Folgende Abgeordnete haben sich für die heutige Sitzung entschuldigt; die Grippewelle hat auch den Landtag erreicht: Herr Wehner, Herr Grapatin, Herr Heidan, Herr Dr. Metz, Herr Schimpff, Herr Dr. Müller, Herr Prof. Milbradt, Herr Schön, Herr Thomas Schmidt, Herr Hilker, Herr Nolle, Herr Lichdi, Frau de Haas und Herr Morlok.
Meine Damen und Herren! Die Tagesordnung unserer heutigen Sitzung liegt Ihnen vor. Folgende Redezeiten hat das Präsidium festgelegt: für die Tagesordnungspunkte 2 bis 4 und 13 bis 17 CDU 128 Minuten, Linksfraktion 96 Minuten, SPD 56 Minuten, NPD, FDP und GRÜNE je 40 Minuten, fraktionslose Mitglieder des Landtages je 7 Minuten und Staatsregierung 96 Minuten.
Meine Damen und Herren! Mir liegt eine Änderung zu der uns vorliegenden Tagesordnung vor, und zwar zu der Beschlussempfehlung des Geschäftsordnungs- und Immunitätsausschusses in der Drucksache 4/13875, Antrag auf Aufhebung der Immunität eines Mitgliedes des Sächsischen Landtages. Es wurde von einem Mitglied des Landtages Widerspruch eingelegt. Sie wissen, dass dann nach Anlage 5 Ziffer 4 der Geschäftsordnung die Drucksache auf die Tagesordnung der nächsten ordentlichen Sitzung zu setzen ist. Das ist heute der Fall. Ich schlage Ihnen die Behandlung als neuen Tagesordnungspunkt 18 vor. Wenn es dagegen keinen Widerspruch gibt, werden wir so verfahren. – Es gibt keinen Widerspruch.
Meine Damen und Herren! Weitere Meldungen zur Änderung der Tagesordnungspunkt liegen mir nicht vor. Ich frage trotzdem, ob es Ihrerseits Änderungswünsche zur Tagesordnungspunkt gibt. – Das ist ebenfalls nicht der Fall. Dann gilt die Tagesordnung von Ihnen als bestätigt.
Aussprache zum Bericht der Enquete-Kommission Demografische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Menschen im Freistaat Sachsen sowie ihre Folgen für die politischen Handlungsfelder (gemäß § 23 Abs. 2 GO)
Folgende Redezeiten wurden für die Fraktionen vom Präsidium festgelegt: CDU 50 Minuten, Linksfraktion 35 Minuten, SPD 15 Minuten, NPD, FDP und GRÜNE je 13 Minuten, die Staatsregierung 60 Minuten. Die Ausländerbeauftragte ist zu streichen; sie ist erkrankt.
Es beginnt die Fraktion der CDU. Danach folgen Linksfraktion, SPD, NPD, FDP, GRÜNE. Ich erteile das Wort Herrn Eggert von der Fraktion der CDU als Leiter der Enquete-Kommission.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach über drei Jahren hat die erste Enquete-Kommission in der sächsischen Parlamentsgeschichte ihre Arbeit beendet und ist dem Auftrag des Parlaments nachgekommen, zu dem für Sachsen so dringenden Thema „Demografie – demografische Entwicklung“ Handlungsempfehlungen zu erarbeiten.
Ich will am Anfang gleich ganz deutlich sagen: Die Einsetzung der Kommission war überfällig. Vorausschauende Politik sieht eigentlich ein wenig anders aus. Aber umso wichtiger ist der Inhalt dieses Berichtes.
Die Kommission hat ihren Bericht am 30. September 2008 dem Präsidenten übergeben. Er liegt Ihnen allen als Landtagsdrucksache vor, ist 400 Seiten stark. Zum Auftrag der Enquete-Kommission gehörte es, ihre Erkenntnisse in einem Schlussbericht darzustellen, der dazu
In diese Kommission wurden 26 Mitglieder berufen, je zur Hälfte Abgeordnete unseres Parlamentes und externe Sachverständige. Sie hat in 22 nicht öffentlichen Sitzungen und in über 60 Fachvorträgen Sachverstand eingeholt, sich darüber ausgetauscht und zusammengearbeitet. Auf dieser Basis hat die Kommission dann gemeinsam einen Bericht erarbeitet, der für nahezu alle politischen Felder die Ausgangslage analysiert, die Zukunft bis 2020 prognostiziert und entsprechende Handlungsempfehlungen ableitet.
Sehr hilfreich war für die außerordentlich sorgfältige und zuverlässige Arbeit die Arbeit der Mitarbeiterin der Geschäftsstelle der Enquete-Kommission, die ich auf der Zuschauertribüne sitzen sehe und nicht begrüßen darf, aber ich sage Ihnen, es war eine ausgesprochen schöne Zusammenarbeit und wir danken Ihnen dafür.
Zu Beginn unserer Arbeit gab es die Idee, dass sich der Bericht der Enquete-Kommission wie ein Instrumentenkasten verschiedener Handlungsoptionen präsentieren solle, aus denen dann die politisch Verantwortlichen später die stimmigen Instrumente auswählen und umsetzen können. Der Ihnen vorliegende Bericht kommt dieser
Idee in weiten Teilen nach. Sein Umfang und auch seine Heterogenität haben ihre Ursache in der Bandbreite der in die Diskussion eingeflossenen Meinungen.
Meine Damen und Herren! Genau diese Bandbreite der Meinungen und die Lebendigkeit der Diskussion waren ein Erfolgsfaktor dieser Kommission. Die intensiven Auseinandersetzungen haben sich gelohnt, da am Ende für jeden in der Kommission mitwirkenden Politiker und auch für jeden beteiligten Wissenschaftler neue Erkenntnisse standen und in vielen Punkten Kompromisse gefunden wurden, sodass sehr viele Empfehlungen in einem breiten Konsens ausgearbeitet werden konnten. Bei allen Auseinandersetzungen konnten wir in der Kommission überwiegend problemlösungsorientiertes Arbeitsethos beobachten, das in der Politik nicht immer auf der Tagesordnung steht. Dafür möchte ich mich bei allen anwesenden Kommissionsmitgliedern herzlich bedanken.
Ich bedanke mich bei Frau Schneider-Böttcher, Präsidentin des Statistischen Landesamtes, die ständiger Gast der Enquete-Kommission war, deren Sitzungen begleitet und uns mehrfach über die zu erwartende Entwicklung der Bevölkerungsstruktur informiert hat.
Natürlich konnten wir uns nicht in allen Punkten einigen. Sie werden das nachher noch hören. Deshalb finden Sie abweichende Meinungen als Minderheitenvoten in den einzelnen Kapiteln des Berichtes. Dass die Minderheitenvoten jeweils am Ende des inhaltlichen Teilkapitels platziert wurden, hat die Kommission im Konsens vereinbart, um eine größtmögliche Lesbarkeit des Berichtes zu gewährleisten und abweichende Meinungen inhaltlich zuordnen zu können. Es lohnt sich, alles zu lesen; denn Wahrheiten werden nicht durch Mehrheiten erzeugt, auch wenn es hier manchmal so scheint.
Neben den Vorträgen und Abstimmungsrunden war ein weiteres Arbeitsinstrument der Besuch von Regionen, die auf ganz verschiedene Art und Weise mit den Folgen des demografischen Wandels konfrontiert sind. Im Westerzgebirge und in Oberlausitz-Niederschlesien liefen Modellprojekte zum demografischen Wandel des Staatsministeriums des Innern. Die Kommission hat sich vor Ort überzeugen können, mit welchem Engagement und auch mit welcher Kreativität die auftretenden Probleme durch Abwanderung und niedrige Geburtenraten in den betroffenen Regionen angegangen werden.
Weiterhin hat die Kommission Dresden besucht, eine prosperierende Region, in der sich der demografische Wandel vor allem in der Alterung der Menschen zeigen wird, nicht so sehr in der Abwanderung.
Meine Damen und Herren! Die gesammelten Erfahrungen trugen viel zur Erweiterung des Kenntnisstandes der Kommission bei, und ich bedanke mich auch bei den lokalen Akteuren für die Weitergabe ihrer Erfahrungen. Es ist nun einmal so: Erfahrungen kommen vom Erfahren.
Wir müssen einfach mehr im Land unterwegs sein, wenn wir auf die wirklichen Probleme in den unterschiedlichen Regionen stoßen wollen.
Aufgeschlüsselt nach politischen Ressorts steht die Politik in Sachsen vor einer Vielzahl von Herausforderungen, um die Bevölkerungszahl in Sachsen langfristig auf einem niedrigeren Niveau als heute und bei anhaltender Alterung zu stabilisieren.
Erstens. Der demografische Wandel hat sowohl eine private als auch eine gesellschaftliche Dimension. Die privaten Lebensentscheidungen der Bürger dieses Landes und der Familien stehen in einem engen Zusammenhang mit den Lebensbedingungen, die sie vor Ort vorfinden. Ob jemand in diesem Land, in dieser Region leben möchte, ob er aus Mangel an Perspektiven abwandert, ob er sich für ein, zwei oder drei Kinder entscheidet, wirkt letztlich wieder auf unsere Gesellschaft zurück. Wir haben die Folgen von Abwanderung und Geburtenrückgang in den letzten Jahrzehnten deutlich zu spüren bekommen. Wir alle haben gemeinsam die Folgen dieser privaten Entscheidungen zu tragen, denn auf der anderen Seite haben auch gesellschaftliche Normen und Werte Einfluss auf private Lebensentscheidungen. Unser Ziel muss es sein, Sachsen noch familienfreundlicher zu machen, als es ist.
Dazu gehört, für Familien ein Umfeld zu schaffen, in dem Kinder alle Förderung erhalten, die sie brauchen. Dazu gehört eine exzellente Bildung für alle Kinder; darüber herrschte große Einigkeit in der Kommission. Dazu gehören gesundheitliche Förderung, Sorge um die Lebensbedingungen von Familien sowie ein Bewusstseinswandel in der Gesellschaft und eine stärkere Orientierung auf die Bedürfnisse von Familien.
Die Kommission fordert die Landespolitik auf, Maßnahmen für die Flexibilisierung von Bildungsverläufen in die Wege zu leiten, wobei die Arbeitsmarktpolitik genauso wie die Bildungspolitik gefordert ist. Darüber hinaus kann durch die Qualifizierung Erwachsener dem Mangel an qualifizierten Fachkräften, der in manchen Regionen und in manchen Branchen in Sachsen inzwischen Realität geworden ist, besser begegnet werden. Die entsprechenden Instrumente, die vorgeschlagen worden sind, müssen weiterentwickelt werden.
Meine Damen und Herren! Sachsen hat seit 1990 über 250 000 Einwohner verloren, davon viele junge Frauen, die ihre noch nicht geborenen Kinder mitgenommen haben. Wussten Sie eigentlich, dass aufgrund der negativen Wanderungsbilanz seit 1941 über 43 000 Kinder nicht in Sachsen, sondern in anderen Bundesländern geboren worden sind? Sie alle kennen wie ich aus Ihrem persönlichen Umfeld Menschen, die fortgezogen sind und die gern wieder zurückkommen würden, wenn die Bedingun
gen stimmen. Wenn aber die Bedingungen in unserem Land nicht stimmen, werden wir es auch finanziell spüren.
Wir geben Millionen für eine gute Ausbildung unserer Hochschulabsolventen aus. Wenn diese in ein anderes Bundesland gehen, das nicht die Kosten der Wissensvermittlung getragen hat, tragen sie allein durch ihre Einkommensteuer zum Reichtum dieses und zur Armut unseres Landes bei. Allein für 2002 bezifferte sich der Verlust aufgrund der Nettobinnenwanderung auf 522 Millionen Euro. Damit es einmal klar wird: Es gibt auch einen Transfer vom Osten in den Westen. Der Bericht spricht an dieser Stelle eine deutliche Sprache: Sachsen muss attraktiver werden für Menschen, die zurückkommen wollen oder die neu zuziehen wollen.
Neben den Rückkehrern können Studierende hier eine wichtige Zielgruppe sein, genauso wie die Erwerbstätigen. Aber auch über eine verantwortungsvolle koordinierte Zuwanderung werden wir nachdenken müssen. Bevor der Protest von der rechten Seite einsetzt, will ich es gleich sagen: Ihre springerstiefelbeschuhte und bierflaschenbewaffnete „Ausländer raus!“ schreiende Klientel wird unsere Zukunft in Sachsen nicht sichern, noch nicht mal ihre eigene.
Ich komme damit zum zweiten zentralen Punkt. Der demografische Wandel hat eine räumliche Dimension, denn die demografische Entwicklung vollzieht sich in Sachsen regional ausgesprochen differenziert. Aber genauso differenziert wie die Entwicklungen verlaufen, müssen auch die Bewältigungsstrategien sein. Was in der einen Region, in dem einen Dorf richtig sein mag, kann woanders falsch sein. Deshalb brauchen wir Ideen, die lokal, vor Ort entwickelt werden. Zentralistische Lösungen sind hier völlig falsch am Platz. Wir müssen rechtzeitig funktionierende dezentrale und auch in Zukunft bezahlbare Lösungen entwickeln.
Drittens. Der demografische Wandel hat eine geistige Dimension. Wir brauchen nämlich einen Wandel in den Köpfen der Menschen. Der Anstieg der Lebenserwartung der Menschen macht Anpassungsmaßnahmen in den Bereichen der sozialen Sicherungssysteme, der Gesundheitsvorsorge und der Bildung notwendig. Der Bericht der Enquete-Kommission würdigt die Tatsache, dass wir länger in guter Gesundheit leben, als großen Gewinn und als großes Potenzial. Deshalb muss es Aufgabe der Politik sein, Rahmenbedingungen zu gestalten, sodass die ältere Generation sich länger und ihren Möglichkeiten entsprechend aktiver einbringen kann und dieses Potenzial auch genutzt wird. Dafür ist ein Umdenken notwendig, sowohl bei den älter werdenden Menschen als auch bei den Arbeitgebern, die sich nicht länger leichtfertig von älteren Mitarbeitern trennen, sondern lieber in deren Weiterbildung und in deren Gesundheit investieren sollten. Der
momentan grassierende Jugendwahn wird sich als das erweisen, was er ist und immer war: ein unmenschlicher und Ressourcen verschlingender Wahn.
Manche Dinge fallen einem erst im Alter auf. Wir brauchen an dieser Stelle einfach mehr Menschen, die diese Chance nutzen und die auch im höheren Alter noch Neues wagen. Dazu brauchen wir auf der einen Seite den Bewusstseinswandel und auf der anderen Seite die passenden politischen, auch bildungspolitischen Rahmenbedingungen. Als Theologe weiß ich, dass wir durch Sprache Mut machen können oder entmutigen. Wenn wir schon in unserer Kommission Probleme hatten, uns zu verständigen – es ist nämlich gar nicht so einfach, wenn sich Soziologen mit Politikerdeutsch und umgekehrt herumschlagen müssen –, dann merkt man, wie schwierig es sein wird, die aktuelle Entwicklung der gesamten Bevölkerung transparent zu machen. Aber genau da müssen wir hin. Die Herausforderungen des demografischen Wandels müssen so erklärt werden, dass sie wirklich jeder begreift und auch weiß, dass von den notwendigen Veränderungen die eigene Zukunft und die Zukunft seiner Kinder und Enkelkinder abhängt.
Meine Damen und Herren! Man muss kein großer Prophet sein, um zu sagen: Wenn wir uns nicht an die Problemlösung wagen, werden im gleichen Maße die damit verbundenen Probleme wachsen. Das heißt: weniger Menschen, weniger Ressourcen, weniger Geld. Man muss kein Prophet sein, um zu sagen, dass die dadurch entstehenden Probleme eines Tages unbezahlbar werden. Der Bericht der Kommission zeigt, dass wir einen Handlungsspielraum haben. Das ist die gute Nachricht. Sie zu nutzen ist unsere Aufgabe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission ist das Ergebnis langjähriger intensiver Arbeit einer Kommission, deren Arbeitsweise für den Sächsischen Landtag neu ist. Nicht nur Politiker, sondern auch Experten haben in diesem besonderen Ausschuss mitgewirkt. Dafür an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön auch von der Linksfraktion an die Sachverständigen und Experten; ein herzliches Dankeschön für die von Ihnen investierte Zeit, Energie und Ideen und die von Ihnen geleistete Arbeit.