Nun aber – das wissen wir und das diskutieren wir seit langer Zeit, die NPD war noch lange nicht im Landtag – stößt der Sozialstaat, wie wir ihn bisher kennen, an seine Grenzen.
Er ist in erster Linie auf Transferleistungen sowie auf erwerbsarbeitbezogenen Statuserhalt ausgerichtet. Das heißt, er verfolgt mehr oder weniger nachsorgende Ziele.
Die neuen sozialen Fragen versuchen Sie hier geschickt anzusprechen. Armut und Ausschluss, und zwar vor allem befürchteter Ausschluss oder Abstieg, spielen in dieser Gesellschaft wichtige Rollen, lassen sich mit dem Sozialstaat bisheriger Prägung jedoch nicht ausreichend lösen. Was ist die richtige Antwort hierzu?
Die im Landtag vertretenen Parteien haben ihre eigenen Antworten dazu entwickelt. Von der NPD einmal abgesehen, treten sie auch auf diesem wichtigen Gebiet in einen politischen Wettstreit, dessen Schiedsrichter die von den Menschen erfahrbare Wirklichkeit sein wird. Deshalb kann ich mit meinen Antworten auch nicht für alle Demokraten sprechen. Das wäre anmaßend. Aber einige Unterschiede möchte ich schon herausarbeiten.
Während einige Linkspopulisten den Wunsch, den großen Traum der Menschen nach Freiheit missachten und ihnen die Möglichkeit vorgaukeln, aus der Wirklichkeit des Wandels aussteigen zu können, streut die NPD Gift, und
zwar damit, es ginge schon genug sozial zu, wenn nur alles national genug sei. Zu Ende gedacht: national – sozialistisch. Das ist die schlimmste Form der Volksverdummung aus meiner Sicht.
Wir Sozialdemokraten setzen auf ein neues Leitbild des vorsorgenden Sozialstaates und nicht auf eine deutschtümelnde deutsche Leitkultur.
Gerechtigkeit allgemein und soziale Gerechtigkeit im Besonderen verlangen, dass alle Menschen, unabhängig von der Herkunft, der Rasse, der Religion, dem Geschlecht und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation, die Möglichkeit besitzen, an den Voraussetzungen und Mitteln eines selbstbestimmten und selbstverantworteten Lebens teilzunehmen. Dabei bedeutet gerechte Teilhabe zuallererst Chancengleichheit. Wie wir uns das konkret vorstellen, werden wir bei Gelegenheit in einer eigenen Debatte erläutern.
Ich möchte mit zwei Hervorhebungen schließen. Leitkultur wurde bei der Wahl für das Wort des Jahres 2000 auf den achten Platz gewählt. Deutsche Leitkultur erhielt im gleichen Jahr von der Ponz-Redaktion den Titel „Unwort des Jahres“.
Wird von der Fraktion der FDP das Wort gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Ich frage die GRÜNEN. – Ebenfalls nicht. Dann die Fraktion der NPD; Dr. Müller.
– Herr Porsch, Sie sollten nicht so viel bei Ihrer Kollegin Bonk schnüffeln. Sie reden nämlich wirr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die von uns Nationaldemokraten hier immer wieder eingeforderte Leitkultur der sozialen Gerechtigkeit sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, denn was der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ bedeutet, steht schon im Grundgesetz.
Die Bundesrepublik Deutschland ist schon per definitionem ein sozialer Bundesstaat und kein neoliberaler. Die Politik hat sich an den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu orientieren, die das Wachstums- und Stabilitätsgesetz von 1967 mit hohem Beschäftigungsstand, steigendem Wirtschaftswachstum und Einkommensgerechtigkeit definiert, also Kriterien, die in Deutschland schon seit Langem weit verfehlt werden.
Ludwig Erhards Entwurf einer sozialen Marktwirtschaft steht im diametralen Widerspruch zum Neoliberalismus unserer Tage, da der von ihm propagierte Grundgedanke
darin lag, dass der Staat die hohe Effizienz der Marktwirtschaft dazu nutzen sollte, die Menschen so weit wie möglich vor den Risiken der Marktwirtschaft zu schützen. Die heutigen Neoliberalen hingegen, die sich schon tief bis in alle Parteien einschließlich der PDS vorgefressen haben, wie das Beispiel der Privatisierung der Dresdner WOBA deutlich gemacht hat, verwechseln den Markt mit Politik und Staat. Deutschland müsse mehr Flexibilität ins System bringen, deregulieren, Kündigungen und Einstellungen vereinfachen, die Wirtschaft befreien, so lautet ihr ständig wiederholtes Credo. Der Sozialstaat ist für sie wenig mehr als eine ungeheure Verschwendung, der zu allem Übel angeblich noch jede Form der Privatinitiative ersticken soll.
All diese Kritiker des Sozialstaates sollten sich einmal auf Ursache und Wirkung von wirtschaftlichen Zusammenhängen besinnen. Am Anfang aller unserer ökonomischen Krisen stand nämlich die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte. Die uneingeschränkte Mobilität des Kapitals hat dazu geführt, dass die Finanzierung öffentlicher Güter, also jener Dienstleistungen, die jedem Bürger zugute kommen, für alle Staaten immer schwieriger wird. Der Wettbewerbsdruck, der von Ländern mit Deregulierung ausgeht, zwingt Staaten, die an der sozialen Marktwirtschaft festhalten wollen, ihre Standards erheblich abzusenken.
Die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Einsparung von Sozialausgaben sind also Defensivstrategien, um die Folgen der Politik anderer Länder abzuwehren. Genau an diesem Punkt wird aber auch deutlich, warum der Sozialstaat nur im Rahmen des Nationalstaates erhalten werden kann.
Solange Deutschland politisch und wirtschaftlich in eine Vielzahl internationaler Strukturen eingebunden ist und Maßnahmen wie Schutzzölle ablehnt, kann es sich natürlich auch der Logik des Kapitals nicht entziehen. Daran ändert auch die Utopie von PDS und WASG nichts, die zwar mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit auf Wählerfang geht, aber die bestehende Ungerechtigkeit durch ihre Fixierung auf einen ideologischen Internationalismus de facto unterstützt.
Man will soziale Sicherheit für alle, kürzere und humane Arbeitszeiten, die Erhöhung der Entwicklungshilfe, Personalerhöhung in öffentlichen Einrichtungen, Betriebsmitbestimmung und Weiterentwicklung des Sozialstaates. Zur Bezahlung des teuren Spaßes können die Linkssozialisten gerade einmal anführen, dass die Konzerne eben einmal mehr Steuern zahlen sollen. Diese werden sich dann aber dank offener Grenzen lachend nach Osteuropa und Asien verdrücken und noch mehr staatlich zu unterhaltende Arbeitslose in Deutschland hinterlassen.
Die neue Linkspartei – in der jetzigen Situation nur noch etwas für Illusionisten – denkt, man könnte mit ein paar Erbschaftsteuererhöhungen und Kürzung von Managergehältern das Heer von Arbeitslosen und Migranten weiter finanziell polstern. Das ist wahrlich populistischer Quatsch, Herr Porsch, und nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Die global denkenden Reichen werden die Schlupflöcher des internationalen Finanzsystems nutzen und das Geld rechtzeitig ins Ausland transferieren, während gleichzeitig kleinbürgerliche Sparer und Arbeitslose aus den Mittelschichten immer mehr in den Abgrund getrieben werden.
Die Wahrheit ist, dass es soziale Gerechtigkeit nur im Rahmen der nationalen Solidargemeinschaft geben kann, die durch geeignete Maßnahmen, wie Schutzzölle und ein Rückzahlungsgebot von Subventionen im Falle von Unternehmensverlagerungen, wieder hergestellt werden muss. Ohne nationale Solidarität keine soziale Gerechtigkeit, und ohne soziale Gerechtigkeit kein innerer Friede, Herr Porsch.
Egal, wie sehr sich die Linkssozialisten und die anderen politischen Kräfte in Deutschland noch gegen diese Einsicht wehren, die Wirklichkeit wird irgendwann ihre Umsetzung nötig machen.
Wird von den Fraktionen noch das Wort gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Die NPDFraktion noch einmal; Herr Apfel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit über zwei Jahrzehnten werden die Menschen durch Massenarbeitslosigkeit bedrängt. Abstiegsängste, Politikverdrossenheit und nackte Wut schaffen eine brisante Atmosphäre. Man würde wohl den Neoliberalismus überschätzen, glaubte man, dass diese trügerische Ruhe ewig anhalten würde. Bei der Mehrheit des Volkes genießt er längst keine Sympathie mehr.
Nicht die ideologische Vereinnahmung der Gehirne, sondern die mentale Haltung der meisten Deutschen erklärt, warum die Gegenwehr gegen die soziale Zumutung der letzten Jahre bisher noch recht niedrig ausfiel. Würden alle, die schon seit Jahren zu den Verlierern der wirtschaftlichen Entwicklung gehören oder künftig dorthin abgeschoben werden sollen, ihrer objektiven Lage entsprechend wählen und handeln, bekäme die Republik schnell ein anderes Gesicht.
Wenn ausgerechnet die SPD die Existenz einer Unterschicht leugnen und das Jahrhundertproblem der Arbeitslosigkeit mit Rasierpinsel und Seife bekämpfen will, so ist diese Verdrängung für sich schon bemerkenswert. Aber dass Politiker wie Herr Beck solch zynische Standpunkte überhaupt für gesellschaftsfähig halten, dokumentiert, wie
Herr Gerlach, Sie rühmen sich, dass die SPD den heutigen Sozialstaat maßgeblich mitgestaltet hat. Damit mögen Sie recht haben, aber sicherlich nicht zum Guten, denn der Sozialstaat wurde mithilfe der Sozialdemokraten mit Füßen getreten; der Sozialstaat wurde regelrecht vergewaltigt. Deswegen, meine Damen und Herren, ist sicherlich der alte Spruch „Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten“ hier gut angebracht.
Aber seien Sie sicher! Wenn in Deutschland inzwischen Armut und Ungleichheit von Liberalen, Konservativen und Sozialdemokraten bagatellisiert und die Opfer zu Tätern werden, wird das Volk so viel Arroganz nicht hinnehmen.
Aber nicht nur die politische Klasse hat sich vom Ideal der sozialen Gerechtigkeit verabschiedet, auch die Gesellschaft braucht ein neues Leitbild. Der Einzel- und der Gruppenegoismus haben zur weitgehenden Verkümmerung gesamtverantwortlichen Denkens und Handelns geführt. Eine Wende ist möglich, benötigt aber gewisse Voraussetzungen. Soziale Gerechtigkeit braucht nationale Solidarität und ein starkes, lebendiges Gemeinschaftsbewusstsein.
Deshalb ist der Kern des Sozialen die Entwicklung eines Leitbildes, das die gemeinschaftsbildende Kraft der
Persönlichkeit und nicht die asoziale Ellenbogenmentalität fördert. Sozialpolitik heißt nicht nur, Schäden des Arbeitslebens zu heilen oder bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter Vorsorge zu treffen. Moderne Sozialpolitik muss so ausgerichtet sein, jedem eine gesellschaftliche Teilhabe durch Arbeit zu ermöglichen. Wir brauchen eine Sozialpolitik, die sozialer Gerechtigkeit und volkswirtschaftlicher Vernunft entspricht, eine Sozialpolitik, die verhindert, dass 20 % in Saus und Braus leben, während der Alltag für den Rest immer mehr zum Überlebenskampf wird. Verhindern wir, meine Damen und Herren, eine kollektive Depression wie in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, denn sonst müssen unsere Kinder die dramatischen Folgen dieser politischen Verantwortungslosigkeit ausbaden! Kehren wir, meine Damen und Herren, zu einer Leitkultur der sozialen Gerechtigkeit und der nationalen Solidarität zurück!
Meine Damen und Herren! Wird von den Fraktionen noch das Wort gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Ich frage die Staatsregierung. – Das ist ebenfalls nicht der Fall.
Meine Damen und Herren! Damit ist die 1. Aktuelle Debatte, beantragt von der Fraktion der NPD, „Für eine Leitkultur der sozialen Gerechtigkeit“, beendet.