Herr Herbst, sehen Sie bei Ihren Überlegungen Unterschiede im Berufswahlverhalten von Mädchen und Jungen?
Da gibt es mit Sicherheit Unterschiede. Genauso wird es aber auch Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen und zwischen Stadt und Land geben. Ich glaube, darüber kann kein Zweifel bestehen.
Meine Damen und Herren, es gibt in Sachsen viele gute Einzelbeispiele, Projekte und Initiativen, die sich damit beschäftigen, wie man Schule auf der einen und Wirtschaftsunternehmen auf der anderen Seite besser zusammenbringen kann. Es gibt Unternehmen, die sich engagieren, es gibt eine Menge Lehrer, es gibt eine Menge Schüler, die mit unglaublich viel Energie diese Projekte vorantreiben. Es gibt auch neue Lehrpläne, die den Rahmen öffnen, im Unterricht mehr auf wirtschaftliche Themen einzugehen. Es gibt den Berufswahlpass und die Woche des offenen Unternehmens.
Doch all diese guten Einzelbeispiele können eines nicht verdecken: Wir sind von einer flächendeckenden qualifizierten Unterstützung der Schüler bei der Berufswahl weit entfernt. Weil die Koordination fehlt, haben auch viele dieser Einzelprojekte nur eine regionale Wirkung. Unser Ziel ist es, Schülern frühzeitig zu helfen, ihre Fähigkeiten und ihre Eignung zu erkennen, ihnen aber auch aufzuzeigen, welche Jobs Zukunft haben, womit man später Geld verdienen kann.
Das kann und sollte man nicht von oben verordnen. Deshalb wollen wir Anreize schaffen. Deshalb setzen wir auf freiwilligen Wettbewerb. Ein Baustein dazu ist unser Vorschlag, ein schulisches Qualitätssiegel für exzellente Berufsorientierung einzuführen. Es gibt positive Beispiele, die zeigen, dass so etwas bereits realisiert wird. Im Nachbarfreistaat Thüringen ist dies der Fall. In Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg gibt es entsprechende Initiativen mit Unterstützung der Bertelsmann-Stiftung. Ich denke, wir in Sachsen können davon auch ein Stück weit lernen.
Die Entwicklung eines solchen Qualitätssiegels, die Festlegung und Überprüfung der entsprechenden Kriterien muss nicht von einem Ministerium übernommen werden. Wir können uns dafür durchaus einen externen Dienstleister vorstellen. Entsprechende Unterstützung und die Bereitschaft, sich zu engagieren, gibt es beispielsweise von der Landesarbeitsgemeinschaft Schule und Wirtschaft.
Meine Damen und Herren, ein Qualitätssiegel ist keine Allzweckwaffe, um alle Probleme zu lösen, um alle Fehlsteuerungen zu vermeiden. Aber ein solches Qualitätssiegel wird eines bewirken: dass sich Schüler, dass sich Lehrer, dass sich Eltern intensiver mit der Vorbereitung der Jugendlichen auf das Berufsleben beschäftigen. Das hilft den Schülern, das hilft aber auch uns im Land; denn nur so werden wir es in Sachsen schaffen, dass die berufliche Orientierung unserer Schüler besser wird, dass die Schüler einen Job bekommen und dass wir als Land unseren Fachkräftebedarf befriedigen können.
Vielen Dank! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das muss dem Kultusminister doch wehgetan haben. Kollege Colditz, Sie haben es vielleicht auch gehört, als Sie herumgelaufen sind: Mangelnde Beherrschung der Grundrechenarten, der Orthografie und der Grammatik, mangelnde soziale Fähigkeiten, mangelnde Präsentationsfähigkeiten – so klingt das Zeugnis, das die Wirtschaftsverbände den sächsischen Schulabgängerinnen und Schulabgängern ausstellen. So haben auch die Rednerinnen und Redner von der Koalition gesprochen. Das steht im Raum und das passt irgendwie gar nicht zu dem, was Sie gerade disku
tiert haben, wo es hieß, dass an sächsischen Schulen alles gut sei. Ich würde schon gern hören, Herr Minister, wie Sie sich dazu positionieren; denn das macht deutlich, dass es Handlungsbedarf im sächsischen Schulwesen gibt.
Auch am Freitag kann man hier noch etwas geben. – Was da kritisiert wird, muss man eindeutig auch im Zusammenhang mit dem Schulwesen sehen, das wir in Sachsen haben. Ein Schulwesen, das von vornherein Menschen aussortiert, ihnen im Alter von zehn Jahren sagt, in welche Richtung sie zu gehen haben, und sie nicht individuell fördert, produziert unterm Strich Leute, die nicht die Grundfähigkeiten haben, sich für einen Beruf selbst zu bewerben oder ein eigenständiges Leben in eigener Verantwortung zu führen. Wir müssen ganz von vorn anfangen, damit junge Menschen nach ihren Fähigkeiten gefördert werden, damit die Möglichkeit besteht, dass sie die Fähigkeit erwerben, sich einzubringen.
Das ist natürlich eine Frage der Berufsorientierung. Dabei ist mir aufgefallen, dass gerade auch die Kolleginnen und Kollegen aus dem Wirtschaftsbereich gesprochen haben. Aber da muss natürlich auch die Schule mehr leisten. Sie muss Grundfähigkeiten und Wissen vermitteln und sie muss jungen Menschen Wege aufzeigen, die sie beruflich gehen können, oder Bereiche, in denen sie sich engagieren wollen, in denen sie arbeiten wollen.
Dazu reichen die Anstrengungen, die es im Moment gibt, der regelmäßige Besuch im BIZ oder das einmalige Praktikum, einfach nicht aus, sondern da müssen mehr institutionalisierte Vorhaben geschaffen werden und es müssen mehr grundsätzliche Veränderungen in der Schulkultur stattfinden.
Ein Beispiel: Wenn sich eine Schule nach außen zu Partnern öffnet, kann sie grundsätzlich Schülerinnen und Schülern Erfahrungen in anderen Lebensbereichen ermöglichen. So kann zum Beispiel eine Schule regelmäßig eine Hörspiel-AG beim örtlichen Radiosender anbieten, wo Schülerinnen und Schüler Hörspiele, Schulradio oder Ähnliches produzieren und sich auf diese Art und Weise in diesem Bereich austesten können. Eine Schule kann zum Beispiel an jedem Mittwoch einen Sozialtag durchführen, wobei alle Schülerinnen und Schüler in Einrichtungen gehen und sich dort als Teil des Schulprofils einbringen und ausprobieren können.
Diese Kooperationen nach außen ermöglichen den Schülerinnen und Schülern verschiedene Erfahrungsbereiche. Das ist das, wohin wir kommen müssen: eine Schulkultur, die sich nicht nach innen abschließt, sondern dies grundsätzlich ermöglicht.
Darüber hinaus sind aus unserer Sicht noch wesentliche institutionelle Veränderungen möglich und auch nötig. Sie erwähnten beispielsweise den Projekttag in der Produktion. Warum nicht? Warum sollte man ihn nicht grundsätzlich in den verschiedenen Klassenstufen, in den verschiedenen Bereichen einführen, damit die Leute auch unter
schiedliche Erfahrungen sammeln und auf diese Art und Weise einen Einblick bekommen? Das kann das Kultusministerium in Absprache mit den Schulen regeln.
Oder: Warum haben wir nur ein Schulpraktikum pro Schullaufbahn? Das ist überhaupt nicht nachzuvollziehen. Sinnvoll wäre, mindestens zwei zu machen und auch da verschiedene Bereiche vorzugeben. Sie, Kollege Herbst, haben beantragt, ein Siegel einzuführen. Wenn Sie dabei die Unterschiedlichkeit der Berufswahl von Mädchen und Frauen gar nicht im Hinterkopf haben, dann ist das schon ein Manko eines solchen Siegels. Das muss mit beachtet werden. – Meine Kollegin Heike Werner wird darauf noch näher eingehen.
Deswegen wäre es sinnvoll, Praktika in den verschiedenen Bereichen anzubieten, zum Beispiel zwangsläufig ein Sozialpraktikum in einem Bereich durchzuführen, den sich jeder aussuchen kann, damit auch Jungen Erfahrungen machen, die sie sonst aufgrund ihrer ursprünglichen Berufswahl nicht machen würden.
Die Einführung eines Qualitätssiegels kann eine Möglichkeit sein, Initiative und Engagement vor Ort zu befördern. Darum stimmen wir diesem Antrag ebenso zu wie dem der Koalition, bei dem es sich im Grunde um einen Berichtsantrag handelt.
Allerdings möchte ich noch auf einen Zungenschlag in der Begründung des FDP-Antrages eingehen. Darin wird gesagt, eines der Hauptprobleme sei, dass die jungen Menschen in Berufen arbeiten wollen, die nicht in dem erforderlichen Ausmaß zur Verfügung stehen oder für die sie nicht geeignet sind. Natürlich muss durch entsprechende Information, durch Angebote, durch Ausprobieren den Leuten ermöglicht werden zu sehen, in welchen Bereichen sie sich einbringen können oder was überhaupt möglich ist. Aber an sich stehen wir für eine selbstbestimmte Berufswahl, für eine frei gewählte Ausbildung, für die Selbstbestimmung von jungen Menschen im Lernprozess in der Schule und für ein eigenständiges Leben später in der Gesellschaft, wobei sich die Berufswahl eben nicht nur daran ausrichtet, ob gerade noch Bäckerinnen und Bäcker bzw. Lehrerinnen und Lehrer gesucht werden, weil sie in Zukunft benötigt werden. Die Leute sollen befähigt werden, sich selbst zu entscheiden, wie sie ihr Leben gestalten wollen. Natürlich verfügen wir auch über die Entwürfe, das gesellschaftlich abzusichern, aber das ist für eine Ausbildung schon entscheidend.
Darum unterstützen wir natürlich die Initiativen zur Verbesserung der Berufsorientierung. Aber wir müssen insgesamt zu einer anderen Schulkultur kommen. Dazu gehört zum Beispiel auch die Debatte, die wir eben geführt haben.
dass wir im vergangenen Jahr bereits eine ähnliche Debatte geführt haben. Damals wetterte der CDU-Kollege Lämmel gegen die unzureichende Ausbildungsreife zahlreicher Bewerber in Sachsen. Auf meine Zwischenfrage nannte er die sächsischen Schulen, welche zu viele Minderqualifizierte auf den Arbeitsmarkt entlassen, als Problem.
Eigentlich führen wir hier mit der Diskussion um die Ausbildungsreife jugendlicher Schulabgänger die vorherige Diskussion zum Bereich Bildungspolitik fort.
Dieses Mal fühle ich mich doch sehr verstanden von den CDU- und den SPD-Kollegen, die die Defizite des sächsischen Schulwesens, insbesondere auch der Mittelschule, erkannt und in dieser Debatte benannt haben.
Sie ziehen aber keine Konsequenzen aus dieser Erkenntnis. Das ist das Problem bei der ganzen Geschichte.
Die traurige Konsequenz der hiesigen Schulpolitik ist die Notwendigkeit, Berufsvorbereitungs- und Berufsgrundbildungsjahre einzurichten. Dort finden sich die von Ihnen produzierten Schulversager wieder. Die berufsvorbereitenden Bildungsgänge sind der Beleg dafür, dass die Vermittlung einer Ausbildungsreife den allgemein bildenden Schulen nur bedingt gelingt.
Anstatt an den Mittelschulen individuelle Förderung zu betreiben, schieben Sie immer noch gerne nach unten ab. Sie gehen sogar so weit, Herr Flath, öffentlich die sächsische Schulversagerquote kleinzurechnen, indem Sie sagen: Eigentlich haben wir nicht 10 % ohne Schulabschluss, sondern nur die Hälfte, denn die kommen ja von der Förderschule. – Das finde ich befremdlich, weil hier ein sehr seltsames Menschenbild offenbart wird. Noch scheint der Leidensdruck in Sachsen allerdings nicht hoch genug zu sein. Es gibt in Sachsen keine gezielte Förderung leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler.
Unser Fazit: Eine bessere schulische Ausbildung würde die Aufwendungen für nachschulische Qualifizierungen in den Berufsschulen deutlich senken und die Ausbildungsreife viel früher realisieren.
Gibt es weiteren Redebedarf aus den Fraktionen? – CDU? – SPD? – FDP? – Linksfraktion.PDS? – Frau Werner, bitte.
(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Wir sind diejenigen, die in diesem Zusammenhang etwas zu sagen haben!)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte ein klein bisschen meiner Kollegin Frau Bonk widersprechen. Vielleicht ist es notwendig, dass wir differenzieren zwischen Reife, mit
Schaue ich mir an, was an Kriterien von der Wirtschaft genannt wird – Grundrechenarten zu beherrschen oder bestimmte soziale Kompetenzen zu haben usw. –, dann würde ich schon die Hoffnung hegen, dass die meisten Schülerinnen und Schüler tatsächlich so aus der Schule herauskommen, wobei das natürlich nicht unser einziges Kriterium sein kann.
man muss sich doch fragen: Warum kommen diese Kompetenzen in den Unternehmen nicht an, warum ist also das, was in den Schulen vermittelt wird, in den Unternehmen nicht wiederzufinden, oder warum fragt die Wirtschaft so dezidiert nach?
Ich möchte zwei Thesen in den Raum stellen. Die eine ist, dass vielleicht diese Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler haben, von anderen, einschneidenderen Problemlagen oder Erkenntnissen überlagert werden. Eine zweite These: dass vielleicht diese Kompetenzen in den Unternehmen nicht wirklich eingebracht werden können.
Zu meiner ersten These möchte ich aus einer Schülerbefragung zitieren, die die TU Chemnitz in Südwestsachsen vorgenommen hat:
Da wird gesagt, dass die Zukunft von diesen Schülerinnen und Schülern als sehr unsicher wahrgenommen wird, vor allem mit Blick auf ihre berufliche Zukunft, und dass sie eine große Sorge auch bezüglich der Zukunft unserer Gesellschaft haben. Das muss man sich vorstellen! 56 % bezeichnen die Zukunft der Gesellschaft als düster und 16,8 % als sehr düster. Das heißt, ein Drittel dieser jungen Menschen hat Angst, wenn sie an die eigene Zukunft denken, und besonders, wenn es um berufliche Perspektiven geht.
Bei der Frage nach den Hauptproblemen spricht jeder Dritte von Perspektivlosigkeit, Desinteresse und Motivationsverlust. – Ich will erwähnen, dass das eine offene Abfrage gewesen ist, es wurden ihnen also keine Antworten vorgegeben, sondern das haben diese Jugendlichen von sich aus erwähnt. – Dann muss man sagen: Das kann man nicht auf individuelle Unzulänglichkeiten schieben, sondern wir haben hier eine Generation mit ganz spezifischen Problemlagen und es ist logisch, dass sich dies dann als Angst auswirkt. – Man kann also zu den Jugendlichen nicht sagen: Nun hab mal keine Angst und sei jetzt motiviert! – Da hat die Gesellschaft, glaube ich, eine große Verantwortung und mir scheint diese Forderung nach der so genannten Ausbildungsreife tatsächlich nur ein nachgeordnetes Problem zu sein.