Protocol of the Session on April 7, 2006

Es ist kein sächsisches Phänomen, dass Misshandlungen oder Vernachlässigungen passieren. Es ist eher ein bundesweites Problem. Deswegen ist es unser Ansinnen, mit dem einen Antrag bundesratsaktiv zu werden.

Wir sind der Meinung, dass wir eine bessere Kommunikation und Koordination zwischen allen Beteiligten brauchen. Wir wollen ein Konzept mit Prävention, Intervention und Hilfsangeboten.

(Vereinzelt Beifall bei der CDU)

Wir hoffen, von den Mitgliedern aller Fraktionen dieses Hauses breite Unterstützung für unsere Anträge zu erhalten. Das wäre ein positives Signal für die gute Zukunft aller Kinder in unserem Land.

(Beifall bei der CDU)

Ich erteile der SPDFraktion das Wort. Frau Dr. Schwarz, bitte.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Kollegin sprach schon von der so genannten Spitze des Eisberges. Ich nenne eine Zahl aus dem Jahr 2003: 4 168 Misshandlungs- und Vernachlässigungsfälle von Kindern wurden polizeilich genannt. Das ist schon schlimm genug, aber die Dunkelziffer soll über 90 % ausmachen, so die Expertinnen und Experten.

Etwa hundert Kinder, die meisten unter vier Jahren, werden in Deutschland pro Jahr zu Tode misshandelt. Das ist die offizielle Zahl. Gerichtsmediziner gehen von mehr Opfern aus, weil einem getöteten Baby oft von außen nichts anzusehen ist und nur jedes zweite obduziert wird. Fast alle getöteten Kinder werden im Kreise der Familie umgebracht. Weniger als 5 % fallen fremden Mördern zum Opfer. Dabei waren 70 % der Täterinnen und Täter selbst ein Opfer von Gewalt und sozialer Kälte. Das sollte uns aufhorchen lassen und wir sollten alle Möglichkeiten der Prävention nutzen.

Konkret zu unseren Anträgen: Wir wollen für Sachsen konkrete Zahlen, auch wenn es Arbeit macht. Ich denke, es ist wichtig festzustellen, wie sich die konkrete Lage in Sachsen darstellt. Wir brauchen eine Analyse, um noch besser präventiv tätig werden zu können. Wir wollen auch ein Konzept dafür, wie wir mit diesen Problemen in Sachsen umgehen. Dabei müssen wir nicht unbedingt in manchem das Rad neu erfinden. Meine Kollegin Nicolaus hat einige Beispiele genannt, die es anderswo schon gibt. In der Begründung unseres Antrags haben wir auch das Hebammen-Projekt in Niedersachsen erwähnt. Ich denke, diesbezüglich gibt es gute Anknüpfungspunkte.

Darüber hinaus ist es unsere Aufgabe, die Beteiligten zu sensibilisieren, Anzeichen von Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung wahrzunehmen und vor allem den Mut zu haben, dem nachzugehen, Beratungen anzubieten und die Möglichkeiten der Anzeige zu nutzen.

Ich glaube wir haben auch deshalb eine so hohe Dunkelziffer, weil oft nicht der ausreichende Wille da ist, bis zu einer Anzeige zu gehen.

Ich gehe davon aus, dass unser Landesaktionsplan gegen häusliche Gewalt, der Mitte des Jahres vorgestellt werden soll, dieses Problem aufgreifen wird.

Zum Schutz von Kindern vor Gewalt und Misshandlungen sowie Vernachlässigungen wollen Kinder- und Jugendärzte das Kindeswohl im Grundgesetz verankern. Damit Behörden wirksamer eingreifen können, möchten die Mediziner die ärztliche Schweigepflicht lockern. Mir sind aber auch Ärzte bekannt, die mit Zivilcourage mit dieser Schweigepflicht auch menschlich umgehen. Wir müssen sehen, dass wir alle Eltern erreichen. Nichts, aber auch gar nichts – das ist meine persönliche Meinung, die ich loswerden möchte – halte ich von der populistischen Äußerung des CDU-Generalsekretärs Kretzschmar, der mit Kindergeldkürzungen droht.

Wir wollen mit unseren Anträgen das Machbare tun. Herr Morlok hatte meiner Kollegin eine Zwischenfrage gestellt. Nach dem so genannten Beitritt und nachdem wir uns unter das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland begeben haben, war es für mich als Erstes unklar, warum wir keine Impfpflicht haben konnten. Ähnlich ist es jetzt mit diesen Anträgen einer Verbindlichkeit der U1- bis U9-Untersuchungen, sodass wir das nur im verfassungsrechtlichen Rahmen machen können. Ich denke aber, dass wir weiter darüber nachdenken sollten, wie stark wir auch diesbezüglich den Kindern helfen können.

Mit Blick auf die Schlagzeilen der vergangenen Monate ist deutlich geworden, dass Familien überfordert sein können. Wir brauchen dieses Frühwarnsystem, um gefährdete Kinder rechtzeitig zu finden und zu schützen.

Die Hamburger Bürgerschaft hat nach dem Tod der verhungerten Jessica einen Sonderausschuss eingesetzt. Es gab dazu eine umfangreiche Anhörung im Hamburger Senat. Ich kann allen, die dieses Thema bearbeiten bzw. sich dafür interessieren, auch aus sozialer und rechtspolitischer Sicht empfehlen, sich einmal mit dieser Anhörung zu beschäftigen. Das mündete in diese Bundesratsinitiative, auf die Kollegin Nicolaus schon hingewiesen hat. Der Freistaat Sachsen sollte im Bundesrat eine solche Initiative unterstützen, um alle rechtlichen Mitteil auszuschöpfen, um die genannten U1- bis U9-Untersuchungen verbindlicher zu gestalten. Wir wissen, Grundgesetz, Datenschutz sind hohe Hürden, aber im Interesse des Kindeswohls sollten wir dies in den Mittelpunkt stellen.

(Vereinzelt Beifall bei der CDU)

Ich möchte noch auf ein sächsisches Problem hinweisen. Aus der Antwort auf unseren CDU-/SPD-Antrag in Drucksache 4/0679 wurde deutlich, dass wir im Untersuchungsjahr 2004/05 ein Problem hatten. Es gibt durchaus die Akzeptanz der Kita-Untersuchungen, aber aufgrund fehlender personeller Ressourcen des kinder- und jugendärztlichen Dienstes haben nicht alle Kinder ein Angebot für diese von uns gewollten Kita-Untersuchungen erhalten. Auch für das laufende Jahr sind mir wieder Probleme genannt worden.

(Beifall der Abg. Kristin Schütz, FDP)

Ich werde noch einmal die Staatsministerin, die heute aus dienstlichen Gründen nicht da sein kann, bitten, auf die Landkreise und Kreisfreien Städte zuzugehen, damit dort die Aufgaben, die wir hier in Sachsen erfüllen können, auch wahrgenommen werden.

Ich bitte Sie ganz herzlich um Unterstützung dieser beiden Anträge. Trotz aller bestehenden rechtlichen Bedenken stehen für uns natürlich die Kinder im Mittelpunkt, denen geholfen werden muss.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Die Linksfraktion.PDS erhält das Wort. Herr Neubert, bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute über ein sehr sensibles Thema – es geht um den Schutz von Kindern vor Missbrauch und Vernachlässigung –, ein sensibles Thema, und zwar aus zwei Perspektiven: Auf der einen Seite müssen wir alle Wege ausloten, Kinder in unserer Gesellschaft vor möglichem Leid zu schützen; auf der anderen Seite müssen wir aufpassen, dass wir nicht alle Eltern unter einen Generalverdacht, ihre Kinder möglicherweise zu misshandeln, stellen, und wir müssen die garantierten Persönlichkeitsrechte der Eltern schützen. Da müssen wir natürlich auch

aufpassen, nicht die „gläsernen Eltern“ zu schaffen. Wenn ich höre, Zurücktreten vom Datenschutz, werde ich persönlich immer etwas skeptisch. Man muss im Detail darüber sprechen, aber ich habe an dieser Stelle immer Bedenken.

In den letzten Monaten gab es leider einige sehr Besorgnis erregende Fälle des Kindesmissbrauchs, der Kindervernachlässigung bis hin zum Kindesmord. Dabei sei erst einmal dahingestellt, ob die Zahl dieser Fälle zugenommen hat oder ob diese nur öffentlich intensiver reflektiert wurden. Denn jeder einzelne Fall, egal, ob in der Öffentlichkeit diskutiert oder nicht, ist ein Fall zu viel.

Sehr geehrte Damen und Herren, das Thema ist für Streitereien parteipolitischer Art ungeeignet. Was wir tun müssen, auch hier im Landtag, ist das Abwägen verschiedener Maßnahmen zur Erreichung des Zieles, jedem Kind ein gewaltfreies und menschenwürdiges Aufwachsen zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, Maßnahmen zu ergreifen, die dieses Ziel schnellstmöglich erreichen, dann aber auch langfristig wirken und gleichfalls die Persönlichkeitsrechte der Eltern schützen.

Genau da stehen wir vor der Frage, wie es uns gelingen kann, die gefährdeten Familien bzw. Kinder herauszufinden; das ist für mich die entscheidende Frage.

Das Dilemma bei verschiedenen öffentlich gewordenen Fällen ist doch auch die Tatsache, dass es eigentlich im Vorfeld keine Anhaltspunkte gab, dass die Familien nach außen hin als vollständig intakt erschienen, dass die Nachbarn im Nachgang völlig überrascht waren, dass es zu solchen Vorfällen gekommen war.

Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben verschiedene Institutionen in unserer Gesellschaft, welche die Kinder während der Zeit ihres Aufwachsens mehr oder weniger intensiv begleiten: Das sind Kindertagesstätten, darüber hinausgehend noch die anderen Bereiche der Jugendhilfe, Schulen und die medizinische Versorgung.

Die heute vorliegenden Anträge beschäftigen sich vorrangig mit einem Bereich: der medizinischen Versorgung. Schon im ersten Lebensjahr des Kindes finden sechs der neun Vorsorgeuntersuchungen der Kinder statt; es besteht also eine recht intensive Begleitung durch den Kinderarzt. Ich muss zugestehen: Es gibt für mich nur sehr wenige nachvollziehbare Gründe, diesen Untersuchungen fernzubleiben – aber es gibt sie –, zumal sie den Eltern auch Sicherheit für die eigene Erziehung und für die Entwicklung des Kindes geben.

Vor diesem Hintergrund unterstützen wir den Antrag der Koalition. Was wir aber ablehnen – Frau Schwarz hat es schon angedeutet, nur etwas zurückhaltender; und da sich der Generalsekretär der CDU diesbezüglich so laut in der Öffentlichkeit äußern musste –, sind die Gedanken, den Eltern das Kindergeld zu kürzen, wenn sie mit ihren Kindern einer solchen Untersuchung fernbleiben. Das ist ein solch idiotischer Vorschlag – und wer solche Vorschläge unterbreitet, dem geht es eben nicht um das Kindeswohl.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Man kann nicht alles mit Zwang lösen, denn damit würde das Kind – und ich betone: das Kind – doppelt bestraft werden.

An dieser Stelle vielleicht noch eine Ergänzung, Frau Nicolaus. Sie haben die Gründe für die Risikofaktoren bezüglich einer Gefährdung benannt. Es ist auch ein Faktor darin benannt, den Sie nicht erwähnt haben: die Armut. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung muss uns ganz deutlich vor Augen geführt werden, dass die Armut ein großer Risikofaktor ist.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Wir haben es mit einer Situation zu tun, in welcher Eltern nicht in der Lage sind, ihrer Erziehungsverantwortung gerecht zu werden. Also muss es Formen der Unterstützung geben und nicht des Zwanges. Ein gutes Beispiel – das des Hebammenprojektes – wurde schon im Antrag und in den Reden erwähnt.

Natürlich muss es neben der verbindlicheren Gestaltung der Vorsorgeuntersuchungen eine Unterstützung der Ärzte geben, Auffälligkeiten, Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung zu erkennen.

Sehr geehrte Damen und Herren, selbst bei einer verbindlicheren Regelung der Vorsorgeuntersuchungen sind es insbesondere nach dem ersten Lebensjahr des Kindes nur Momentaufnahmen, die der Arzt machen kann. Er kann sich nur bedingt ein Bild von der Lebens- und Erziehungssituation der Familie machen. Es sind übrigens genau solche Momentaufnahmen wie diejenigen Situationen, wenn aufgrund von Hinweisen das Jugendamt vor der Tür steht und nach den familiären Verhältnissen schaut.

Hierbei gibt es ein zusätzliches Problem, denn aufgrund der finanziellen Situation der kommunalen Ebene ist man glücklich darüber, wenn der Sozialarbeiter in seinem Bericht keine Hilfen empfiehlt. Das ist tatsächlich ein Problem, mit dem wir uns auseinander setzen müssen, womit wir auch wieder bei der Frage der Finanzierung sind.

Worauf ich eigentlich hinaus will, ist die Frage: Wie kann das Jugendamt seiner Wächterfunktion, seinem Schutzauftrag, der jetzt noch einmal explizit im KJHG aufgenommen wurde, gerecht werden, wenn die intensive ärztliche Begleitung nach der U 6 nicht mehr gegeben ist.

An dieser Stelle würde ich es gern sehen, wenn die Kindertagesstätte im Wohnumfeld eine wichtige Rolle übernehmen würde. Wir haben die vorteilhafte Situation, über ein flächendeckendes Netz von Kitas zu verfügen. Warum können diese Kitas nicht auch für Eltern Angebote unterbreiten, deren Kinder noch nicht die Kita besuchen. So könnten beispielsweise die Kitas die Eltern regelmäßig mit einem Brief zu einer Beratungsveranstaltung einladen, mit ihnen ins Gespräch kommen, sich kennen lernen und sich ein Bild von der Erziehungssituation machen. Natürlich muss es ein attraktives Angebot sein, das den Eltern

wirklich hilft; denn es ist festzustellen, dass bei vielen Eltern das Bedürfnis auf Beratung und Unterstützung bezüglich der Erziehung der Kinder besteht.

Mit solch einer angebotsorientierten Methode sieht man sehr schnell, welche Eltern diesen Angeboten unentschuldigt fernbleiben. Ich möchte das nicht als Zwangsberatung verstanden wissen, an der man pflichtig teilnehmen muss, aber als ein Angebot. Schon durch eine Entschuldigung findet eine Rückmeldung statt und dann greift wieder die Frage der Wächterfunktion des Staates, die im KJHG verstärkt verankert ist. Diesen Aspekt der Einbindung von Kindertagesstätten bitte ich stärker im Auge zu behalten.

Sehr geehrte Damen und Herren, es ist uns wichtig, über eine unaufdringliche Angebotsstruktur diejenigen einzugrenzen, die sich in Erziehungsschwierigkeiten befinden, und diesen Familien mit einer sachgerechten Unterstützung zur Seite zu stehen. Das 8. Forum für Gesundheit und Sozialpolitik der Kinder- und Jugendärzte spricht an dieser Stelle von einem nötigen Betreuungsnetzwerk, welches als Frühwarnsystem wirken kann. Ich befürchte einen kleinen Unterschied in der Herangehensweise zur Koalition, denn nicht Zwang verringert und schützt vor Vernachlässigung oder Misshandlung, sondern nur die Unterstützung dieser Eltern kann zum Erfolg führen.

Insgesamt gilt es – insbesondere in den benannten, aber auch darüber hinausgehenden gesellschaftlichen Bereichen –, eine stärkere Fähigkeit zu erzeugen, Vernachlässigung und Misshandlung zu erkennen.

Lassen Sie mich zum Schluss noch auf etwas verweisen: Egal, welche Maßnahmen wir angehen werden – wir werden leider nie ausschließen können, dass es zu solchen Fällen kommt. Aber es kann uns gelingen, sie in sehr hohem Maße zu verhindern.

Ich danke schön.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Ich erteile der NPDFraktion das Wort; Herr Dr. Müller.