Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute sind in Deutschland bis zu 1,4 Millionen Menschen von Demenz betroffen. Für das Jahr 2030 wird bereits jetzt mit einer knappen Verdoppelung der Anzahl Demenzkranker gerechnet. Nach Angaben der Alzheimer Gesellschaft
Sachsen trifft die Verdoppelung der Anzahl für unseren Freistaat genauso zu. Ich selbst, Jahrgang 1975, werde 2050 mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 : 7 an Demenz erkrankt sein.
Diese Zahlen allein verdeutlichen, welche Herausforderungen auf uns, auf die betroffenen Familien und auf Sachsen insgesamt zukommen. Gleichzeitig signalisiert es den zukünftigen überdurchschnittlichen Bedarf an benötigten examinierten und Laien-Pflegekräften.
Um hierfür die geeigneten Rahmenbedingungen zu schaffen, bedarf es verschiedener Instrumente. Die Hauptaufgabe jedoch besteht darin, die gesellschaftliche Verantwortung für Demenzkranke zu stärken. Deshalb ist die Aufklärung der Öffentlichkeit über die Krankheit selbst, die Sensibilisierung über die Erscheinungsformen der Krankheit und die unterschiedlichen Bedürfnisse der Betroffenen dringend notwendig.
Des Weiteren ist es wesentlich für Kranke und Angehörige zu wissen, wo sie eine korrekte Diagnostik bekommen und welche Möglichkeiten es zur Unterstützung im Pflegebereich gibt. Nicht nur für professionelle Pflegedienste ist eine Aus- und Fortbildung unverzichtbar.
Sehr geehrte Damen und Herren! Aufgrund der unterschiedlichsten Bedürfnisse und des Wunsches vieler, zu Hause versorgt zu werden, wird es zunehmend neue Modelle der Versorgung geben müssen. Die Einführung der Pflegestufe 0 zum 01.01.2013 durch die schwarzgelbe Bundesregierung war deshalb ein wichtiger und wesentlicher Punkt. Diese vor allem liberale Verantwortung für Menschen mit Demenz, aber ohne Pflegebedarf kann nicht hoch genug wertgeschätzt werden.
Ebenso unstrittig ist, dass die Betreuung und Unterstützung von Betroffenen eine große finanzielle Belastung für das Solidarsystem Pflegeversicherung wie auch für Bund und Länder insgesamt darstellt. Im Freistaat Sachsen ist deshalb die schwarz-gelbe Landesregierung schon seit Jahren darum bemüht, Rahmenbedingungen zu schaffen, dass Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf durch qualifizierte Laien betreut werden. Dies ermöglicht den professionellen Pflegekräften, sich auf die pflegeintensiven Fälle zu konzentrieren. Mithilfe von engagierten Nachbarschaftshelfern ist die Beteiligung an der Betreuung von demenziell erkrankten Menschen erstmals möglich. Diese Helfer werden durch den Freistaat und die Pflegekassen gefördert unter der Voraussetzung der gemeinsamen Organisation und Betreuung ihrer Betreuungstätigkeit.
Innerhalb der kommunalen Selbstverwaltung tragen die Landkreise und kreisfreien Städte dafür Sorge, dass die notwendige Infrastruktur geschaffen bzw. vorgehalten wird. Sie legen die dafür benötigten Kriterien selbst fest. Unterstützt werden die Kommunen bei dieser Aufgabe von Bund und Land.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Detail sind die einzelnen Maßnahmen der Staatsregierung und hier besonders des Sozialministeriums in der Antwort auf den Antrag der SPD dargestellt. Ich möchte an dieser Stelle nur eine herausgreifen, die mir persönlich als eine der wichtigsten erscheint, nämlich Hilfe zur Selbsthilfe. Über das Bundesprojekt „Lokale Allianz für Menschen mit Demenz“ wird die lokale Vernetzung von Partnern vor Ort gefördert. Diese Allianz nimmt auf kommunaler Ebene Einfluss und sorgt dafür, dass Demenzkranke sowie deren pflegende Angehörige nicht ausgegrenzt werden.
Ein konkretes Beispiel aus dem Programm möchte ich Ihnen an dieser Stelle kurz vorstellen. In Görlitz ist mit der SAPOS gemeinnützige GmbH ein Integrationsunternehmen ansässig. Es ist ein erfahrener Projektträger bei Netzwerken verschiedener Themen. Die Neisse Galerie der SAPOS gGmbH ist ein anerkanntes sozialkulturelles Zentrum für niederschwellige Publikation von Schwerpunktthemen unter anderem für Menschen mit körperlicher oder geistiger Einschränkung. Hier werden niederschwellige Betreuungsleistungen im Sinne des § 45b SGB XI angeboten und es erfolgt ein ehrenamtliches Engagement in der lokalen Allianz für Menschen mit Demenz in Görlitz.
Schwerpunkte in deren Arbeit finden sich in der Kooperation von Anbietern für die Betreuung von Menschen mit Demenz, indem Spezialisten anderer Netzwerke und letztlich auch die Sozialverwaltung einbegriffen sind, in der Erfassung von bestehenden Angeboten für Menschen mit Demenz, in der Entwicklung zusätzlicher, zum Beispiel niederschwelliger, Angebote – für Menschen mit beginnender Demenz eine schwer einzuschätzende Schwelle, die da beschritten wird –, in dem möglichst frühzeitigen Erkennen von Menschen mit demenzieller Veränderung durch die Betreffenden selbst, deren Angehörige und das Lebensumfeld und in Information und Schulung, zum Beispiel für Angehörige des sozialen Umfeldes und interessierte Berufsgruppen sowie Dienstleister.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, dieses Beispiel zeigt genau auf, was mit der Vernetzung unterschiedlicher Träger öffentlicher Hand, von Leistungserbringern und bürgerschaftlichen Initiativen gemeint ist. Dies ist auch der richtige Weg hin zur Bewältigung der vor unserer Gesellschaft stehenden Aufgaben.
In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, sind viele Punkte enthalten, die es wert sind, weiter verfolgt zu werden, aber auch viele, die bereits Bestandteil existierender Pläne sind. Als Beispiel möchte ich hier nur den Landespsychiatrieplan und das Geriatriekonzept im Freistaat nennen und auf die Expertise der Nationalen Demenzstrategie verweisen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin meiner Kollegin Dagmar Neukirch außerordentlich dankbar, dass sie die kulturelle und gesellschaftliche Dimension von Demenz in den Mittelpunkt ihrer Rede gestellt hat.
Wenn wir hören, dass derzeit in Sachsen circa 80 000 Patientinnen und Patienten mit dieser Krankheit leben und dass die Alzheimer-Gesellschaft davon ausgeht, dass es im Jahr 2025 mindestens 100 000 Menschen sein werden, dann stellt sich in erster Linie die Frage, was diese Zahlen in uns auslösen. Zahlen, Pressemitteilungen oder Berichte in Medien führen oft dazu, dass Ängste geschürt werden und dass man sich der wirklichen Dimension nicht bewusst werden kann.
Ich bin deshalb auch ganz froh, dass es Selbsthilfeorganisationen von Menschen, die von der Krankheit betroffen sind, gibt, die uns etwas darüber mitteilen können, wie sie diese Krankheit erleben und was für sie im Leben wichtig ist.
In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu dem Thema Demenz spielt auch immer wieder eine Rolle, ob es eine Krankheit ist, die sich auf physiologische Veränderungen beziehen kann, oder ob es etwas damit zu tun hat, wie wir unsere Welt erfahren, wie wir Ruhepausen einlegen können. Stellen wir uns doch überhaupt mal die Frage, ob der Verlust von kognitiven Fähigkeiten im Alter, der Rückzug gewissermaßen in die Person selbst, eine Folge unseres Lebensstils sein könnte.
Wenn wir über dieses Thema sprechen, hat es etwas damit zu tun, dass wir nicht in erster Linie nur über Hilfe und Unterstützung sprechen sollten – das ist sicher auch wichtig, insbesondere für die Angehörigen –, sondern dass wir darüber sprechen müssen, was Betroffene – und damit meine ich die Erkrankten selbst – für ein Lebensgefühl haben und was sie sich für ihr Leben vorstellen, welche Wünsche und Bedürfnisse sie haben. Wir beurteilen mit unseren Möglichkeiten als gesunde Menschen eine Krankheit, von der wir in der Regel nicht viel Ahnung haben.
Die SPD schlägt eine Landesinitiative Demenz vor, die die Chance bietet, Ansätze, die es an den verschiedenen Stellen gibt, zu verbinden, neue Forschungsergebnisse einzubeziehen und aktuelle Diskussionen aufzugreifen, zum Beispiel zu Demenzdörfern als Möglichkeit für das Leben im Alter. Wir haben ja erlebt, dass mit dem BeWoG zum Teil die Chance verbaut worden ist, Wohnmöglichkeiten im Alter zu schaffen, die auch für Menschen mit Demenz andere Dimensionen eröffnen, weil das BeWoG bestimmte Kriterien, bestimmte Voraussetzungen hat, die dazu führen, dass man eine Bundesförderung dann nicht in Anspruch nehmen kann.
Ich finde, dass eine Servicestelle, wie sie in NordrheinWestfalen schon seit vielen Jahren eingerichtet ist, eine Möglichkeit sein kann, Wege zu finden, mit dieser Krankheit umzugehen, Betroffene dabei in den Mittelpunkt zu stellen, Angehörige zu unterstützen und auch Fachkräfte so weiterzubilden bzw. ihnen überhaupt die Chance zu geben, sich im Alltag dieser Krankheit zu stellen.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass es natürlich auch etwas mit dem Pflegebedürftigkeitsbegriff zu tun hat. Die Pflegestufe 0 wurde eingeführt, sodass auch Menschen mit demenzieller Erkrankung Leistungen erhalten können. Trotzdem wurde immer wieder angemahnt, dass wir einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff brauchen. In der vergangenen Woche ist bei der Diskussion im Bundestag beim Pflegestärkungsgesetz deutlich geworden, dass diese Reform wieder verschoben worden ist – auf 2015 – und dass durch diese zeitliche Verzögerung gerade auch für Menschen mit demenziellen Erkrankungen Verbesserungen, die im Alltag wirksam werden können, auf die lange Bank geschoben sind.
Auch für Menschen mit Demenz gilt: Die UN-BRK stellt die Menschen in den Mittelpunkt und fragt in erster Linie danach, was Menschen sich wünschen, wie ihr Leben aussehen sollte. Dafür sollten wir die Voraussetzungen schaffen.
Meine Damen und Herren, die NPD hat auf ihren Redebeitrag verzichtet. Damit ist die erste Runde beendet; mir liegt keine Wortmeldung für eine zweite Runde vor. Ich frage trotzdem die Abgeordneten, ob jemand das Wort wünscht. – Das ist nicht der Fall. Ich frage die Staatsregierung. – Frau Staatsministerin Clauß, Sie haben das Wort, bitte.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Demenz ist ein zunehmend wichtiges Thema in unserer Gesellschaft. Es ist aber auch ein Thema, das wir gern ausblenden, denn es konfrontiert uns mit bohrenden Fragen nach unserem Selbstverständnis: Woran macht sich Menschenwürde fest? – An intellektuellen oder körperlichen Fähigkeiten? Was ist ein Mensch wert, der rund um die Uhr Betreuung braucht und der vergessen hat, was er mit einer Zahnbürste anfangen soll? Wird es uns gelingen, auch Menschen mit dieser schweren Erkrankung ein würdevolles Altern zu ermöglichen und ihre pflegenden Angehörigen vor Erschöpfung zu bewahren?
Meine Damen und Herren Abgeordneten der SPDFraktion, Ihre Forderungen sind durchaus nachvollziehbar; aber wir haben das meiste, was Ihren Antrag anbelangt, in Sachsen bereits auf den Weg gebracht. Ich verweise auf unser Pflegenetz und die vernetzte Pflegeberatung vor Ort – die Allianz wurde bereits genannt –, aber auch auf das GeriNet als trägerübergreifendes geriatrisches Versorgungsnetzwerk. Wir haben das Informations- und Qualifizierungsangebot verbessert bzw. erweitert, was Punkt 3 anbelangt. Damit haben wir zugleich Angebote zu kleinräumiger Strukturentwicklung und Netzwerkarbeit verbessert und ausgeweitet – Punkt 6 – und dies alles selbstverständlich auch für Demenzkranke und ihre Angehörigen untersetzt.
Wir unterstützen Betroffene und Angehörige in ihrer Lebens- und Wohnsituation, zum Beispiel mit unserem Solidarmodell der Alltagsbegleiter. Diese fördern wir über den ESF und zusätzlich über ein eigenes Landesprogramm. Das weitere Solidarmodell, die Nachbarschaftshelfer, sind hier ebenfalls ein wichtiges Element. Sie kümmern sich bereits heute – auch ohne Geld! – sehr einfühlsam um ihre Mitmenschen. Jetzt bekommen sie dafür eine Aufwandsentschädigung von bis zu 10 Euro pro Stunde. Sie dürfen maximal zwei demenzkranke Menschen betreuen.
wenn sie Menschen um sich haben, denen sie vertrauen können, die sie kennen und mit denen sie letzten Endes auch eine Beziehung aufbauen, die sicherlich eine andere ist als die, die wir uns vorstellen können. Eine Koordinierungsstelle in Chemnitz, die wir vor Jahren aufgebaut haben, betreut und berät alle diese Projekte.
Ein drittes Solidarmodell haben wir in dieser Legislaturperiode von der reinen Theorie in die Praxis geholt: die Seniorengenossenschaften. In Sachsen werden aktuell Gründungen solcher Senioren- bzw. Generationsgenossenschaften vorbereitet. Wir sind mit unseren Solidarmodellen das eine oder andere Mal wieder Vorreiter. So hat der Bund unser Konzept der Nachbarschaftshelfer und Alltagsbegleiter in sein erstes Pflegestärkungsgesetz aufgenommen. Hier werden die Rahmenbedingungen für weitere Möglichkeiten geschaffen. Wir sind als Mitglied in die Arbeitsgruppe „Kommune und Pflege“ aufgenommen worden. Auf Arbeitsebene hat die Tätigkeit bereits begonnen; die Ministerebene wird folgen.
Ab Januar können Pflegebedürftige, die keine eingeschränkte Alltagskompetenz haben, auch diese Leistungen in Anspruch nehmen. Es soll eben nicht nur der reine Pflegebedarf abgedeckt werden. Betreuung und Hilfe im Haushalt sind für ein selbstständiges Leben in den eigenen vier Wänden genauso wichtig. Soziale Teilhabe ist mehr als Schrankwand, Sessel und Fernseher. Auch unser BeWoG lässt sehr wohl Förderungen zu, gerade im Kontext von Demenzwohngruppen.
Wir brauchen keine „Landesinitiative Demenz“. Initiativ sind wir schon lange; denn dieses Thema treibt uns um, und dieses Thema treibt uns an. Wir brauchen nicht noch mehr Pläne. Wir brauchen Verknüpfungen von der Altenhilfe zur Gerontopsychiatrie, weitere Forschung und in den medizinischen und pflegerischen Berufen – ganz gleich, ob Altenhilfe oder Krankenhilfe – Weiterbildung auf allen Gebieten. Wir brauchen neben den professionellen Helfern – was sie dort leisten, ganz gleich, ob ambulant oder stationär, kann man nicht hoch genug schätzen – Menschen, die Brücken zu den professionellen Pflegediensten bauen, die sich engagieren, die Strukturen nutzen, die bestehende Netzwerke ausbauen und mit Leben füllen.
Wir werden auch weiterhin neben den professionellen Pflegediensten die ehrenamtliche Pflegehilfe stärken, Engagement fördern und nachhaltig unterstützen; ich verweise auf unser Positionspapier „Pro Pflege Sachsen“. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das ist unsere Aufgabe. Die Fragen, die ich eingangs stellte, müssen wir gesamtgesellschaftlich beantworten, um ein Altern in Würde auch in Zukunft selbstverständlich sein zu lassen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der gesamten Debatte habe ich mich gefragt, warum Sie den Antrag ablehnen müssen, obwohl er gut ist. Aber während der Rede von Frau Clauß ist mir deutlich geworden, worin der Unterschied besteht. Für uns sind die Hilfen und die Unterstützung für diese Menschen keine Gnade. Für uns haben diese Menschen einen Anspruch auf Hilfe und Unterstützung. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
(Beifall bei den LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Staatsministerin Christian Clauß: Sie drehen mir das Wort im Munde herum!)