die UNKonvention überhaupt ins Spiel zu bringen. In Ihrem

Antrag steht davon nämlich überhaupt nichts. Das ist das erste große Manko.

Wenn wir heute über die Situation von Menschen mit Behinderungen sprechen, dann müssen wir uns bewusst machen, dass die UN-Behindertenrechtskonvention

geltendes Recht in Deutschland ist und dass sich alle unsere Maßnahmen an dieser Konvention zu orientieren haben. Im Antrag ist davon überhaupt nicht die Rede. Im Gegenteil, in der Begründung sagen Sie zum Anlass Ihres Antrages, dass dieser die Erkenntnis ist, dass aufgrund verbesserter medizinischer Möglichkeiten und der Steigerung der Lebenserwartung generell in Zukunft mehr Menschen mit Behinderungen gesundheitlich zu versorgen sind.

Allein die Tatsache, dass es in Zukunft mehr Menschen mit Behinderungen geben wird und wir da unter Umständen ein Problem mit der medizinischen Versorgung bekommen – jedenfalls entnehme ich das dem Antrag –, ist der Grund gewesen, diesen Antrag zu schreiben. Das war also nicht das Recht von Menschen mit Behinderungen, wie es in der Konvention festgelegt ist, auf einen nicht diskriminierten Zugang zur gesundheitlichen Versorgung, der sie dann natürlich in die Lage versetzt, Teilhabe an der Gesellschaft in allen ihren Facetten zu nehmen. Das Ziel der Teilhabe ist wiederum auch nicht, dass Menschen mit Behinderungen bestimmte Leistungen für die Gesellschaft erbringen. Das tun sie natürlich wie wir alle auch durch ihre eigene Entscheidung. Davon kann ich es nicht abhängig machen, ob ich Gesundheitsleistungen gewähre oder nicht.

Der Ansatz, das nicht als Recht zu verstehen, sondern hier ein zukünftiges Versorgungsproblem zu sehen und das als Grundlage für den Antrag zu nehmen, ist meiner Meinung nach nicht in Ordnung. Das führt dann natürlich dazu, dass Sie und auch die Staatsregierung gewissermaßen im Nebel stochern. Man hätte fünf andere Punkte aufführen oder drei weglassen können. Für mich ist das nicht stringent, wie es gemacht worden ist.

Die Staatsregierung schreibt in ihrer Stellungnahme: „Belastbare Angaben, insbesondere Statistiken über die Zugangsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen zu Gesundheitsleistungen, liegen der Sächsischen Staatsregierung nicht vor.“ Ich weiß nicht, ob ihr diese Angaben in Zukunft vorliegen werden, ob also der Bericht essenzieller sein kann als die Stellungnahme. Davon gehe ich aus. Das grundsätzliche Problem liegt darin, dass die Staatsregierung sagt: Wir brauchen keinen Landesaktionsplan, das ist Aktionismus. Aber genau so ein Aktionsplan würde eben in Bezug auf die Gesundheit aussagen: Das sind die nächsten Schritte, die wir gehen wollen. Das ist das Ziel, das wir erreichen wollen. Das ist unser Ausgangspunkt, von dem wir starten. Diese oder jene Maßnahmen wollen wir einsetzen, um das Ziel zu erreichen. Dann gibt es natürlich auch Festlegungen, in welcher Zeit man das erreichen will.