Hierzu können die Fraktionen Stellung nehmen. Die Reihenfolge in der ersten Runde: Die Einreicherinnen CDU und SPD, dann Linksfraktion.PDS, NPD, FDP, GRÜNE und die Staatsregierung.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Leipzig lässt eine Mutter ihren zweijährigen Sohn verdursten. In Hamburg lässt eine Frau ihre Tochter qualvoll verhungern. Ein 17 Monate alter Junge in Kaiserslautern wurde gequält und misshandelt, bis er schließlich an dem zwangsweise in ihn hineingestopften Essen erstickte. Das sind nur drei Fälle von gravierenden Kindesmisshandlungen, die in jüngster Zeit die Medienaufmerksamkeit erregten. Jedes Mal wird gefragt: Wie konnte das passieren? Warum hat sich niemand gekümmert? Warum haben Nachbarn nichts bemerkt? Ist dem Kinderarzt nichts aufgefallen?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese öffentlich bekannt gewordenen Fälle sind aber nur die Spitze des Eisberges. Die nicht tödliche körperliche und seelische Misshandlung geschieht meist im Verborgenen und hinter Wohnungstüren, innerhalb der Familie. Ich will hier mit Zahlen nicht spekulieren, aber nach einhelliger Meinung aller Experten ist die Dunkelziffer hoch, für mich viel zu hoch. Die Kinder erleiden physische, aber auch seelische Schädigungen, die ihr weiteres Leben prägen. Oftmals ist es die in der Kindheit erlebte Erfahrung, die die Basis für das spätere Elterndasein bildet, dafür, wie die Betroffenen mit ihren eigenen Kindern umgehen werden.
Hier ist es Aufgabe der Gesellschaft, also unsere Aufgabe, zu intervenieren. Dazu gehören alle, die im Kontakt zu den Familien stehen: die Kinderärzte, die Erzieherinnen, die Jugendämter, die Amtsärzte. Gerade den Amtsärzten ist es zum Beispiel nicht aufgefallen – aber auch den Schulbehörden nicht –, dass das siebenjährige Mädchen in der Wohnung ihrer Eltern misshandelt wurde und letzten Endes verhungert oder verdurstet ist, je nachdem, was man heranziehen will.
Auch die Nachbarn und die Freunde der Familie müssen sich kümmern. Sie dürfen nicht einfach wegschauen. Beobachten, nachfragen und notfalls auch Verdachtsfälle weitermelden, das erfordert, meine sehr verehrten Damen und Herren, Mut und Zivilcourage. So sagte die Mutter
des sechsjährigen Dennis, der in Cottbus verhungerte: Es hat ja niemand nach Dennis gefragt. – Wenn beobachtet wird, dass Eltern ihre Kinder misshandeln und seelisch vernachlässigen, ist es eine wichtige Aufgabe, die Alarmsignale zu erkennen. Mangelnde Körperhygiene, Apathie oder blaue Flecken an den falschen Stellen sind erkennbare Zeichen von Misshandlungen und Verwahrlosung. Die emotionale Vernachlässigung zu erkennen ist vielfach schwieriger.
Besondere Risiken für Eltern nennt der Präsident des Bundesverbands für Kinder- und Jugendärzte, Herr Dr. Wolfgang Hartmann. Dazu gehören die psychische Erkrankung eines Elternteils, aber auch Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, unerwünschte Schwangerschaft, schwierige häusliche Verhältnisse und oftmals die in der Kindheit selbst durchlebte häusliche Gewalt. Aber auch junge Mütter und Alleinerziehende sind betroffen, wenn sie sich mit ihrer Mutterschaft überfordert fühlen. Trotzdem ist ein Großteil der Eltern außerordentlich besorgt um seine eigenen Kinder; eine Vielzahl von ihnen benötigt im Besonderen unsere Hilfe.
Die Koalitionsfraktionen sehen die Notwendigkeit zur Hilfe. Wir wissen, dass dieses Problem nicht durch einfache Maßnahmen zu lösen ist. Vielmehr brauchen wir unseres Erachtens ein ganzes Maßnahmenbündel, also ein Konzept, um Risikofamilien frühzeitig zu erkennen und ihnen Unterstützungs- und Hilfsangebote zu unterbreiten. Oftmals gibt es Kleinigkeiten, die den Erzieherinnen auffallen. Dem Kinderarzt fallen die blauen Flecken auf, für die auf Nachfrage irgendeine plausible Erklärung gefunden wird. Die Nachbarn bemerken oftmals laute Auseinandersetzungen aus der Wohnung und wissen, dass dort viel Alkohol konsumiert wird. Aber für sich allein ergeben diese einzelnen Informationen noch keinen Verdacht auf eine Kindesmisshandlung. Könnte man sie zusammenfügen, gäbe es durchaus einen Grund, einmal näher hinzusehen.
Deshalb muss unser Ziel die bessere Zusammenarbeit aller Beteiligten sein. Eine bessere Zusammenarbeit von Gesundheits- und Jugendämtern, ein Netzwerk aus Kliniken, Ärzten, Erzieherinnen, Lehrerinnen und Polizei, aber auch die Zusammenarbeit mit dem Kinderschutzbund sind dringend erforderlich. Statistisch gesehen sind sechs von hundert Müttern nicht in der Lage, ihre Babys ausreichend zu versorgen. Sie werden mit den schreienden Säuglingen nicht fertig. In solchen Fällen kommt es
leider immer wieder zu Kindesmisshandlungen. Gerade Säuglinge und Kleinkinder sind besonders gefährdet. Bei ihnen treten bei mangelnder Versorgung sehr schnell lebensbedrohliche Gesundheitszustände auf.
Die Hebammen können hier eine wertvolle Hilfe leisten, denn schon über den Mutterpass, der vorgelegt werden muss, kann die Hebamme erfahren, ob die Mütter während ihrer Schwangerschaft die Vorsorgetermine regelmäßig wahrnehmen oder nicht. Haben sie das nicht getan, kann dies schon ein Zeichen dafür sein, dass es sich um eine Risikofamilie handelt. Wir müssen aber auch die Nachsorge beleuchten. Auch nach der Geburt gehen die Hebammen noch in die Familien, auch in Sachsen.
Ich will ein Beispiel aus Hessen benennen. Dort ist es im Landkreis Bergstraße so, dass die Hebammen diese Nachsorge gezielt aufnehmen. Sie geben den Müttern Hilfestellung im Umgang mit den Säuglingen, denn es ist längst nicht der Fall, dass nur sozial schwache Eltern diese Hilfestellung benötigen, sondern auch die Eltern, die mit der Fürsorge für die Kleinen total überfordert sind, benötigen Hilfe. Warum schreit mein Kind? Wie kann ich die Signale verstehen, die mein Kind aussendet? – Die Antworten auf diese Fragen kann man in besagtem Landkreis Bergstraße in einer Elternschule bekommen und kann dort angelernt werden. Das Projekt wird von den Krankenkassen vor Ort und von der Karl-KübelStiftung unterstützt. Hier müssen viele Komponenten miteinander verbunden werden.
Wir können auch für Sachsen die Familienbildung benennen, die zuvorderst zusammen mit den Kindertagesstätten umgesetzt wird.
Wir wollen weiter unten ansetzen, denn nicht gleich nach der Geburt kommen die Kleinstkinder in die Einrichtungen. Solche guten Ansätze für die engere Zusammenarbeit mit den jeweiligen Institutionen sind im Sinne des Kindeswohles richtig und sinnvoll. Das scheitert aber oftmals am Datenschutz, denn wenn wir das besagte Modell nochmals näher beleuchten, also das aufsuchende Tätigwerden der Hebammen und das Vernetzen mit einer Elternschule oder Familienbildung, dann muss man erst einmal wissen: An wen geht man heran? Wer hat es bisher noch nicht wahrgenommen? Diese Daten herauszufiltern ist schwierig. Wir wollen den Datenschutz dazu nicht aushebeln, aber vielleicht in einer gewissen Weise umgehen oder die jeweiligen Bedingungen ändern.
Ein positiver Schritt ist die Veränderung des Jugendhilfegesetzes im § 8a. Man hat damit den Jugendämtern eine Handhabe gegeben, um Vernachlässigungen eher zu erkennen, um bei den Familien eher einschreiten zu können bzw. den Familien Hilfe zu geben.
Unserer Meinung nach sollte man prüfen, ob man die Eltern, die Kindesmisshandlungen begangen haben, landesweit erfassen sollte. Bei diesen gewalttätigen Familien passiert es oft, dass sie in andere Orte umziehen, was man nicht immer nachvollziehen kann. Dabei ist klar, dass normalerweise die Akten nachgesendet und Erstge
Hier muss geprüft werden, inwieweit der Datenschutz gegenüber dem Grundrecht des Kindes auf Leben und körperliche Unversehrtheit zurücktreten muss. Ich weiß, dass das eine schwere Entscheidung ist, aber darüber können wir gern diskutieren.
Zu prüfen ist auch, ob der Arzt von seiner Schweigepflicht entbunden werden sollte, wenn er Kenntnis von Fällen der Misshandlung oder Verwahrlosung von Kindern erhält. Gerade Kinderärzte verfügen über ein geeignetes Instrument, mit dem sie die Entwicklung unserer Kinder von Geburt an beobachten können. Das sind die Früherkennungsuntersuchungen, um die es in einem der Anträge, die wir heute hier diskutieren, geht.
Insgesamt sind es neun Untersuchungen für Säuglinge und Kleinkinder. Sie umfassen den Zeitraum von der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr. Diese Untersuchungen haben das Ziel, die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder zu beobachten. Außerdem sollen möglicherweise auftretende Fehlentwicklungen frühzeitig erkannt und behandelt werden. Dazu gehören zum Beispiel Seh- und Hörtests, aber auch die Überprüfung der sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten.
Bei Entwicklungsdefiziten kann der Arzt frühzeitig durch Verordnung geeigneter Fördermöglichkeiten wie Krankengymnastik, Sprachtherapie oder Ergotherapie eingreifen.
Bei diesen Untersuchungen wird der Arzt auch auf Fälle von Kindesmisshandlung oder Kindesvernachlässigung aufmerksam, denn die Kinder werden in regelmäßigen Abständen vorgestellt. Damit werden die Eltern in gewisser Weise kontrolliert.
Im Sächsischen Kindertagesstättengesetz wird im vierten Lebensjahr eine nochmalige Untersuchung gefordert. Diese wird aber leider nicht von allen wahrgenommen.
Ein weiterer Aspekt ist die Teilnahme an den Untersuchungen im Vorschulbereich, also im fünften oder sechsten Lebensjahr. Das sind eigentlich Pflichtuntersuchungen, aber auch hier ist zu verzeichnen, dass nicht alle diese Untersuchungen wahrnehmen. Wir haben dazu von der Ministerin gehört, dass der Anteil der Eltern, die ihre Kinder an den Untersuchungen teilnehmen lassen, bei 99 % liegt. Aber trotzdem gibt es ein Prozent, die nicht daran teilnehmen. Ob sich die Eltern an das halten, was in diesen Untersuchungen angeraten wird, wird leider nicht kontrolliert.
Wir sind der Meinung, dass die Teilnahme an den Untersuchungen U1 bis U9 in Zukunft verpflichtender gestaltet werden sollte. Eine verstärkte Aufklärung der Eltern über den Sinn und Zweck dieser Früherkennungsuntersuchungen scheint mehr als angebracht; denn zirka 30 % der Eltern nehmen die Termine zu diesen Früherkennungsun
tersuchungen nicht wahr. Dabei nimmt der Prozentsatz der Teilnahme an diesen Untersuchungen mit dem fortschreitenden Alter der Kinder ab.
Angesichts der Bedeutung dieser Frage reicht es uns nicht aus, dass wir nur darüber sprechen oder mahnen. In dieser Richtung muss vielmehr etwas passieren.
Auch die Kinder, deren Eltern diese wichtigen Voruntersuchungstermine trotz aller Aufklärung nicht wahrnehmen, dürfen wir nicht durch das Raster fallen lassen. Wir sind der Meinung, dass die Früherkennungsuntersuchungen für alle Kinder – wie ich bereits ausführte – verpflichtender gestaltet werden sollten. Diese Untersuchungen liefern nicht nur wichtige Erkenntnisse über die Gesundheit und die altersgerechte Entwicklung unserer Kinder, sondern dadurch wird auch frühzeitiges und wirkungsvolles Gegensteuern bei Auffälligkeiten ermöglicht.
Wir sind davon überzeugt, dass die Früherkennungsuntersuchungen ein ganz wichtiger Bestandteil unseres heute hier beantragten – und hoffentlich auch beschlossenen – Konzeptes sind. Wir werben natürlich hier im Hohen Haus bei allen Fraktionen um Zustimmung.
Wir bitten die Landesregierung, eine Bundesratsinitiative zu unterstützen, die zum Ziel hat, die Regeluntersuchungen für Säuglinge und Kleinkinder verpflichtender zu gestalten.
Ich entnehme Ihrem Redebeitrag und auch dem von Ihnen gestellten Antrag immer das Wort „verpflichtender“. Was meinen Sie damit: Pflicht oder freiwillig?
Es ist eine Gratwanderung – das habe ich bereits gesagt – zwischen Aufklärung und Pflicht. Sie wissen selbst – ich denke, das ist der Hintergrund Ihrer Frage –, dass wir zwar gern eine Pflicht verankern würden und diese auch in die Bundesratsinitiative hineinschreiben möchten, dass dies aber momentan leider der Verfassung widerspricht. Ich will dazu sagen, dass ich das sehr bedaure.
Kritiker könnten jetzt bemerken, dass die Verpflichtung allein natürlich nichts nützt, wenn man sie nicht durchsetzen kann. Das sage ich auch reflektierend auf Ihre Frage. Ich stimme den Kritikern darin zu, dass das allein nichts nützt. Wir müssen uns deshalb die Frage stellen, wie man es erreichen kann, diese verpflichtenden Maßnahmen zu kontrollieren und deren Einhaltung sicherzustellen, wenn sich die Eltern durch Arzt- oder Wohnungswechsel den Maßnahmen entziehen. Hierzu gibt es Vorschläge, zum
Ich weiß wohl, dass man dann, wenn man das Kindergeld kürzen würde, sobald diese Untersuchungen nicht wahrgenommen werden, eher die Kinder als die Eltern bestrafen würde.
Es ist aber aus meiner Sicht notwendig, einen aufsuchenden Dienst einzurichten. Wenn man weiß, dass Untersuchungen nicht wahrgenommen werden, dann müsste jemand auf die Eltern zugehen und diese animieren – ich will hier nicht von zwingen sprechen –, diese Untersuchungen wahrzunehmen. Das wäre sehr wichtig.
Bei alledem darf man nicht aus den Augen verlieren, dass wir in Zukunft noch mehr mit diesen Dingen konfrontiert werden und uns wahrscheinlich in diesem Hohen Hause damit auseinandersetzen müssen.
Unser Ziel ist es, Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen und den Eltern Hilfsangebote zu machen. Bei den Früherkennungsuntersuchungen kann das Problem allein dadurch nicht aus der Welt geschafft werden. Das ist mir völlig klar. Wir halten sie aber für einen wichtigen Bestandteil unseres Maßnahmenkonzepts. Wir wollen ein Bündel von Maßnahmen aufeinander abstimmen, um am Ende ein Konzept zu haben, das dichtmaschiger ist, hier bestimmte Vernachlässigungen oder Misshandlungen herauszufiltern.
Es ist kein sächsisches Phänomen, dass Misshandlungen oder Vernachlässigungen passieren. Es ist eher ein bundesweites Problem. Deswegen ist es unser Ansinnen, mit dem einen Antrag bundesratsaktiv zu werden.