Protocol of the Session on December 15, 2011

Mich hat die Antwort auf die Frage der Koalition – welche Auswirkungen hatte und hat der Wegfall der Grenzkontrollen insgesamt? – schon sehr irritiert. Die Antwort lautete – man muss sie sich wirklich zu Gemüte führen –: „Die Kriminalität in den Grenzgemeinden war in den letzten Jahren ebenfalls rückläufig.“ Vorher geht es um die in Sachsen. „Dies trifft jedoch nicht für alle Deliktsbereiche gleichermaßen zu. Probleme bereiten insbesondere Diebstahlsdelikte. Durch entsprechende polizeiliche Maßnahmen wird dem entgegengewirkt.“

Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den Grenzräumen haben wir ein Sicherheitsgefühl, das nicht gerade optimal ist. Ich will das so vorsichtig formulieren. Es hilft uns auch nicht, hier irgendetwas zu beschönigen. Statistiken kann man immer biegen. Sie wissen selbst, wenn Leute fehlen, die Anzeigen entgegennehmen können, ist die Zahl der Fälle automatisch geringer. Deshalb bin ich da sehr vorsichtig.

Ich will an dieser Stelle an das anknüpfen, was wir schon über Monate diskutieren: Wir müssen aufpassen, dass mit der Verringerung der Sollstärke bei Landes- und Bundespolizei nicht nur das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung absinkt, sondern dass nicht generell mehr Diebstahls- und andere Delikte möglich werden. Hierbei besteht für mich ein eindeutiger kausaler Zusammenhang und hier hätte ich mir mehr Aktivitäten der Staatsregierung gewünscht.

(Beifall bei der SPD)

Ich komme zu Fragen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Ich selbst habe erfahren, dass das manchmal nicht unkompliziert ist. Auch darüber sollte man nicht schweigen. Jeder hat seine eigenen Interessen – ob das die Polen, die Tschechen oder die Sachsen sind. Da muss man manches aushalten und man wird sich nicht immer durchsetzen können.

Aber ich will es klar sagen: Es gibt einen Punkt, der mir besonders am Herzen liegt. Kürzlich habe ich bei einem Feuerwehrsymposium gehört, dass wir sowohl in Sachsen als auch jenseits der Neiße, auf polnischem Gebiet, die

Dienstbereitschaft der Feuerwehren betreffend, demografisch bedingt dieselben Probleme haben. Demografie und Abwanderung machen sich dort immens bemerkbar. Wir müssen dafür Sorge tragen – es ist nach den Rettungseinsatzkräften gefragt worden –, dass wir in diesen strukturschwachen Räumen die Funktionsfähigkeit der Feuerwehr möglicherweise mit europäischer Unterstützung aufrechterhalten können.

(Zuruf des Abg. Jürgen Gansel, NPD)

Letztlich komme ich zum Geld; das ist schließlich so. In einem Europa der 27 Mitgliedsstaaten sinkt bekanntermaßen das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt, das immer als Maßstab dafür gilt, wie hoch die Strukturfondsförderung ausfällt. Man kann ständig und trefflich darüber philosophieren – wir haben das im Verfassungs-, Rechts- und Europaausschuss auch getan –, ob das Bruttoinlandsprodukt der alleinige und richtige Maßstab ist. Es ist sehr schwierig; im Moment gibt es diesen einen Maßstab. Ich würde mir wünschen, dass man eher so etwas wie einen Wohlstandsindikator einführt, der viel besser abbilden würde, wie die Zustände tatsächlich sind. Aber wir haben nun einmal das BIP.

Wir haben auch mit europäischer Hilfe Sachsen aufgebaut. Wir waren erfolgreich bei der Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen, wir haben Arbeitsplätze geschaffen – dies alles auch mit europäischen Geldern. Aber man sollte sich nichts vormachen. Natürlich ist die statistische Abbildung nicht unbedingt die Wirklichkeit. Ich sage auch: Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Sosehr wir uns auf der einen Seite über Erfolge freuen, sage ich sehr deutlich: Wenn der Maßstab nach unten gezogen wurde, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass wir plötzlich besser dastehen, als wir es in Wirklichkeit sind. Das gehört auch zur Ehrlichkeit und ist ein gutes Argument gegenüber der Europäischen Union.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Marko Schiemann, CDU)

Jetzt wird der Beifall auf der, von mir aus gesehen, rechten Seite etwas weniger werden, wenn ich zu den Details komme. Mittlerweile ist es so, dass 336 Milliarden Euro für die Koalitionspolitik im nächsten Förderzeitraum 2014 bis 2020 bereitgestellt werden sollen. Das ist ein gewaltiger Batzen Geld. Wir haben bereits in der Diskussion zum EU-Haushalt des Jahres 2012 vernehmen können, dass die Länder in Europa nicht mehr bereit sind, mehr Geld in die Töpfe hineinzugeben.

Jetzt kommt der für mich entscheidende Punkt. Man muss zur Kenntnis nehmen: Wenn der Finanzrahmen in Gänze nicht größer wird und wir keinen Anspruch mehr haben auf die Zielförderung nach Konvergenz, also dem früheren Ziel-1-Gebiet, dann ist völlig klar, dass die Situation der drei sächsischen Regionen nicht besser werden kann, sondern dass wir tiefer rutschen. Das heißt, wenn der Finanzrahmen gleichbleibt und die Bundesregierung sagt, wir beschränken das dabei, und dafür gute Argumente hat,

dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir schlechtergestellt werden.

Wir müssen innerhalb dieses Systems darüber reden, wie der Verteilungsmechanismus sein wird. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass wir gleich viel oder etwa mehr Geld bekommen. Wir bekommen weniger.

Jetzt geht es um die Frage, wie wir in diesem System die Aufteilung der Mittel vornehmen. Bei meinem letzten Besuch in Brüssel ist für mich sehr deutlich geworden, dass es erhebliche Unterschiede in der Haltung zwischen konservativen und sozialdemokratischen, grünen Politikern gibt. Sie können sich vielleicht daran erinnern, dass der Berichterstatter des EU-Parlaments für Koalitionspolitik, Herr Pieper aus dem Münsterland von der CDU, sehr deutlich gesagt hat, er will nicht mehr, dass Deutschland mehr Geld einzahlen muss.

Das hat natürlich knallhart die Konsequenz, dass insbesondere Leipzig nach dem bisherigen System der Übergangsfinanzierung ganz schnell zu Ziel 2, wenn überhaupt noch, marschieren würde.

Ich verstehe natürlich seine Haltung vor dem finanziellen Hintergrund Deutschlands. Auf der anderen Seite wundert es mich schon, dass er sehr deutlich gesagt hat, „Leipzig und Lüneburg sind die derzeitigen Phasing-Out-Regionen in Deutschland, die wir dann auch genauso behandeln müssen wie andere. Aber wenn dann die Zwischenkategorie kommt, wie jetzt aktuell der Vorschlag der EUKommission und des Parlaments ist, können wir das eigentlich gar nicht mittragen, weil die Zwischenkategorie dazu führt, dass da ganz andere Regionen mitprofitieren.“ Das ist für mich der Denkfehler.

Wir werden andere Regionen im Geleitzug haben, die genauso wie Leipzig in eine entsprechende Finanzierung hineinkommen müssen. Ich bin sehr, sehr vorsichtig, was die Sinnhaftigkeit des Sicherheitsnetzes betrifft. Das ist ja die Auffanglinie in eine neue Übergangsfinanzierung für die, die aus der Konvergenz kommen.

Bislang ist Status quo, dass Dresden und Leipzig offensichtlich in die Zwischenkategorie kommen und dass das sogenannte Sicherheitsnetz, eher eine Erfindung der konservativen Seite, möglicherweise für Leipzig nicht gelten wird.

Da mich mein Fraktionsgeschäftsführer jetzt drängt, aufgrund der Redezeit, die ich wahrscheinlich maßlos überzogen habe, zum Schluss zu kommen, will ich nur zwei Fragen in den Raum stellen, auf die ich eine Antwort hätte geben können, aber die ich gerne vom Ministerpräsidenten gewusst hätte und natürlich auch von unserem Europaminister, Herrn Martens.

Herr Martens, Sie haben in einer Presseerklärung am 31. August gesagt, Regio Leipzig kann auf 700 Millionen Euro hoffen. Das wäre ja so schön! Ich frage Sie, ob das heute noch gültig ist. Die zweite Frage hätte ich gern an den Ministerpräsidenten gestellt. Er war mit dem gesamten Kabinett in Brüssel, was nicht zu verurteilen ist, denn Gespräche sind immer wichtig. Aber er hatte sich

natürlich auch eine Messlatte gelegt, dass er viel für Sachsen erreichen wollte. Er hat dann vor den staunenden Journalisten in Brüssel erklärt – so wurde es in Sachsen kommuniziert: Sachsen bekommt in der nächsten Periode rund 75 % der bisherigen Strukturfondsmittel. Ich hätte gerne gewusst, wie er dort missverstanden wurde oder ob er es falsch verstanden hat, denn 75 % werden es leider auf gar keinen Fall. Was wir jetzt diskutieren, sind 66 % für Dresden und Leipzig und möglicherweise ein Drittel der bisherigen Finanzierung für Leipzig. Darauf hätte ich gern eine Antwort.

(Beifall bei der SPD)

Wir fahren fort in der ersten Runde der allgemeinen Aussprache. Frau Kallenbach für die Fraktion GRÜNE.

Vielen Dank, Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Projekt der europäischen Vereinigung vorwiegend über das liebe Geld zu definieren wäre sträflich und würde eine Erfolgsgeschichte seit Jahrzehnten torpedieren. Wenngleich in Europa das Geld eine zentrale Rolle spielt, so ist das grandiose Prinzip der Solidarität zwischen starken und weniger entwickelten Partnern schlichtweg einmalig.

Die Europäische Union nur als Binnenmarkt zu begreifen kann weitreichende Auswirkungen haben. Exemplarisch steht dafür der Satz des britischen Premier David Cameron beim letzten europäischen Gipfel, als er sagte, die EU interessiert uns nur als Absatzmarkt für unsere Produkte. Zynischer kann man es nicht ausdrücken. Wer die EU auf seinen wirtschaftlichen Vorteil reduziert, steht mit leeren Händen da, sobald die Bilanz nicht mehr stimmt. Das war ein kleiner Wink mit dem Zaunpfahl, liebe Koalition.

Nun konkret zur Großen Anfrage. Dafür meinen herzlichen Dank. Da bekomme ich doch endlich als Opposition eine Ahnung von der europapolitischen Strategie der Staatsregierung, die bisher so wie eine geheime Verschlusssache betrachtet wird und zumindest uns bisher nicht vorgelegt wurde. Dabei – Sie erinnern sich bestimmt – hat meine Fraktion 2006 erfolgreich geklagt, weil die Regierung den Landtag bei Beschlüssen zum Einsatz von EU-Fördermitteln überging und somit das Budgetrecht verletzte. Damals nützte der Erfolg vor Gericht nicht mehr viel, die Messen waren gesungen. Jetzt stehen aber neue Entscheidungen an, und nun fordern wir eine echte Parlamentsbeteiligung. Darauf komme ich gerne später noch einmal zurück.

Wenn man Neues wagen will, lohnt sich der Blick zurück. Daher meine spannende Frage, ob die Ziele der aktuellen OPs und ihre Umsetzung tatsächlich sinnvoll, nachhaltig und effizient sind. Die Antwort auf die Große Anfrage suggeriert: Alles bestens, der Rubel, ach nein, der Euro rollt. Aber noch so viele Allgemeinplätze täuschen nicht über Probleme hinweg.

Ich möchte Ihnen das gerne am Beispiel Strukturfonds EFRE erläutern. Trotz vieler guter Worte wurde bei der Mittelverteilung das Thema Demografie außen vor gelassen. Statt zukunftsfähige, lebensfähige Strukturen zu schaffen und zu stärken, fließen in Sachsen hohe Anteile der EFRE-Mittel in den Neubau von Straßen, jeder vierte Euro in der Periode 2000 bis 2006. 20 %, das sind 574 Millionen Euro, sind es derzeit. Dabei liegt die Netzdichte bereits 30 % über dem Bundesdurchschnitt. Ein weiterer Ausbau des Straßennetzes ist schlichtweg absurd und bürdet vor allem kommenden Generationen unzumutbare Belastungen auf. Dies führt zur Landschaftszerschneidung, zu Schadstoffen, Lärm, zur Verschlechterung von Lebensqualität, und das wird das Kennzeichen der Zukunft sein. Die Menschen entscheiden sich nach dem Kriterium Lebensqualität, wenn sie ihren Wohnsitz wählen.

Als umweltfreundlicher Verkehrsträger wurde halbherzig, aber immerhin der Radverkehr gestärkt – nicht die Schiene, nicht der ÖPNV. Das nenne ich wahrhaft bescheiden. Sachsens Präferenz für den Straßenbau ist nebenbei bemerkt nichts, was die EU verordnen würde. Die Förderprogramme sind eine politische Entscheidung des Freistaates. Dazu gehört in Zukunft das Parlament, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ein Wort zum Hochwasserschutz. Den Flüssen mehr Raum geben, hieß es nach der Flut 2002. Während beim technischen Hochwasserschutz Hunderte Millionen in Beton investiert werden, ist beim naturnahen Hochwasserschutz nicht viel zu sehen. Zehn Maßnahmen für Retentionsräume halten kaum die Waage gegen 96 Kilometer Deiche und 60 Kilometer Hochwasserschutzmauern. Mit der Ausrichtung auf Deiche und Flutmauern werden einseitige und vor allem teurere und auch wieder in der Zukunft zu erhaltende Prioritäten gesetzt.

Ein anderes Thema. Seit 2007 hat die städtische Dimension aus guten Gründen auf EU-Ebene eine deutliche Aufwertung erfahren. Integrierte Stadtentwicklung ist die Chance, tatsächlich den gesellschaftlichen Problemen begegnen zu können. Sachsen hat dafür ganze

110 Millionen Euro vorgesehen. Das macht einen sagenhaften Anteil von 3,5 % der EFRE-Mittel aus. Damit gehört Sachsen leider bundesweit zu den Schlusslichtern.

Umweltauswirkungen der Förderpolitik werden in der Großen Anfrage besprochen, sofern sie positive Effekte haben und davon zu berichten ist. Klar, die Revitalisierung von Industriebrachen ist zu begrüßen, und wir wünschen uns dafür noch mehr Mittel. Dass aber zeitgleich der Flächenverbrauch und die Bodenversiegelung auf zehn Hektar pro Tag angestiegen sind, wird nicht einmal angetippt. Aber wir haben ja gestern gelernt, dass sich das ändern soll. Wir werden das prüfen.

Der Förderschwerpunkt Klimaschutz und erneuerbare Energien war der Staatsregierung ganze 67 Millionen Euro und damit 2 % wert. Die Heizkesselumstellung,

wunderbar von Handwerkern angenommen und wegen regionaler Wertschöpfung begrüßt, wurde eingestellt, weil die Mittel nicht mehr ausreichten. Anstatt sie aufzustocken, hat man das Programm eingestellt. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr sich die Staatsregierung tatsächlich an Zukunftsaufgaben orientiert.

Warum bei einzelnen Maßnahmen, wie zum Beispiel der Nutzung von Erdwärme mit 4,3 Millionen Euro, noch kein Cent abgeflossen ist, erklärt die Staatsregierung leider auch nicht.

Ja, so ehrenwert die Große Anfrage ist, hat sie doch viele blinde Flecken. Wichtige Fragen werden nicht gestellt und damit auch nicht beantwortet. Das Thema Armut kommt zum Beispiel gar nicht erst vor. Dabei, wissen wir, hat Sachsen eine Armutsquote von 20 % – viele Gründe, die Strategie zu ändern. Auch dafür gibt die Große Anfrage durchaus Ansatzpunkte – wie durch die intensive Bewertung der Evaluierungsberichte. Ich denke, sie qualifizieren auch für eine Diskussion, die wir nötig zu führen haben.

Frau Kallenbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ja, bitte, kein Problem.

Geschätzte Kollegin, Sie haben gerade gesagt, dass das Thema Armut in der Großen Anfrage nicht vorkommt. Deshalb wollte ich Sie fragen: Haben Sie die Große Anfrage wirklich gelesen?

Und was sagen Sie zu dem Passus, wo die Armutsquote Sachsens mit der Lissabon- bzw. Europa-2020-Strategie verglichen wird und ausgeführt ist, dass wir in Sachsen bei der Armutsbekämpfung erfolgreicher sind als im Rahmen der Ziele der Europäischen Union?

Ja, 20 % – das ist immer alles relativ, wenn Sie sagen, 20 % sind 20 % zu viel,

(Christian Piwarz, CDU: Haben Sie es gelesen oder nicht?)

und ich habe keine Antwort gefunden, mit welchen Mitteln wir dem begegnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)