Protocol of the Session on July 11, 2008

„Es geht keinesfalls darum, den Mehrheitswillen der irischen Bevölkerung zu ignorieren, sondern die irrationalen Ängste, die bei diesem Referendum deutlich geworden sind, ernst zu nehmen, zu artikulieren und nochmals mit etwas Abstand bewerten zu lassen.“

Will wohl heißen: Man wolle den Mehrheitswillen der Iren zwar nicht ignorieren – wie könnte man das auch? –, da er aber das Ergebnis irrationaler Ängste sei, dürfe er einfach auch nicht ernst genommen werden. Denn wer unter dem Einfluss pathologischer Zustände sein Votum abgebe, der müsse zuerst geheilt und dann natürlich wieder zu den Wahlurnen geschickt werden. Selbstverständlich, um dann richtig abzustimmen, wie es sich die Herrschenden vorstellen, versteht sich.

Dass man bei einem solchen Verfahren und bei einer derartigen politischen Mentalität von Demokratie wahrlich nicht reden kann, dürfte jedem wirklichen Demokraten sofort einleuchten. Wie sieht es bei Ihnen aus, meine Damen und Herren, die Sie doch stets salbungsvoll von Demokratie reden? Sollten Sie entgegen Ihren Gepflogenheiten politisch-inhaltlich darauf antworten wollen, so bin ich schon sehr gespannt darauf.

Vielen Dank.

(Beifall bei der NPD und den fraktionslosen Abgeordneten)

Ich erteile das Wort der Fraktion der CDU; Herr Schowtka, bitte.

(Holger Apfel, NPD: Aber den Schulterschluss zum Dritten Reich nicht vergessen!)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war fraglos ein schwarzer Tag in der Geschichte des europäischen Integrationsprozesses, als am 13. Juni bekannt wurde, dass genau 862 415 Bürger Irlands – das entspricht 54 % derer, die zur Wahlurne gingen – in einem Referendum den in Lissabon vereinbarten EU-Verfassungsvertrag abgelehnt haben. Diesen Tag als einen Glückstag für die Völker Europas zu bezeichnen, wie es im Antrag der NPD zu dieser Aktuellen Debatte heißt, entspricht einem verquasten Denken, das als Glückstag

wohl den 30. Januar 1933, den Tag der Machtergreifung Ihres unseligen Ahnherrn,

(Lachen bei der NPD)

oder auch den 1. September 1939 apostrophiert, als dieser Wahnsinnige den schlimmsten aller Kriege vom Zaume brach.

(Zuruf des Abg. Alexander Delle, NPD)

Meine Damen und Herren! Dass die Vereinigung Europas kein Schönwettersegeln sein wird, haben schon die Gründungsväter Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Robert Schuman und Jean Monnet erkannt. Dennoch hat uns der von ihnen auf den Weg gebrachte europäische Einigungsprozess die längste Friedensperiode in der Geschichte Mitteleuropas beschert:

(Beifall bei der CDU, der Linksfraktion und der SPD)

63 Jahre. Darüber können wir froh und glücklich sein.

(Klaus-Jürgen Menzel, fraktionslos: Waffenstillstand, ja!)

Um den Herausforderungen der Globalisierung gerecht zu werden und im internationalen Wettbewerb von Waren und Dienstleistungen einen vorderen Platz zu belegen, gibt es keine ernst zu nehmende Alternative zur Europäischen Union. Darüber hinaus verfügt der Kontinent über eine Fülle von historisch gewachsenen Werten und Errungenschaften, deren Bewahrung und Weiterentwicklung nur gemeinsam erreicht werden kann.

Diese Chancen und Erfordernisse müssen den über 500 Millionen Menschen von Portugal bis Zypern, von Finnland bis Malta noch besser und überzeugender erklärt werden. Das erfordert aber auch eine Abkehr von der Selbstherrlichkeit und institutionellen Selbstbezogenheit der Akteure in Brüssel und Straßburg. Das gilt für Abgeordnete und Beamte gleichermaßen. Eine Sisyphusarbeit, die die Pro-Europäer auf allen Ebenen in einer historisch kurzen Zeit leisten müssen, zumal die Demagogen der extremen Rechten und Linken nicht müde werden, das vereinigte Europa schlechtzureden und damit nicht völlig erfolglos sind.

Meine Damen und Herren, an dieser Stelle möchte ich ausgerechnet aus einer Rede des vielfach verleumdeten US-Präsidenten Ronald Reagan am 18. Mai 1985 vor dem Europäischen Parlament in Straßburg zitieren. Da Reagan auch den Fall der Mauer und den Untergang des Kommunismus voraussagte, halte ich diese seine Worte ebenfalls für prophetisch, indem er erklärte:

„Vor uns liegt viel Arbeit, eine Arbeit, die dem Bau einer großen Kathedrale gleicht. Diese Arbeit wird langsam vorangehen, kompliziert und mühsam sein. Das Ergebnis wird nur langsam erkennbar, aber unsere Kinder und Kindeskinder werden die Konturen der Bögen und Türme zeichnen und etwas von dem Glauben und der Hingabe und der Liebe verspüren, mit der sie entworfen wurden. Meine Freunde, diese Kathedrale ist Europa.“

Keine Frage, das Votum der Iren ist ein Rückschlag für Europa.

(Zuruf des Abg. Jürgen Gansel, NPD)

Aber 0,02 % der EU-Bevölkerung können nicht über das Schicksal einer halben Milliarde Menschen bestimmen,

(Holger Apfel, NPD: Die anderen dürfen ja gar nicht abstimmen! – Weitere Zurufe von der NPD)

zumal eine jüngste Umfrage erbracht hat, dass 80 % der Neinsager des Referendums für die Mitgliedschaft Irlands in der EU sind. Bei den Befürwortern sind es sogar 98 %.

(Zuruf des Abg. Jürgen Gansel, NPD)

Den Iren ist wohl danach erst wieder bewusst geworden, dass sie sich auch dank 40 Milliarden Euro Nettozahlungen seitens der EU vom Armenhaus zum europäischen Tigerstaat entwickeln konnten.

Ich meine, dass diese widersprüchlichen Voten auch die Sinnhaftigkeit eines Referendums über einen komplexen Vertrag von 600 Seiten infrage stellen, denn Intention des Lissabon-Vertrages sind ja gerade die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments und mehr Demokratie und Transparenz in den Institutionen der EU.

(Jürgen Gansel, NPD: Und Sozialabbau!)

Trotz der primitiven Schadenfreude aufseiten der NPDFraktion wird Europa weiter zusammenwachsen und weiter um seine konstitutionellen Grundlagen ringen, was bei 27 Mitgliedsstaaten mit ihren Partikularinteressen nicht leicht sein wird.

Dennoch, meine Damen und Herren, das Zusammenleben im Europa des 21. Jahrhunderts wird sich weiter auf der Grundlage von Freiheit, Demokratie und Toleranz und nicht nach dem Muster eines international isolierten Führerstaates von vorgestern entwickeln, wie es der NPD vorschwebt. Denn seien Sie doch ehrlich, meine Herren von ganz rechts: Ein in Frieden und Freiheit vereintes Europa geht Ihnen doch völlig gegen den Strich.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Ich erteile das Wort der Linksfraktion. Wird das gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Dann frage ich die SPD, den Koalitionsvertreter. – FDP? – Herr Dr. Martens.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass die NPD-Fraktion das Nein bei der irischen Volksabstimmung über den Reformvertrag von Lissabon in diesem Hause nicht nutzen würde, um ihre Europaphobie zu pflegen, war nicht wirklich zu erwarten. Also haben wir diese Debatte, kurz bevor wir uns in die Sommerpause verabschieden, um noch einmal einiges richtigzustellen, auch wenn die NPD-Fraktion das nicht hören möchte, wie die Reaktionen gerade eben wieder gezeigt haben, und Herr Menzel von hinten

souffliert, man befinde sich seit Mai 1945 lediglich im Waffenstillstand.

(Beifall des Abg. Peter Klose, NPD)

Ja! Das zeigt die geistigen Horizonte, zwischen denen Sie und Ihre Kameraden sich bewegen. Dass wir zum Beispiel 1990 den Zwei-plus-Vier-Vertrag, den Friedensvertrag haben,

(Jürgen Gansel, NPD: Zwei plus Vier, was ist denn das?)

mit dem der Waffenstillstand hinfällig wurde, haben Sie noch gar nicht richtig mitgeschnitten. Aber das tut uns auch nicht weiter weh. Wir wissen ja: Leise rieselt der Kalk.

Meine Damen und Herren! Sie behaupten, es sei ein Glückstag für Europa – nein, das ist es nicht –, aber der von Ihnen bejubelte Untergang der europäischen Idee ist es mit Sicherheit auch nicht.

(Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Die Iren haben abgestimmt und haben mehrheitlich gesagt: Nein, diesen Vertrag wollen wir so nicht haben. Aus welchen Gründen, ob sie ihn nicht wollten oder ob sie ihn nicht verstanden haben, das bleibt dahingestellt. Das ist das Ergebnis und wir werden damit leben. Das Schöne ist, dass 27 Länder damit leben können und trotzdem nicht gleich mit Waffen übereinander herfallen werden.

(Jürgen Gansel, NPD: Sie ignorieren das Votum!)

Das ist eine ungeheure zivilisatorische Errungenschaft, von der Sie nichts verstehen.

(Beifall bei der FDP, den GRÜNEN und vereinzelt bei der CDU)

Nein, meine Damen und Herren, an diesem Vertrag und an der Einigung Europas wird weiter gearbeitet, und – davon bin ich fest überzeugt – mit Erfolg. Dieser Vertrag ist gut, anders als Sie es in Ihren Publikationen behaupten. Neulich gab es ein buntes Blättchen in den Briefkästen. Da wurde von einem „Dolchstoß“ gegen die Souveränität Deutschlands gesprochen. Auch das ist von der Sprachwahl her bezeichnend. Eine Dolchstoßlegende nach der anderen, das ist das Politikniveau, auf dem sich die NPD bewegt.

Jedenfalls ist es ein solcher Dolchstoß mit Sicherheit nicht, denn dieser Vertrag erweitert – das ist gesagt worden – die Befugnisse des Europäischen Parlaments. Er ist gerade ein Schritt zu mehr Demokratie in Europa, weg von einem nur von den Regierungen und dem Rat der Europäischen Union bestimmten europäischen Politikansatz, beispielsweise durch die Schaffung der europäischen Bürgerinitiative in Artikel 11 Abs. 4 des Europäischen Unionsvertrages. Die Mitentscheidungsverfahren des Parlaments sind um ein Mehrfaches ausgeweitet worden. Die Ausweitung der Rechte des Parlaments, selbst zur Änderung des Vertrages, sind vorgesehen worden.

Es ist eine Grundrechtscharta eingefügt worden – auch das ist etwas, was Sie wahrscheinlich schwer ertragen können –, in der ausdrücklich Rechte wie die Menschenwürde, rechtliche Grundfreiheiten oder der allgemeine Gleichheitsgrundsatz jetzt auch im Primärrecht der Europäischen Gemeinschaft als bindende Verpflichtung für alle Mitgliedsstaaten verankert werden. Dass Sie, die sich sowieso von diesen Grundfreiheiten verabschieden wollen, das nicht mögen, kann ich nachvollziehen, aber circa 480 Millionen Europäer sind darüber eigentlich froh.

(Beifall bei der FDP und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall bei der Linksfraktion)

Meine Damen und Herren, der zu bildende Ausschuss der Regionen gibt endlich die Möglichkeit, dass auch regionale Bezüge stärker als bisher in der europäischen Politik Verankerung finden. Über den Rechtsausschuss ist ein Beschluss der Parlamentspräsidenten der Regionalparlamente verteilt worden. Es ist schon sehr beachtlich, wie viele Regionalparlamente von den Azoren über die Balearen, die österreichischen Bundesparlamente, die deutschen Bundesparlamente bis zu Parlamenten in Osteuropa diese Charta begrüßt haben.